Impuls bei der 9. DGSv-Tagung der Weiterbildungsanbietenden am 28. Juni 2022 in Frankfurt/M.
Begrüßung
Liebe Kolleg*innen in der Weiterbildung,
ich entspreche an dieser Stelle der Bitte von Annette Mulkau, einen Impuls am Anfang eurer und Ihrer Tagung zum Stichwort Habitat zu geben, und danke für die Einladung dazu.
Ich mache das in meiner Rolle als Gutachter im Zertifizierungsverfahren und auf dem Hintergrund meiner Beschäftigung mit dem Thema der Habitualisierung in der Qualifizierung zum/r Supervisor*in und Coach, die sich wesentlich durch die fachliche Kooperation mit Dir, Bernadette in gemeinsamen Zertifizierungen und infolgedessen im Diskurs mit den Kolleg*innen in der Gruppe der Gutachter*innen entwickelt hat.
Vorbemerkung
In meiner Gutachterrolle seit 2014 habe ich vielfältige Weiterbildungskonzepte kennengelernt, deren Habitat konzeptentsprechend unterschiedlich gestaltet war. Diese Gelegenheit, den Gesprächspartner*innen in den Fachgesprächen für die anregenden und meine Sichtweise erweiternden Diskurse zu danken, nehme ich gerne wahr.
Am Anfang haben wir als Gutachter*innen nicht vom Habitat gesprochen, sondern wir haben gefragt: Wie ist die Weiterbildung organisiert? Da stand der Begriff „Organisation der Weiterbildung“ für die Gestaltung des Rahmens.
Die Begriffe „Habitat und Organisation“ erzeugen unterschiedliche Assoziationen: Organisation hört sich nach Struktur an, nach Ordnung, wirkt formal, während Habitat sich nach Lebensraum anhört und weit, aber auch diffus wirkt. Und auch die neuen Standards formulieren noch nicht klar, welche Bedeutung das Habitat als Voraussetzung für eine gelingende Habitualisierung hat.
Dennoch ist klar, dass Habitat nicht nur ein anderer Begriff für die Form von Weiterbildungskonzepten ist, es wird damit auch ein umfassenderer Zugang zu der anfangs gestellten Frage signalisiert.
Supervisorischer Habitus
Den entscheidenden Anstoß, sich mit Habitualisierung zu beschäftigen, gab die Veröffentlichung von In puncto Standards No.1 „Professionalisierter supervisorischer Habitus“ von Bernadette Grawe und Miquel Aguado (2021), die im Zusammenhang mit der Neufassung der Standards und der Vorarbeit der Entwicklungskommission “Exzellente Beratung basiert auf exzellenter Qualifizierung“ von 2017 stand. Hier ist erstmals vom Habitus mit Bezug auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu die Rede.
Bourdieu spricht vom Feld in Anlehnung an Max Weber. Der Feldbegriff bezeichnet ausdifferenzierte gesellschaftliche Bereiche, die aus Arbeitsteilung hervorgegangen sind. Innerhalb von sozialen Feldern geht man davon aus, dass die Akteure um soziale Positionen konkurrieren. Das führt dazu, dass sich soziale Strukturen etablieren. Sie haben eigene Spielregeln für das soziale Verhalten innerhalb dieses Feldes. „Jedes Feld … bietet seinen Akteuren über die besondere Form, in der es die Verhaltensweisen und Vorstellungen regelt, eine auf eine besondere Form von illusio gegründete legitime Form, ihre Wünsche zu verwirklichen.“ (Bourdieu (1999): Die Regeln der Kunst.)
Hier haben wir beides „soziales Feld“ und „soziales Verhalten“ oder Habitat und Habitus. Illusio, abgeleitet vom lateinischen Wort ludus (Spiel), meint den Glauben an den Sinn und an die Sinnhaftigkeit eines Spiels, verstanden als die Ausrichtung an den impliziten und expliziten Regeln eines sozialen Feldes.
Bedeutung des Habitats – Was ist ein Habitat? Was leistet ein Habitat?
Ich will versuchen, ein paar Akzente zur Bedeutung des theoretischen Konzepts vom Habitat für die Organisation von Weiterbildungen zu setzen – weniger theoretisch, sondern so, dass anschaulich wird, um was es sich beim Habitat handelt.
Zur Illustration berichte ich von einer Begebenheit aus der Arbeit von Michael Holzhauser, dem leider vor zwei Jahren verstorbenen Kollegen an meinem früheren Wohn- und Arbeitsort Pfinztal bei Karlsruhe, die er mir bei einem unserer Treffen erzählt hat.
Als die Deutsche Bahn und die SNCF Anfang der 2000er Jahre vereinbarten, ab 2007 in Kooperation eine Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Frankfurt und Paris zu betreiben, hat die Beratungsfirma Holzhauser & Partner, die bereits für französische Firmen tätig war, den Auftrag bekommen, im Rahmen der Vorbereitungsprogramme für die beteiligten Mitarbeiter*innen Austauschgruppen zum interkulturellen Verstehen zu begleiten. Das Bahnmanagement hatte entschieden, dass in den Zügen gemischte Besatzungen aus deutschen und französischen Mitarbeiter*innen zum Einsatz kommen sollten. Sie sollten sich neben dem Erwerb der sprachlichen und der technischen Fähigkeiten auch damit beschäftigen, wie die Kolleg*innen der jeweils anderen Nation beruflich „ticken“. Die begleitenden Berater*innen sind dabei schnell auf diverse Hindernisse gestoßen, die in den Gesprächsgruppen bearbeitet wurden.
So sei z. B. die im Anforderungsprofil vorgesehene Aufgabe, Kaffee und andere Getränke am Platz zu servieren, bei den französischen Zugbegleiter*innen auf heftigen Widerstand gestoßen und habe große Empörung ausgelöst. Eine Zumutung, sie seien schließlich keine Kellner. Was für die deutschen Kolleg*innen selbstverständlich war, war für die französischen unvorstellbar: Service am Platz – ein habituelles No-Go.
In der Reaktion der Zugbegleiter begegnet uns deren professioneller Habitus. Zu dem ihrigen sind sie in Ausbildung und Berufsausübung sozialisiert oder geformt worden, gemäß dem französischen Wort „formation“ für Ausbildung. Service kommt jedoch in dieser Berufswelt nicht vor. Davon haben sie keine Vorstellung. Also weigern sie sich zuerst, etwas zu tun, was diesen Rahmen sprengt. Sie mussten vermittels der reflexiven Auseinandersetzung lernen, dass diese Tätigkeit ihre Ehre nicht kränkt und ihren beruflichen Status nicht herabsetzt.
Der Habitus, der sich so spontan zeigt, verweist auf das Habitat, in dem die beruflichen Handlungen und Haltungen entstehen und verinnerlicht werden. Das Habitat der beruflichen Sozialisation ist eingebettet in eine individuelle Geschichte von Bedeutung (Dass z. B. der Vater und der Großvater auch schon Eisenbahner waren.), in die Geschäftsinteressen des Unternehmens und in die berufsständischen Interessen von (in Frankreich mächtigen) Gewerkschaften wie auch in die gesellschaftlichen Erwartungen, die die Politik und die Kunden hegen.
Der Habitus ist objektiv gerahmt von vielfältigen Erwartungen, Zuschreibungen und Strukturierungen und er wird subjektiv erfahren, verkörpert und gelebt. Wie, das kann man sehr eindrücklich nachvollziehen in Bourdieus umfangreicher Studie von 1993 über die Banlieues, die Vororte von Paris: La misère du monde – Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft.
Das Habitat ist der Ort, der gewährleistet, dass ein routinisiertes berufliches Rollenhandeln erlernt und praktiziert werden kann. Bohnsack spricht von der konstituierenden Rahmung (Professionalisierung in praxeologischer Perspektive, 2020). Das Habitat bedingt also die Habitualisierung. Das Habitat ist nicht nur ein Rahmen, eine Form, sondern ein interaktiver Raum, in dem Regeln sowohl übernommen wie auch ausgehandelt werden.
Aspekte des Habitats in der Weiterbildung – Was macht ein Habitat aus?
Für Professionslernen braucht es ein Habitat, das die Auseinandersetzung mit den prägenden Faktoren der jeweiligen individuellen und beruflichen Sozialisation ermöglicht.
Es geht in der Weiterbildung zum/r Supervisor*in und Coach immer um Rollenlernen. Das erfordert eine Bewusstmachung der unvermeidlichen Balance auf der Grenze zwischen Person und Rolle.
Es geht um Krisenlernen. Habitualisierung braucht Verunsicherung und dafür braucht es ein sicheres, krisenfestes Habitat. Taugt das Habitat der Weiterbildung für Krisenlernen? Ist es krisenfest?
Das beraterische Dreieck Person – Rolle – Organisation und der supervisorische Raum, der das Klientensystem einbezieht (Person – Rolle – Organisation – Klienten/Kunden) muss übertragen werden auf den Rahmen der Weiterbildung. Alle Bezugspunkte müssen in der Gestaltung der Weiterbildung repräsentiert sein; nicht nur als zu vermittelnde Inhalte, sondern auch als Erfahrungsraum, der selbst nochmal reflektiert wird.
Das Habitat als Lernraum braucht eine Sensibilisierung für die Bedeutung des eigenen Raums, des Rahmens, des Lernorts, in dem sich die Weiterbildung ereignet.
Das Weiterbildungshabitat erfordert eine symmetrische Kommunikation – d. h. die Besprechbarkeit der Themen ist zu organisieren – bei gleichzeitiger, da sie rollenbasiert ist, nicht aufhebbarer Asymmetrie in den Interaktionen zwischen Lernenden und Lehrenden.
Das Habitat der Weiterbildung muss einen Raum für die Beobachtung bieten. Rollenlernen ist Imitationslernen und braucht Vorbilder. Zugleich brauchen die Lehrenden eine Anschauung von der Entwicklung der Fähigkeiten der Ausbildungskandidat*innen. Das erfordert ausreichend gemeinsam verbrachte Zeit im geteilten Raum.
Insgesamt geht es um die Stimmigkeit, d. h. Widerspruchsfreiheit von Weiterbildungskonzept und Weiterbildungshabitat, die sich aus den Einzelelementen ergibt.
Weiterbildungen müssen sich vor diesem Hintergrund nicht nur Gedanken über die Programmatik machen, mit der sie ihre Kandidatinnen in Richtung Supervision und Coaching weiterbilden, sie müssen auch ihre organisationalen Entscheidungen die Weiterbildung betreffend weitestgehend unter der Beteiligung ihrer Teilnehmer*innen und professionalisiert, d. h. routinisiert und habitualisiert treffen und einen entsprechenden organisationalen Rahmen dafür zur Verfügung stellen, der selbst professionelles Handeln verdeutlicht. Dieser Rahmen sollte so weit wie möglich konsistent, d. h. in sich widerspruchsfrei sichtbar werden.
Zum Sinn der Beschäftigung mit Habitat und Habitualisierung
Der ist m.E. existentiell und findet sich in einem Zitat von Theodor W. Adorno:
„Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.“
Was dieser Schlüsselsatz aus dem Vorwort der Negativen Dialektik (1975) bedeutet, lässt sich in Bourdieus Soziologie (Elend der Welt) finden und in der Kränkung der französischen Zugbegleiter*innen. Er gibt auch einen Hinweis auf die Bedeutung des Habitats von Weiterbildungen, weil Habitualisierung als ganzheitlicher Prozess ein Lernen ermöglichen muss, in dem die immer konflikt- und krisenhafte Auseinandersetzung mit dem eigenen (persönlichen und beruflichen) Gewordensein und den aktuellen Erfahrungen im sozialen Lernraum von Peers und Lehrenden stattfinden kann. Weiterbildungshabitate konstituieren Räume von Interaktion und Reflexion in der sozialen Gruppe, von Erproben und Einüben, von Versuch und Irrtum. Entwicklung ohne Wachstumsschmerzen gibt es nicht.
Ich bedanke mich für Ihre und eure Aufmerksamkeit.
Wolfgang Dinger
Wolfgang Dinger (*1948), Dipl.-Theologe, Supervisor und Coach (DGSv), Gruppenanalytiker (Institut für Gruppenanalyse Heidelberg), Lehrsupervisor und Gutachter im Zertifizierungsverfahren der DGSv.