im Öffentlichen Verborgenes, gefunden in den Bereichen Sozialwesen, Gesundheit und Wirtschaft

Das FiS experimentierte dieses Mal mit einem neuen Element in seinem langjährig erprobten Tagungsdesign. Unter der Überschrift „Zu nah dran … im Offensichtlichen Verborgenes, gefunden in den Bereichen Sozialwesen, Gesundheit und Wirtschaft“ stellten drei Kolleg*innen Fälle aus ihrer Praxis vor, die jeweils in einer These mündeten und dem Plenum zur Diskussion gestellt wurden.

 

Paul Fortmeier, Münster, berichtete über eine Teamentwicklungsmaßnahme mit dem achtköpfigen Geschäftsleitungsteam und dem Geschäftsführer eines größeren mittelständischen Unternehmens. In seinem Praxisbeitrag schilderte er die anfängliche Diskrepanz zwischen dem kommunikativen Anspruch und der gelebten Realität im Unternehmen.

Kommunikationsdefizite auf der Führungsebene waren offensichtlich und spiegelten sich auf allen Ebenen des Unternehmens wider. Das führte zu vielerlei Problemen und Verdruss im Unternehmen, beeinträchtigte auch die Kundenbeziehungen und den wirtschaftlichen Erfolg. Hohe Personalfluktuation und Krankenstände korrespondierten mit mangelnder Kundenbindung.

Die Mitglieder des Geschäftsleitungsteams konnten zunächst nur schwer die faktische Dissonanz zwischen ihrem Selbstbild als junge, dynamische und kraftvolle Karrieremanager*innen und den tatsächlichen Gefühlen in den Untiefen des Alltags erkennen und zulassen.

Im Teamentwicklungsprozess wurde es für sie essenziell, zu verstehen, dass Kommunikation im Unternehmen keine Banalität ist – insbesondere nicht in ihrem Team – Missverständnisse nicht ehrenrührig sind, Schuldzuweisungen jedoch kontraproduktiv.

Sie freundeten sich allmählich mit der Erkenntnis an, dass Konflikte und Spannungen eigentlich völlig normal sind und diese dann destruktive Kraft entfalten, wenn sie ignoriert werden.

Viele Missverständnisse und Konflikte konnten allmählich als natürliche Folgen unterschiedlicher Fachlichkeiten und Fachsprachen sowie rollen- und aufgabenbezogener Interessenunterschiede erkannt und behandelt werden.

Die Reflexion des eigenen Verhaltens und dessen Wirkungen auf die Mitarbeitenden wurde zunehmend als zentrale Führungsaufgabe verstanden.

Sukzessiv entwickelte das Führungsteam einen realistischeren Blick auf die eigene Teamrealität und die Unternehmenswirklichkeit. Die Kundenbindung stieg, Fluktuation und Krankenstände gingen zurück. Die wirtschaftliche Situation verbesserte sich deutlich. Die Zufriedenheit nahm insgesamt zu.

Diese Entwicklung erfolgte jedoch nicht gradlinig, sondern war auch mit Rückschlägen und Phasen der Latenz verbunden.

Während der vierjährigen Zusammenarbeit mussten situativ immer wieder folgende Fragen beantwortet werden: Wann ist Konfrontation mit der externen Beratersicht notwendig und wann Anleitung von Verstehensprozessen? Wie konnte beides aufeinander bezogen werden? Ist hierzu die Beziehungsgrundlage zwischen Berater und dem Team und zwischen den Teammitgliedern tragfähig? Zu flache Interventionen hemmen die Entwicklung, zu steile können Widerstände zu Blockaden machen. Wer oder was wird mit einer Intervention oder Interventionsstrategie angesteuert, eher der Einzelne, eher die Beziehungen, das Team als Ganzes, die Organisation? Stimmen Interventionstiefe und -reichweite? Was gibt die gruppendynamische Situation her? Wird zu stark auf Einzelne oder partikuläre Beziehungen fokussiert, besteht die Gefahr der Individualisierung. Wird nur das Ganze in den Blick genommen, können sich die Einzelnen mit ihren Anliegen und den Beziehungsthemen verloren vorkommen. Stimmt jeweils das Timing? Sind die situative Diagnose und der grundlegende Auftrag miteinander verbunden?

Was macht der Berater mit seinen eigenen Unsicherheiten, seinen Stagnationsgefühlen, mit seinen Beziehungswünschen, mit seiner Angst? Wie risikobereit ist er? Nutzt er die Spielräume? Wie geht er mit eigenen Fehlern um?

Zudem erforderte die Differenzierung der Leitungsfunktionen des Geschäftsführers und der Beratungsaufgaben des Supervisors ständige Aufmerksamkeit.

Ein Scheitern des Prozesses war jederzeit möglich. Daraus wurde als These für die grundsätzliche Beraterhaltung abgeleitet:

„Wenn ich nicht bereit bin, im Prozess meinen Auftrag zu riskieren, bleibe ich hinter meinen Möglichkeiten zurück, und stehe erst recht in der Gefahr, ihn zu verlieren.“

 

In der zweiten Runde stellte Petra Schimmel, Dortmund, einen Praxisbeitrag aus dem Sozialwesen vor.

Der Fokus dieses Beitrags lag darauf, wie sich das nicht Wahrnehmen, Anerkennen und Bearbeiten institutioneller Themen und Konflikte auf Organisationsseite auf den Einzelnen auswirken kann und welche Folgen dies hat.

Petra Schimmel beleuchtete in ihrem Praxisbeispiel die Dynamiken in der Begleitung einer Supervisandin, Frau A., während einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme. Frau A., befand sich zum Zeitpunkt der Einzelsupervision in einer dreijährigen beruflichen Weiterbildung bei einem privaten Bildungsträger. Im Verlauf der Maßnahme kam es zu organisatorischen und kommunikativen Herausforderungen, die zu inneren und äußeren Konflikten führten. Gleich zu Beginn wurde die Gruppe der Teilnehmenden durch die Ankündigung weiterer Teilnehmer*innen verunsichert.

Die zu diesem Zeitpunkt bestehende Gruppe war davon ausgegangen, nun eine konstante Gruppe zu sein. Das Vorgehen der Kursleitung, auch nach dem Start der Weiterbildung Teilnehmer*innen in die Gruppe aufzunehmen, war nicht Teil der Rahmenabsprachen zu Beginn der Weiterbildung und führte in der Folge zu einer gruppendynamischen Verunsicherung.

Ein weiterer kritischer Punkt entstand, als ein zusätzlicher Weiterbildungsblock von der Kursleitung, die zugleich Teil der Institutsleitung war, ohne vorherige Ankündigung eingeplant wurde.

Frau A. geriet dadurch unter Druck, da sie diese zusätzlichen Tage nicht einplanen konnte und sie zusätzlich hätte bezahlen müssen. In der Folge versuchte sie, Lösungsvorschläge zu entwickeln und diese – nach Aufforderung der Kursleitung – auch mit der Gruppe zu thematisieren. Sie stieß jedoch auf wenig Resonanz und Unterstützung. Dies führte zu einem emotionalen Konflikt innerhalb der Gruppe. Die Gruppe zeigte sich uneinig und abwehrend gegenüber Frau A., was zu weiterer Frustration bei ihr führte. Die Entscheidung wurde schließlich ohne weitere Erklärungen, durch die Kursleitung autoritär getroffen.

Der Beitrag von Frau Schimmel analysierte die verborgenen Dynamiken und Muster, die zu diesen Konflikten geführt haben könnten. Es wurde erörtert, wie organisatorische Fehler und unzureichende Kommunikation die Situation verschärften. Die Kursleitung der Weiterbildungsmaßnahme agierte in einem Rollenkonflikt, was zur Verschlechterung der Gruppenatmosphäre beitrug. Frau A. übernahm eine Rolle (Verantwortliche für die Problemlösung), die nicht zu ihrer Zuständigkeit als Teilnehmerin gehörte und fühlte sich am Ende isoliert und entwertet.

Die Entschlüsselung dieser Phänomene zeigte, dass das Aufweichen von organisatorischen Rahmenbedingungen zur Verwässerung eines Konzepts und zur Verunsicherung im Gruppengeschehen führen kann.

Die unzureichende Auseinandersetzung mit möglichen wirtschaftlichen Ängsten und Schamgefühlen sowohl bei der SVD als auch bei der Organisation selbst wurde thematisiert.

Der Praxisbeitrag betonte die Notwendigkeit, unbewusste Dynamiken und strukturelle Unklarheiten innerhalb von Organisationen zu erkennen und zu adressieren. Nur so sei es möglich, einzelne Beteiligte zu entlasten und ggfs. dazu beizutragen, dass institutionelle  Strukturen verbessert werden können.

Aus diesem Praxisbeispiel leitete sich folgende These für die Arbeit als Berater*in ab:

„Konfrontiert mit Konflikten, besteht meine Aufgabe als Berater*in nicht nur im Reflektieren, sondern auch im Erkennen und Benennen von Schwächen in der Organisation. So lässt sich verhindern, dass Konflikte (weiter) personalisiert werden.“

 

Anna-Lena Thies, Laer, stellte in einer dritten Runde ihren Beitrag aus der Praxis im Gesundheitswesen vor. Hier berichtete sie von einer Teamsupervision in einer psychosomatischen Klinik und schilderte, wie durch den personellen Wandel die Belegschaft deutlich verjüngt wurde und dadurch die Generationenfrage in den Vordergrund rückte. In Ihrer Fallbeschreibung ging es darum, ob diese Generationenfrage wirklich der Kern des Miteinanders war oder ob das Verborgene in der Organisation wo anders zu finden war.

Anna-Lena Thies supervidierte das betreffende Team schon einige Zeit, als es zu einer deutlichen Verjüngung kam. Die neuen Kolleg*innen waren am Beginn ihrer Tätigkeit motiviert, gut gelaunt und zugewandt. Im Lauf der Monate erlebte die Supervisorin allerdings etwas, was als „Entzauberung“ bezeichnet werden könnte. Sehr schnell kamen diese Kolleg*innen in einer Realität an, die nicht viel mit ihren Idealen und auch nicht mit dem, was vorab be- oder auch ver-sprochen worden war, zu tun hatte. Von älteren Kolleg*innen hörte man mal mehr mal weniger laut Stimmen, die im übertragenen Sinne sagten: So ist das eben. Arbeiten ist hart, das Gesundheitssystem ist schrecklich und man muss sich gewöhnen.

Diese Anteile gab es natürlich. Anderseits passierte aber noch etwas anderes, was erst nach und nach zu bemerken war. Der Blick wurde weg gewandt von der Organisation, hin zum Individuum. Einzelne Person wurden in den Mittelpunkt gerückt – das aber nicht in ihrer Rolle, sondern als Person. Probleme wurden also eher individualisiert.

Weiter ging es viel darum, dass man es früher auch nicht leicht hatte. Eine grundsätzliche Diskussion zog sich durch die Supervision: Wer hatte die schlimmste Einarbeitung. War das vor 25 Jahren oder heute? Ist es nicht einfach so, dass es am Anfang immer schlimm ist und man sich langsam gewöhnen muss? Und muss man nicht auch mal etwas aushalten? Vor allem die älteren Ärzt*innen taten sich hervor mit „Früher war Stellenmangel, wir konnten uns nicht aussuchen, was wir machen. Wir waren froh, irgendeine Stelle zu haben.“

Unterschwellig war zu hören „die heutige Generation ist…“ Und auch, wenn es Gespräche darüber geben konnte, war das hierarchische Gefälle klar zu erkennen. Teilte ein/e Oberarzt/Oberärztin, auch mal etwas emotionaler mit, dass er/sie es früher auch schlecht hatte, verstummten die jungen Kolleg*innen. Und was passierte? Es kam zu einer sehr hohen Fluktuation. Manche Mitarbeiter*innen blieben ein Jahr, manche auch nur für die Probezeit. Hielt es jemand länger als ein Jahr aus, entspannten sich alle merklich und waren noch überraschter, wenn er oder sie dann doch kündigte.

Immer wieder war in der Supervision Thema, dass jemand gekündigt hatte oder plötzlich von der einen auf die andere Supervision nicht mehr da war. Was hier eine Annäherung bringen könnte, war lange unklar.

Erst als es der Supervisorin gelang – angeregt durch ein Beispiel aus einer anderen Organisation – einen Schritt zurückzutreten und die Themen, die alle in der Supervision „da“ waren, zu sortieren, setzen sich Puzzleteile zusammen und ein neues Bild der Organisation entstand.

Es wurde deutlich, dass das Generationenthema und das Thema der Problemindividualisierung dafür genutzt wurden, strukturelle Missstände zu überdecken. Dies geschah nicht bewusst, es wurde vielmehr eine schnelle Antwort gesucht, die aber nicht unbedingt zur Aufklärung der Probleme führte. Hierzu auch die Hypothese von Anna-Lena Thies:

„Eine schnelle und bequeme Antwort verbirgt oft mehr, als dass sie zur Aufklärung beiträgt.“

Es ging also nicht primär darum, wie die heutige Generation arbeitete oder wie unterschiedlich Mitarbeiter*innen individuell mit eigenen Themen umgingen. Es fiel vielmehr auf, dass Hauptthemen einer Organisation – wie zum Beispiel Einarbeitung neuer Mitarbeiter*innen und fachliche Begleitung junger Kolleg*innen – mit der Rechtfertigung von Zeitmangel immer mehr in den Hintergrund gerückt waren.

Beide Themen zeigen deutlich, dass leise geäußerte Forderungen der jungen Mitarbeitenden nicht gehört werden konnten und wollten, und dass sowohl während der Beschäftigungszeit, aber auch nach dem Weggang der Blick eher auf das Individuum gerichtet wurde und nicht danach geschaut wurde, welchen Anteil die Struktur der Organisation hat.

Denn den Anteil der Organisation zu sehen, das ist anstrengend. Oft ist die schnellere und bequemere Antwort, zu gucken, was individuell los ist. Liegt es nicht vielleicht am Alter, der Generation und daran, dass man Arbeit und auch Arbeitszufriedenheit deutlich anders definiert?

Hier vermutet Anna-Lena Thies das Verborgene in der Organisation. Der Fokus, der gelegt wurde oder auch fühlbar gelegt werden musste – die Patientenversorgung – rückte den Blick immer mehr ab von denen, die aber auch Unterstützung und Zugewandtheit brauchten. Und so blieben diese auf der Strecke und verließen – im schlimmsten Fall – das Haus.

Und natürlich ist die Generation der jungen Arbeitsnehmer*innen heute anders als früher, und auch individuelle Anteile sind nicht zu unterschätzen. Aber auch der Anteil der Organisation ist von Bedeutung und die Frage, was wird z.B. unter dem Deckmantel der Generationenfrage versteckt?

Diese drei, sehr facettenreichen Fallbeispiele entstanden nach lebhaften Diskussionen darüber, was für Fortmeier, Schimmel und Thies Verborgenes ist und was diese denken, wie Supervision dazu beitragen kann, Verborgenes zu bergen.

Sie sprachen darüber, wie sie denken, Muster zu erkennen zu können und inwieweit Supervisor*innen sich in einer Supervision verwickeln lassen. Und auch, wie sehr man sich verwickeln lassen will und sich auch selbst wieder entwickelt. Es ging in der Diskussion der drei viel darum, worauf sich Wahrnehmung richtet und wie Spannungsfelder erlebt werden.

Es war allen dreien eine Freude, mit den anwesenden Tagungsteilnehmer*innen anhand der Praxisbeispiele Phänomenen auf die Spur zu kommen, die offensichtlich sind und sich der Wahrnehmung und damit der Bearbeitung trotzdem scheinbar entziehen.


Petra Schimmel, Dortmund, (Lehr-)-Supervisorin, Coach (DGSv), Balintgruppenleiterin (DGB), Mitarbeit in der Balint-Leitungsausbildung IPU und FiS


Anna-Lena Thies, Laer, freiberufliche Supervisorin und Coach (DGSv), angestellt an der Universität Münster als Leiterin eines Projekts zur Weiterbildung junger Allgemeinmediziner:innen. www.thies-supervision.de


Paul Fortmeier, Münster, Supervisor, Coach (DGSv), Trainer, Ausbilder für Gruppendynamik (DGGO), Organisationsberater (DGGO). www.beo-dialog.de

Zu nah dran …