Vortrag gehalten auf den Kompasstagen der DGSv am 13. Mai 2022 in Berlin
1. Was ist ein Habitus? Die soziale Welt führt ein Doppelleben
Bourdieu ist der Meinung, dass wir uns, um die soziale Welt adäquat betrachten zu können, sozusagen „Bifokalbrillen“ anschaffen sollten (Bourdieu und Wacquant 1996). Also Brillen, die einmal einen Fokus in die Ferne, aber gleichzeitig einen in die Nähe haben können. Dazwischen besteht ein klarer Bruch.
Denn die Strukturen des sozialen Lebens führten ein Doppelleben – sie existierten einmal „außen“, in dem, was wir unsere äußere soziale Welt nennen, in den Organisationen, Institutionen, gesellschaftlichen Gütern und Kapitalsorten und zum anderen „innen“, in unseren Mentalitäten, Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühlen.
Das Zusammenspiel zwischen einer „inneren Welt und der äußeren Realität“ (so z. B. Kernberg 1988) interessierte natürlich auch schon lange die Psychoanalytiker und sie haben für die Vermittlung zwischen beiden Welten seit Sigmund Freud ganz unterschiedliche Denkmodelle wie z. B. das von Übertragung und Gegenübertragung (Racker 2002) oder das von Winnicott beschriebene Modell des Übergangsraums (Kögler und Busch 2014) entwickelt. Bourdieus Ansatz ist demgegenüber eher als eine soziologische Theorie zu verstehen, mit der er weniger die psychischen Prozesse als eher die sozialen und gesellschaftlichen in den Blick nimmt.
Die inneren Wirklichkeiten kann man auch als Dispositionen bezeichnen, mit denen wir uns außen zurecht finden – Bourdieu nennt sie „Habitus“. Es sind die uns nicht immer bewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die uns zu einem persönlichen Verhalten veranlassen, das dem jeweiligen äußeren Feld – oder sagen wir dem Kontext – angemessen ist und komplex mit ihm zusammenspielt.
Ein Habitus ist nicht angeboren, er wird sozialisiert und entsteht durch Internalisierung im Laufe unserer Lebensgeschichte in einer Familie, in einem Milieu, einem sozialen Feld.
Bourdieu hat seine Theorie ausführlich an Verhaltensweisen der gesellschaftlichen Oberschicht Frankreichs verdeutlicht – sein Buch heißt ganz treffend „Die feinen Unterschiede“, weil er sehr deutlich zeigt, wie wir am Habitus eines Menschen, an seinem Verhalten, seiner Kleidung, seiner Bildung, seinen Essensgewohnheiten auch seine soziale Herkunft erkennen können.
Denn unsere Verhaltensweisen und Gesten entspringen nicht allein privaten oder familiären Motiven: der jeweilige Habitus trägt in sich ein tiefes Wissen um geschichtliche und gesellschaftliche Vorgänge und Verhältnisse. Diese sind nicht selten noch in ritualisierten „Resten“ im Verhalten erkennbar.
Wer heute z. B. den Hut zum Gruß zieht, wird vielleicht nicht mehr wissen, dass im Mittelalter Bewaffnete ihren Helm abnahmen, um ihre friedliche Absicht auszudrücken (Bourdieu 1997, S. 28). Vielleicht erleben wir das nicht mehr, denn: wer trägt heute noch einen Hut.
Aber eines ist uns allen in den letzten Monaten bewusst geworden: wir reagieren mit unserem Handeln immer auf Situationen und spezifische Handlungsaufforderungen. So können Sie sich sicher erinnern, dass Sie zu Beginn der Pandemie, wenn Sie jemand begrüßen wollten, vielleicht spontan die Hand ausgestreckt und dann erschreckt wieder zurückgezogen haben – das Ritual war plötzlich infrage gestellt.
Diese spontanen Reaktionen sind uns nicht immer bewusst, unser Alltag ist von vielen Gewohnheiten durchzogen, Routinen, die wir in einer ganz bestimmten Szene immer nutzen.
Um nicht jedes Mal nachdenken zu müssen, führt ein Habitus also zu einer angemessenen Handlung in einer bestimmten Situation, in einem bestimmten Kontext oder Feld.
Das Feld der Supervisor*innen und Coaches, das Habitat sozusagen, ist zunächst einmal der gesamte gesellschaftliche Bereich, der hier bedeutsam ist: die Auftraggeber für SV und Coaching, die Fach- und Berufsverbände, die Weiterbildungsträger. Aber nicht nur diese, sondern auch der ganz persönliche Markt, das eigene berufliche Feld, das sich jeder aufbaut und in dem er sich bewegt, sei es die Sozialwirtschaft oder andere Arbeitsfelder.
In diesem gesellschaftlichen Feld entwickeln Supervisorinnen einen Sinn dafür, wie hier angemessen gehandelt wird. Bourdieu nennt dieses an ein bestimmtes Feld angepasste Verhalten den „Spielsinn“ und meint damit „ein Gespür … für die im Spiel abzusehende Entwicklung, für das, was zu tun ist“ (Bourdieu 2017, S. 271).
Nach und nach wird dieser Spielsinn, den wir für genau diesen Kontext entwickeln, durch weitere Erfahrungen in einem feldspezifischen Teilhabitus verankert.
„Dieser Teilhabitus (der sich z. B. auf die eigene Geschäftstätigkeit, die Akquisition oder politische Vertretung bezieht) ist möglicherweise bereits Teil des früheren und berufsbiographisch angeeigneten Gesamthabitus einer Supervisorin.“ (Grawe und Aguado 2021, S. 9)
Wichtig ist hier also festzuhalten: die soziale Welt führt ein Doppelleben, sie besteht einmal in uns als Dispositionen, als typische Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata und aus dem Feld, in dem diese Schemata ein angemessenes Handeln hervorbringen können.
Der Habitus-Begriff wurde übrigens im Kontext der Supervision schon länger aufgegriffen. Hier ist besonders Katharina Gröning (2018) zu nennen, die sich in ihrem Supervisionsverständnis stark mit der Entwicklung von „Habitus-Sensibilität“ beschäftigt hat.
Dabei geht es ihr darum, dass in einer Supervision mit Supervisand*innen, deren Habitus „häufig der blinde Fleck im Feld sind und (ihr) Habitus, und nicht die Feinheiten in der Methode, die Horizonte veränderten. Bourdieu fordert deshalb eine habituelle Reflexivität, einen reflexiven Bruch mit sich selbst“ (Gröning 2018, S. 31).
Habitus-Sensibilität in diesem Sinn bedeutet, sich seiner eigenen sozialen und kulturellen Herkunft („Schicht“) und habituellen Prägung bewusst zu sein, wenn man supervidiert und diese Wirklichkeit anderer kultureller Prägungen in unsere Verstehenszugänge mit aufzunehmen.
Unbestreitbar gehört Habitussensibilität in diesem Sinne auch zum professionellen Habitus. Unsere Rezeption des Begriffs legt hier einen etwas anderen Schwerpunkt – wir betrachten den beruflichen Habitus in einem weiteren Sinne: als ein tief internalisiertes professionelles Kompetenzprofil.
2. Ein beruflicher Habitus und seine Entstehung
Bourdieu stellt uns einen Kellner vor. Anders als Jean Paul Sartre meint Bourdieu, dieser Kellner spiele den Kellner nicht (im Sinne einer Rollenübernahme), wenn er seine Berufskleidung anlegt, er sagt vielmehr:
„Sein Körper, dem eine Geschichte innewohnt, schmiegt sich seiner Funktion an, das heißt einer Geschichte, einer Tradition, die ihm stets in (anderen, BG) Körpern vor Augen trat, oder, besser: in diesen von einem bestimmten Habitus bewohnten Habiten, die man Kellner nennt.“ (Bourdieu 2017, 197f)
Er hat, bevor er Kellner wurde, eine Sozialisation hinter sich gebracht – er war Sohn in einer Familie, in einem bestimmten Milieu, in einem Stadtviertel, er hat Freunde, die ihn geprägt haben. Durch diese biographischen Erfahrungen hat er einen Gesamthabitus entwickelt.
Sein beruflicher Habitus ist dementsprechend nur ein Teil seines Gesamthabitus … und mit diesem Teil reagiert er auf ganz spezifische und angemessene Weise auf die Handlungsanforderungen, denen sich ein Kellner üblicherweise gegenübersieht.
Das würde man auch bei jedem anderen Handwerker sagen: ein Elektriker soll vielleicht einen Schaden an einer Leitung beheben, der Heizungsbauer soll mir eine neue Heizung einbauen. Beide wissen, welche Werkzeuge sie brauchen und sie wissen auch genau, wie sie mit diesen Werkzeugen umzugehen haben.
Sie haben Techniken gelernt, mit denen sie die Probleme untersuchen, bewerten und beheben können. Und sie haben auch die entsprechenden Gerätschaften.
Wenn ein Handwerker einen Hammer sieht, weiß sein Körper schon, was damit zu tun ist. Die Erfahrung hat sich ihm eingeschrieben – wir sprechen auch – in einer anderen Theorietradition von einem impliziten Gedächtnis, in dem unsere Erfahrung abgespeichert ist, und ich zitiere hier gerne den Phänomenologen Thomas Fuchs:
„Aus der Wiederholung und Überlagerung von Erlebnissen hat sich eine Gewohnheitsstruktur gebildet: Eingespielte Bewegungsabläufe, wiederkehrende Wahrnehmungsgestalten, Handlungs- und Interaktionsformen sind zu einem impliziten leiblichen Kennen oder Können geworden.
Das Leibgedächtnis vergegenwärtigt die Vergangenheit nicht, sondern enthält sie als gegenwärtig wirksame in sich. Dieser Ansatz konvergiert mit Ergebnissen der neueren Gedächtnisforschung zur zentralen Bedeutung des impliziten Gedächtnisses, das unseren gewohnten Verhaltens- und Handlungsweisen ebenso zugrunde liegt wie unseren unbewussten Vermeidungen von Handlungen (Schacter 1999; Fuchs 2000).“ (Fuchs 2020, S. 6)
Thomas Fuchs hat sich in einem wunderbaren Vortrag, den man bei youtube zur Illustration sehen und hören kann, auf ein Beispiel von Michael Serres bezogen, in dem dieser auf die Bedeutung der 5 Sinne für dieses komplexe leibliche Können, diese Kompetenz, die durch Erfahrung entsteht, eingeht.
„So fährt man nach Saint Pierre: Fahre so lange in Richtung untergehender Sonne, wie Du im Wasser eine bestimmte kleine Alge treiben siehst; wenn dann das Meer sehr sehr blau wird, halte Dich links, da kannst Du gar nicht irre gehen; das ist die Gegend, wo die kleinen Tümmler sich mit Vorliebe aufhalten, wo es eine starke Nordströmung gibt wo der vorherrschende Wind nur schwach, in leichten Böen bläst und die Dünung stets kurz ist, dann kommt das große graue Rechteck und dann die Gegend, in der man den Kurs der großen Eisberge kreuzt; wenn man sie sieht, liegt da die erste Bank, unter dem Wind.“ (Serres 2012)
Hier kann man sehr gut erkennen, wie die Wahrnehmung von ganz konkreten sinnlichen Vorgängen komplex mit einem komplexen Wissen zusammenwirkt. Und dieses Zusammenwirken, d. h., dass wir einen spezifischen Kontext wahrnehmen, ihn mit Interesse deuten und dann spontan die richtigen Entscheidungen treffen – das ist im Leibgedächtnis abgespeichert. Dieser Kapitän macht deutlich, dass er die See lesen kann. (Und man kann sicher sein, wer ihm folgen will, wird tausend Unsicherheiten erleben – was hatte er nochmal gesagt? Wo soll ich jetzt weiterfahren? So wird es vielleicht manchen Lehrsupervisand*innen gehen, wenn sie das erste Mal selbst eine Supervision leiten).
Bourdieu würde das unterstreichen. Er sprach von „Inkorporieren“ und meinte, die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata reagieren spontan mit unserer sinnlichen Wahrnehmung in der konkreten Situation auf eine Handlungsanforderung. Das ist nicht nur für einen Kellner von Bedeutung.
Auch wir als Supervisor*innen z. B. haben diese für unsere spezifische Praxis notwendigen Denk- Wahrnehmungs- und Handlungsschemata durch vielfache Übung in unseren beruflichen Weiterbildungen und in der eigenen Praxis gelernt, d. h. inkorporiert.
Die supervisorische Praxis in einem engeren Sinne – wenn es nicht um berufspolitische Vertretung oder eigene Akquisition geht – ist nun durch eine ganz eigene Handlungslogik geprägt. Dieses Handeln ist anspruchsvoll und erfordert spezifische Handlungsroutinen.
„Solche Handlungsroutinen sichert nur ein Habitus ab, der ebenfalls als Teilhabitus einer Person aufgebaut wird und in der supervisorischen Praxis wie ein Schlüssel zum Feld fungiert. Weiterbildungen zur Supervisor/in streben an, einen Bildungs- und Transformationsprozess zu ermöglichen, in dem die hier erforderlichen Kompetenzen erlernt und in einem entsprechenden Teilhabitus verankert werden können.“ (Grawe und Aguado 2021, S. 9)
Bourdieu hat diesen Transformationsprozess sehr gut beschrieben und wer von Ihnen sich an seine eigene Weiterbildung und an die vielleicht krisenhaften Transformationen, an die Anpassungen an die neue Rolle und an das „supervisorische Handlungsfeld“ erinnert, wird ihm zustimmen:
„Nur über eine ganze Reihe kaum spürbarer Veränderungen, halbbewusster Kompromisse, sozial bestärkter, gestützter, kanalisierter, ja organisierter psychischer Operationen (Projektion, Identifikation, Übertragung, Sublimierung usw.) und erst am Ende all jener winzigen Anpassungen, die erforderlich sind, um »auf der Höhe zu sein« oder, im Gegenteil, »zurückzustecken«, und die mit den winzigen oder gewaltigen Umwegen einhergehen, aus denen eine soziale Laufbahn besteht, wandeln jene Dispositionen sich nach und nach in feldspezifische um.“ (Bourdieu 2017, S. 210)
Man kann also sagen: als Sie Ihre Weiterbildung begonnen haben, haben Sie bereits wichtige Kompetenzen mitgebracht – Sie sind beruflich tätig gewesen, Sie haben prozessorientierte Weiterbildungen besucht und sich bereits einen Gesamthabitus und Ansätze eines professionellen Habitus angeeignet. Nun aber geht es darum, die supervisorische Rolle zu übernehmen und so Ihre vorhandenen Dispositionen in einen feldspezifischen Teilhabitus zu integrieren. Dazu müssen Sie ganz konkrete Erfahrungen machen, diese Erfahrungen reflektieren und immer wieder üben…
3. Ein professioneller Habitus für Supervision und Coaching
3.1 Supervision und Coaching
Die Diskussion der Frage, was Supervision und was in Abgrenzung dazu Coaching ist, ist seit der Namenserweiterung der DGSv von 2016 nicht abgerissen und wird uns weiter beschäftigen.
Ich möchte mir hier aber die Frage nach einer Abgrenzung der Formate gar nicht stellen, sondern eher auf den in der DGSv erkennbaren Konsens zu dieser Beratungspraxis zurückgreifen. Von ihm aus kann ich die Frage des Habitus weiterentwickeln.
Konsens zu dieser Praxis besteht in der DGSv nach meiner Einschätzung über zwei Aspekte:
Erstens: Das Handlungsfeld ist bei beiden Formaten die Arbeitswelt. Es geht bei Supervision und bei Coaching um arbeitsweltbezogene Beratung. Das bedeutet, beide Formate grenzen sich gegen andere Formate ab. Sie sind z. B. nicht Therapie (auch wenn sie ggf. therapeutische Wirkungen mit sich bringen mögen) und sie sind nicht Organisationsberatung (auch wenn sie nicht selten organisatorische Wirksamkeit erreichen), sondern bei beiden Formaten handelt es sich um eine auf die berufliche Rolle von Supervisand*innen oder Coachees bezogene Beratung.
Zweitens: Es handelt sich bei beiden Formaten um eine professionelle Beratung, in der die Selbsthilfepotenziale des Supervisanden genutzt werden müssen. Ziel ist, die Autonomie des Handelns einer zu beratenden Person wieder herzustellen und bei der Expertise diese Autonomie nicht zu untergraben, sondern zu fördern. Darum erfordert diese Expertise einerseits Wissen zu den Bereichen „Person – Rolle, Funktion, Aufgabe – Organisation – Klientensystem bzw. Anspruchsgruppen“ (DGSv 2020, S. 4). Aber sie hat zudem an den typischen Dynamiken einer professionellen Arbeitsbeziehung teil, denn es geht nicht einfach um eine sachliche Beratungsleistung, sondern auch um ein spezifisches Arbeitsbündnis.
Michael Giesecke hat schon 1999 in einem Skript auf die Unterscheidung zwischen instruktiver und selbstreflexiver Beratung hingewiesen (Giesecke WS 1999–2000, S. 15). Voraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz des Instruktionsprogramms ist, dass der zu Beratende selbst weiß, was das Problem ist und woher die sachliche Lösung kommen kann.
In einer Supervision und in einem Coaching haben wir es aber viel mehr mit unsicheren Situationen zu tun, die in der Beratung bei beiden Beteiligten viel mehr reflexive und selbstreflexive Kompetenzen erforderlich machen.
Oevermann weist darüber hinaus auch noch auf einen anderen Aspekt hin. In einer Supervision und in einem Coaching steht z. B. der zu Beratende viel zentraler selbst im Mittelpunkt der Beratung. Seine Handlungsautonomie ist beeinträchtigt. Wenn wir nun als Professionelle eine fachliche Expertise, also unser Wissen auf sein Handeln anwenden, entstehen typische paradoxale Herausforderungen, denn wir dürfen bei aller Expertise die Selbsthilfepotenziale des Supervisanden nicht „verschütten“. Diese Paradoxien sollen später an einem Beispiel erläutert werden.
Betrachtet man nun die zwei Merkmale, die wir genannt haben, so wird deutlich: der Arbeitsweltbezug allein erfordert Wissen und Kenntnisse aber noch keinen professionellen Habitus – auch ein Steuerberater macht arbeitsweltbezogene Beratung.
Aber das zweite Merkmal des professionellen Arbeitsbündnisses macht einen professionellen Habitus notwendig, weil dieser hilft, die typische Kompetenzanforderung dieser auf eine Person und seine Rolle in einer Organisation bezogene Beratung spontan und routiniert zu erbringen.
3.2. Aspekte eines professionellen Habitus
Auch wenn zwischen einzelnen Supervisionen oder Coachings Unterschiede bestehen, so kann man doch davon ausgehen, dass es Ähnlichkeiten in den Handlungsanforderungen gibt. Eine der zentralen Herausforderungen beider Settings ist es z. B., einen Beziehungsraum zu eröffnen und zu gestalten, in dem die Verunsicherungen, die Anlass zu einem Beratungsinteresse gewesen sind, besprochen werden können.
Als Supervisorin sehe ich mich da immer wieder in inneren Ambiguitäten und Entscheidungssituationen.
Soll ich, nachdem eine kritische Situation vorgetragen wurde, durch vorsichtige Exploration mehr Hintergründe erfragen oder ist es gerade geboten, schnell eine erste Hypothese zu dem Konflikt anzubieten?
Wie stark gehe ich in Distanz zu auch mich beunruhigenden Verhaltensweisen oder bin ich in der Lage, meine Affekte zu verstehen und dann einen Perspektivenwechsel zu finden und anzubieten? Was veröffentliche ich von meinen Gefühlen und Gedanken? Professionelle Beziehungsräume und Arbeitsbeziehungen sind von vielerlei Spannungen und Paradoxien durchzogen, die aber spontan und mit einer gewissen Routine von einem Supervisor einer Supervisorin gehalten oder balanciert werden müssen.
Ein Beispiel
In der ersten Sitzung mit einer jungen Lehrerin, die in der SV ihre Konflikte mit Kolleginnen und ihrem Vorgesetzten besprechen wollte, wurde ich, nach unspektakulärem Beginn plötzlich damit konfrontiert, dass sie Impfgegnerin und – wie sich immer mehr herausstellte – auch Querdenkerin war.
Ich werde den Moment des Schreckens nicht vergessen. Ich dachte sofort darüber nach, wie nah ich ihr am Eingang gekommen war, sie hatte einen Schnelltest mitgebracht und wir hatten die Masken bis zum Platz aufgelassen.
Es entstand ein Gespräch über ihre Motive zur Impfgegnerschaft und meine Rückfragen zu ihren vorgetragenen Positionen wurden im Ton immer schärfer, bis ich das selbst bemerkte und nach einem Moment der Introspektion, den ich mir gönnte, ruhig sagen konnte, dass ich in manchen Punkten, die sie vorgetragen habe, wahrscheinlich anderer Auffassung sei, dass uns das aber nicht hindern sollte, ihr Anliegen, das – wie wir ja schon herausgefunden hatten – nicht nur aus den Folgen dieser Meinungsunterschiede bestünde, zu besprechen.
Meine Einlassung zu dem Dissens über das Impfen zwischen uns entspannte die Lage in dieser ersten Sitzung und die SVD konnte wieder zurück zu anderen Konfliktsituationen finden, auch wenn dieses Thema uns immer begleitete.
Zunächst kann man sagen, dass es mir in dieser – zumal ersten! – Sitzung offenbar gelungen war, die hier vorliegenden Übertragungsprozesse zu erkennen.
Die beiden kontroversen Positionen wurden nicht geleugnet, aber doch zunächst beruhigt, um vielleicht später verstehen zu können, was genau dahintersteckte. In der Auswertung nach schließlich 10 erfolgreichen Supervisionssitzungen, deren Inhalte hier nicht so bedeutsam sind, meinte die Supervisandin, da hätte ich ja in der 1. Sitzung nochmal die Kurve gekriegt, was ich schmunzelnd bestätigen konnte.
Wie kann man diese Szene aber habitustheoretisch verstehen? Das Verhalten von Supervisanden oder Coachees löst ja in uns nicht immer Vergnügen aus – wir werden durch ihre Berichte nicht selten heftig affiziert, spüren Erstaunen, Erschrecken, Unverständnis. Wie oft habe ich innerlich gedacht: um Gottes Willen, was macht die oder der denn da!!!?
Welche Kompetenz ist jetzt nötig?
Wir sollten fähig sein, unsere eigenen – vielleicht sogar starken – Gefühle in der Beraterrolle als mögliche Gegenübertragung zu sehen und ins Verstehen einzubeziehen, wir sollten herausfinden können, wessen Position eine Supervisandin mich hier gerade fühlen lässt, vielleicht auch, was hier in der Beziehung zu mir gerade von ihr reinszeniert wird aus ihrer beruflichen Praxis unsere Introspektion nutzen können (d. h. zwischen Empathie, Kognitiver Deutung und innerem Probehandeln zur Intervention balancieren können), d. h. einen „inneren Analytiker“ (Zwiebel 2001) zur Verfügung haben eine Kompetenz zur Triangulierung haben und nicht mit spontaner Abgrenzung, Unverständnis oder Verhaltenskorrektur zu reagieren. Diese Kompetenzen sollten spontan oder sagen wir – nach einem kleinen Moment der Verwicklung – entstehen können, sie sollten Routine werden – oder um es anders zu sagen: verkörpert oder habitualisiert sein.
Unsere Expertise, unsere Professionalität besteht also nicht nur in einem Expertenwissen, das wir erklären können. Selbstverständlich ist dieses Expertenwissen wichtig, denn es kann durchaus hilfreich sein, sachlich zu wissen, wie gruppendynamische Prozesse in einem schulischen Kollegium vor sich gehen oder auf welche Weise Konflikte eskalieren können und wie man sie deeskalieren kann. Das ist ein Wissen, das wir mitteilen und erläutern können.
Professionelles Wissen ist dagegen ein „procedurales Wissen“ (Bohnsack 2020, S. 24), ein Wissen über das angemessene Verfahren, das habitualisiert sein muss, weil es in kritischen und paradoxalen Situationen spontan hervorgebracht werden muss (wissenssoziologische Theorietradition).
Das bedeutet nun nicht, dass wir dann von einer Begründung für unser professionelles Tun entpflichtet würden – auch wir müssen unsere Routinen immer wieder überprüfen. Über diese Selbstreflexion und Feinjustierung lernen wir selbst immer besser, unsere Rolle in diesem Feld der Supervision angemessen „zu spielen“.
Ausblick:
Ich möchte an dieser Stelle mit einem kleinen Spiel schließen. Sie sehen diesen Kreisel: wir haben seit Kindertagen Vergnügen daran, die Schwingungen anzusehen, die er vollzieht, wenn wir ihn in Schwung gebracht haben und vielleicht sein Brummen zu hören. Der aufrechte Stiel hält ihn gerade und die Fliehkraft kann so gebändigt werden, bis auch er seinen Schwung verloren hat und austrudelt.
Ich möchte einen Aspekt des Kreisels als eine Metapher nehmen, die sicher nicht alles erklärt, aber doch in einem kleinen Vergleichspunkt hier auf Wesentliches hinweisen kann.
Unsere alltägliche Beratungsarbeit muss sich immer wieder auf Ungewisses und Widersprüchliches einlassen. Da hat sich ein Supervisand über längere Zeit allein oder mit anderen über seinen Alltag ausgetauscht und hat seine Handlungssicherheit, vielleicht auch innere Haltung vielleicht verloren, er ist aus dem Tritt gekommen.
Und er macht nichts anderes, als uns mit seinen Verunsicherungen zu konfrontieren, auch uns mit in seine Irritationen hinzunehmen. Und wir müssen uns auch darauf einlassen, müssen versuchen, nachzuvollziehen, was ihn umtreibt.
Aber damit wir diese Spannungen und Widersprüchlichkeiten verstehen können, brauchen wir einen gewissen Abstand, eine feste Haltung, die zwar mitschwingt, aber nicht so schnell aus dem Tritt gerät. Man könnte sagen: der innere Stiel des Kreisels unserer Beratungsarbeit – das ist der professionelle Habitus …
Vielen Dank.
Literaturverzeichnis
- Bohnsack, Ralf (2020): Professionalisierung in praxeologischer Perspektive. Zur Eigenlogik der Praxis in Lehramt, sozialer Arbeit und Frühpädagogik. Opladen: Verlag Barbara Budrich (utb Erziehungswissenschaft, Soziologie, Soziale Arbeit).
- Bourdieu, Pierre (2017): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Unter Mitarbeit von Hélène Albagnac und Bernd Schwibs. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1695).
- Bourdieu, Pierre; Wacquant, Loïc (1996): Reflexive Anthropologie. 1. Auflage. Hg. v. Hella Beister. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- DGSv (2020): Dafür stehen wir: Qualität – Verlässlichkeit – Innovation. Standards der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e.V. (DGSv). Köln.
- Fuchs, Thomas (2020): Leibgedächtnis und Unbewusstes – Zur Phänomenologie der Selbstverborgenheit des Subjekts. Psycho-Logik 3 Methode und Subjekt. Freiburg/München: Karl Alber. Online verfügbar unter https://www.researchgate.net/publication/292964444_Leibgedachtnis_und_Unbewusstes.
- Giesecke, Michael (WS 1999–2000): Grundlagen des Beratungsgesprächs. Institut für Gartenbauökonomie der Universität Hannover.
- Grawe, Bernadette; Aguado, Miquel (2021): Professionalisierter supervisorischer Habitus. Professionstheoretische und curriculare Überlegungen. Hg. v. DGSv. Online verfügbar unter https://www.dgsv.de/wp-content/uploads/2021/03/In-puncto-Standards_1_Habitus.pdf.
- Gröning, Katharina (2018): Die Fallsupervision von Dr. A. aus der Perspektive des Masterstudiengangs Supervision. Ein Hypothesenrahmen. In: Forum Supervision online Zeitschrift, Bielfeld (51), S. 30–37.
- Kernberg, Otto F. (1988): Innere Welt und äußere Realität. Anwendungen d. Objektbeziehungstheorie. München: Verl. Internat. Psychoanalyse.
- Kögler, Michael; Busch, Eva (2014): Übergangsobjekte und Übergangsräume. Winnicotts Konzepte in der Anwendung. Orig.-Ausg. Gießen: Psychosozial-Verlag (Bibliothek der Psychoanalyse).
- Racker, Heinrich (2002): Übertragung und Gegenübertragung. Studien zur psychoanalytischen Technik. 6. Aufl. München, Basel: E. Reinhardt (Psychoanalyse).
- Serres, Michel (2012): Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. 5. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1389).
- Zwiebel, Ralf (2001): Zum Konzept des Inneren Analytikers. In: Forum Supervision (18), S. 65–82.
Dr. Bernadette Grawe
Bernadette Grawe, (*1951) aufgewachsen in Gütersloh, lebt in Warburg. Berufliche Stationen: nach einem Ausflug in die Pharmazie, Studium der Katholischen Theologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften, langjährige Tätigkeiten in verschiedenen Feldern der Jugendverbandsarbeit, freiberufliche Praxis als Supervisorin DGSV (seit 1992), Trainerin für Gruppendynamik (seit 2001), Promotion zum Dr. phil. (2002), Professorin für das Lehrgebiet „Sozialmanagement“ an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn (2005–2017), seither Praxis für Supervision und Beratung. www.grawe-netz.de Bernadette.grawe@t-online.de