Gefühle und Druck aushalten → miteinander sprechen.
Realität und Zusammenhänge erkennen → in Bewegung und Verantwortung kommen.
→ Zusammen neue Wege suchen.
Ein Generationengespräch: Monika Möller und Anna-Lena Thies
Monika Möller:
Wir sprechen, denken, lesen, schreiben viel von Krieg, Krisen, Veränderungen, Bedrohungen. Und wir fragen uns, wie soll das weitergehen, was bleibt von dem, was bislang richtig und wichtig war und wie kommen wir in einen positiveren, konstruktiveren, friedlicheren Flow? Wir, das sind du und ich, das ist unsere berufliche Community, das ist die Gesellschaft in allen politischen Räumen (Nachbarschaft, Kommune, Land, Bund, EU, Welt).
In der Zeitschrift Supervision – Mensch. Arbeit. Organisation 3-2024 (Thema: Gegenwind) habe ich mit einem Blick auf die Verbandsgeschichte der DGSv beschrieben, dass sich die Supervision immer auf die gesellschaftlichen Entwicklungen eingestellt und damit verändert hat, gleichzeitig der Kern grundsätzlich erhalten geblieben ist. In meinem Beitrag Zuversicht statt Spaltung, FiS Newsletter Juli 2024, setze ich mich mit meinen Gefühlen von Angst, Wut und Ohnmacht auseinander, die durch die globalen Krisen und bedrohlichen Entwicklungen ausgelöst werden. Und ich gehe der Frage nach, wie wir in der Supervision diese Dynamik aufgreifen können, um mehr Bewusstheit und Handlungsfähigkeit zu gewinnen.
Im Dezember 2024 erscheint in der DGSv Zeitung Journal 3/2024 ein Beitrag Es wird wie früher immer anders, in dem ich versuche, die aktuelle gesellschaftliche Lage zu beschreiben und für die Supervision den Anspruch zu formulieren, einen Beitrag zu leisten zur Realitätswahrnehmung, Positionierung, Einmischung und Verantwortung.
Nun wurde ich gefragt, für den FiS-Newsletter einen Beitrag zu schreiben. Es geht immer um das Bleibende und die Zukunft, und das hat auch mit dem Generationenwechsel, dem Bewahren wollen und Loslassen und dem Vertrauen in die Jüngeren zu tun. Und so bin ich auf die Idee gekommen, meinen Artikel aus dem Journal mit einer jungen Kollegin zu diskutieren und diesen Dialog zu veröffentlichen.
Anna-Lena Thies und mich verbinden eine Lehrsupervisionsbeziehung, die nun einige Jahre zurückliegt und eine vertrauensvolle Basis geschaffen hat, und kollegiale Erfahrungen, z. B. in einer gemeinsamen Balintgruppe. Anna-Lena ist Teil des FiS-Teams, einigen von den FiS-Tagen bekannt und hat sich aufgeschlossen und motiviert auf dieses Projekt eingelassen. Es soll in diesem Text nicht um die institutionellen Fragen des FiS gehen, sondern um die konzeptionellen Perspektiven. Ich habe ihr meinen Artikel für das Journal geschickt und wir haben den Diskurs in einem netten Cafe begonnen. Wir beziehen uns auf Aussagen in dem Text und wollen transparent machen, wo die Wahrnehmungen unterschiedlich sind. Ich schreibe diesen Eingangstext und dann werden wir abwechselnd in einem E-Mail-Dialog den Beitrag entwickeln.
Liebe Anna-Lena!
Schon deine erste Resonanz in unserem Gespräch war für mich sehr spannend. Ich schreibe in den Artikeln auch über die gesellschaftlichen Wirkungen der 68er Bewegung (Geschlechterrollen, freieres Denken, selbstbestimmteres Leben …) und du fragst, ob diese eigentlich noch tragen. Du nimmst eher wahr, wie sich alte Rollenbilder wieder ihren Platz erkämpfen. Während ich als ältere Frau an die Kämpfe und Veränderungen denke, hast du als junge Frau diese freie Gesellschaft als normal und selbstverständlich erlebt und beschreibst jetzt eher die Erschütterung des Urvertrauens und die Verunsicherung.
Ich versuche ja immer, diese Veränderungen im Kontext politischer Entwicklungen zu verstehen, damit sie nicht nur auf der persönlichen Ebene wahrgenommen und verarbeitet werden. Kannst du damit etwas anfangen?
Liebe Monika!
Ich beobachte viel und bin momentan vor allem mit Geschlechterrollen und Familienbildern beschäftigt. Denn es ist für mich schon die Frage, inwieweit z.B. Emanzipation die Gesellschaft durchdrungen hat und was momentan passiert. Schilderst du die 68er Bewegung, kommt mir ein Bild von Freiheit und von Aufbruch. Sehe ich mich heutzutage in der Gesellschaft um, sehe ich auch vieles andere. Ich sehe oft althergebrachte Rollenbilder, die sowohl bewusst als auch unbewusst, von Mann und Frau bedient werden.
Ich bekomme den Eindruck, dass es für vieles Worte gibt, die es früher nicht gab. „Weaponized Incompetence“ oder „strategische Inkompetenz“ beispielsweise gab es schon immer: Hier geht es um Menschen, die sich dumm stellen, um unliebsamen Aufgaben aus dem Weg zu gehen – sowohl in Arbeit als auch in privaten Zusammenhängen. Jedem und jeder fällt sofort ein Beispiel ein, den Begriff als solchen kennen viele aber nicht bzw. noch nicht allzu lange. Genau so ging es mir auch mit „Maternal Gatekeeping“ – dem „mütterlichen Türstehen“. Hier spiegelt sich der Glaube einer Mutter wider, dass sie die Einzige ist, die für das Kind (richtig) sorgen kann.
Für mich beides Beispiele für einen neuen, auch kritischen Umgang mit alten Phänomenen, die entweder immer da waren oder in den heute unsicheren Zeiten neues Gewicht bekommen. Ich begrüße die Art und Weise der Auseinandersetzung und der Kritik an solchen Phänomenen und spüre auf der anderen Seite auch eine Hinwendung zu traditionellen Familienstrukturen. Und ich frage mich, ob das auch etwas damit zu tun hat, dass die Welt momentan und auch schon seit einigen Jahren eine Verunsicherung erlebt, die Menschen wie ich, die 1985 geboren wurde, so nicht kannte. Die Ziele der „letzten Generation“, der starke politische Einfluss von rechten Parteien, ein immer näherkommendes Kriegsgeschehen – alles führt einem unmissverständlich vor Augen, dass man gar nicht wissen kann, wie und ob das alles so weitergeht. Dieses Gefühl ist, auf jeden Fall für mich, neu. Das Urvertrauen, dass du schon erwähnt hast, ist erschüttert und findet für viele vielleicht vor allem in der Familie und in der (scheinbaren) Sicherheit der Planbarkeit Gehör.
Wie erlebst du die Zeit momentan? Ist alles besser als die Zeit vor ’68?
Liebe Anna-Lena!
Ich finde schon, dass Vieles besser und ganz anders ist (Lebensstandard, viel freiere Gesellschaft), aber: nicht für alle, nicht gesichert für immer und für welchen Preis?
Ist weniger Konsum besser oder schlechter? Was ist richtig und was falsch? Ich denke nicht gern in der Kategorie ‚besser oder schlechter‘. Das ist eine Polarisierung, die Spaltung fördert, Kompromisse und Kooperation verhindert und damit Entwicklung blockiert. Wettbewerb und Konkurrenz ist ein Teil unserer Natur: Erster, größer zu sein, ein triumphales Gefühl, stärkt Autonomie und Selbstwertgefühl. Und Bindung, Zusammenarbeit, Fürsorge ist auch ein Teil unserer Natur: ohne den wir uns verloren fühlen und uns und unsere Nachkommen nicht schützen können. Patriarchat und Kapitalismus haben über Jahrhunderte Machtstrukturen geschaffen, die den ‚männlichen’ Anteilen zu viel und den ‚weiblichen Anteilen‘ einen untergeordneten Platz einräumen. Der Konflikt um die Gleichberechtigung hat in jeder Epoche seine eigenen Arenen. Nach dem 2. Weltkrieg haben wenige mutige Frauen die Gleichberechtigung ins deutsche Grundgesetz verhandelt, in den 60er Jahren hat z. B. Petra Kelly weltweit für Menschen- und Frauenrechte gekämpft, usw.
Es hat sich total viel verändert, und ich denke nicht, dass es aktuell einen Rückschritt gibt, sondern dass die zunehmende Gleichwertigkeit (Diversity, Gender) für die Machtstrukturen weltweit immer bedrohlicher wird, weil alte Rollen ‚gottgegeben‘ scheinen und Sicherheit versprechen.
Die Widersprüche zwischen den proklamierten Idealen und der Realität, zwischen Schein und Sein wird immer spürbarer. Die Grenzen des Ressourcenverbrauchs und der Ausbeutung von Natur und Menschen, die Grenzen der militärischen und ökonomischen Dominanz, die Grenzen der rechtlich-bürokratischen Regulierung, die Grenzen der Ausbeutung von Frauen im Carebereich sind erreicht/überschritten und fordern zu neuen, anderen Lösungen heraus. Weltweit treten Frauen aus dem Schatten heraus und suchen und beschreiten mit kooperationsfähigen Männern zusammen neue Wege.
Der heutige Zeitgeist ist sehr geprägt von Abwehr und Widerstand – ist das auch mit Weaponized Incompetence gemeint? Ist das eine bewusste Strategie? In der Familie: die Spülmaschine nicht richtig einräumen zu können oder von Geldangelegenheiten nichts zu verstehen, im Unternehmen: Teamsitzungen überflüssig zu finden oder alles über die Beziehungsebene zu diskutieren, in den Medien … der Politik … . Sind kurzfristige Interessen im Spiel, die den unbewussten Anteil (Angst, Verunsicherung) abwehren? Oder die gelernten Verhaltensmuster (Schweigen, nicht über Gefühle sprechen können, sich klein und allein fühlen)?
Wir sind ja hier auf der Suche nach dem, was die Supervision heute prägt und wie sie ihrem Anspruch, gesellschaftlich relevant zu sein, nachkommen kann. Sprichst du in der Supervision solche Fragen an? Nicht im Sinne einer moralischen Bewertung, sondern im Prozess des Verstehens von Fällen, von Konflikten? Setzt das bei SupervisandInnen etwas in Gang?
Liebe Monika!
Ich finde interessant, wie du die von mir genannten Beispiele, wie die strategische Inkompetenz, ebenfalls in privaten als auch beruflichen Zusammenhängen siehst. Denn du hast vollkommen recht – das sind Strukturen, die sich nicht nur in der Familie wiederfinden. Für mich ist es auf jeden Fall eine Strategie, sich so zu verhalten, über das „bewusst“ können wir uns unterhalten. Ich erlebe in Unternehmen häufig ein Ausagieren dieser Inkompetenz. Wird zum Beispiel ein neues Kommunikationsprogramm für Mitarbeitende gewählt (z. B. Messanger über Apps und/oder Desktop-Versionen), gibt es oft jemanden – häufig eher älter – der/die sagt „Das kann ich nicht. Mich müsst ihr anrufen, wenn ihr etwas von mir wollt.“
Aber was heißt das? Heißt das, ich habe Angst etwas falsch zu machen? Ich fühle mich nicht kompetent genug? Ich habe Angst, etwas zu verpassen? Ich mag den direkten Kontakt und möchte gar nicht alles schriftlich machen? Ich befürchte ein höheres Aufkommen an Anfragen, weil ich erlebe, dass schreiben für viele niedrigschwelliger ist als anzurufen? Habe ich das Gefühl, ich möchte mich, vielleicht ein paar Jahre vor der Rente, gar nicht mehr mit neuen Dingen beschäftigen?
All diese Fragen stehen für mich hinter dieser direkten Abwehr. Zunehmend ist so etwas in Supervisionen Thema und ich bin immer bemüht, diese Konflikte in einen größeren Zusammenhang zu bringen. Aber wie bei so vielen Themen, erlebe ich hier einen unterschiedlichen Umgang. Ist die Stimmung allgemein eher gut, und es ist möglich, Dinge zu besprechen und das Gegenüber wahrzunehmen, gelingt es auch, eine unterschiedliche Sozialisation, die Altersstruktur im Team, sonstigen Umgang mit Medien etc. zu besprechen und dadurch ein gegenseitiges Verstehen anzuregen.
Doch stoße ich auch oft erst mal auf Abwehr, die eher aggressiv ausagiert wird. Gerade in der technischen Welt unterscheidet der/die Digital Native sich sehr stark von Älteren. Meiner Erfahrung nach ist vor allem Angst mit Technik und Neuerungen in diesem Bereich eher ein Thema älterer Menschen. Kommt es in der Supervision zu einer Abwertung, wie zum Beispiel „Wer braucht diesen Quatsch, früher haben wir uns auch direkt abgesprochen und es ging gut.“ wird es schwerer, ein konstruktives Miteinander zu fördern und den Konflikt einzubinden in gesellschaftliche Strömungen.
Doch egal, ob es einfach ist oder die Supervisorin/der Supervisor erst über eine weitere Hürde der Abwehr springen muss, halte ich es für sehr wichtig, gesellschaftlich relevante Aspekte immer mitlaufen zu lassen. Denn ein tiefergehendes Verstehen ist für mich nur so möglich. Manchmal finde ich es auch ganz „gemütlich“, mich eher auf der persönlichen Ebene zu bewegen, doch diszipliniere ich mich, größer zu denken.
Ich beobachte dabei, dass mir zum Beispiel häufig Dinge ins Auge fallen, die etwas mit Gleichberechtigung, Familienmodellen, Gender Pay Gap etc. zu tun haben. Andere Bereiche, wenn man sie denn klar abgrenzen kann, sind für mich häufig nicht so hervorstechend.
Dabei finde ich besonders interessant, wie du es einschätzt, dass persönliche Vorlieben bzw. Betroffenheit o. ä. die Beschäftigung mit Themen beeinflusst und inwieweit Supervisor*innen sich da selbst disziplinieren sollten.
Liebe Anna-Lena!
Die strategische Inkompetenz hat vermutlich viel mit der Vermeidung von Verantwortung zu tun, der Angst etwas falsch zu machen, bei Schwächen ertappt zu werden, an einem Fehler schuld zu sein. Hat diese Unsicherheit auch etwas mit der Vereinzelung, Überforderung und zu wenig Gemeinschaftserfahrung zu tun? Vielleicht ist sie auch eine passive Form von Abgrenzung und Selbstschutz?
Dein Beispiel aus der Teamsupervision und die unterschiedlichen Hürden kenne ich auch.
Im besten Fall entwickelt sich die Fähigkeit, über die Gefühle zu sprechen, manchmal gestaltet sich das schwieriger. Ich habe schon oft die Erfahrung gemacht, dass sich Verhärtungen in der Gegeneinander-Stellung durch das Ansprechen eines größeren Kontextes leichter verflüssigen. Manchmal ist das der sozialpolitische, feldbezogene Kontext (z. B. Krankenhausreform, Kürzungen) oder aber auch Dynamiken (Geschlechter, Macht, Krieg und Frieden, AfD, Medien, Demokratie), die die Stimmung auch in der Arbeit beeinflussen. Das Ansprechen entlastet dann die persönliche Ebene (‚es liegt nicht nur an mir‘ oder ‚anderen geht es auch so‘) und die Beziehungsebene (‚der Chef hat andere Probleme‘), auf denen ja viele Konflikte ausgetragen werden. Damit diese größeren Kontexte nicht ausufern, finde ich den konkreten Ausgangspunkt (Fall, Thema) wichtig als Bezugsgröße. Der Einzelfall hat eine eigene Geschichte, im Kontext betrachtet verallgemeinert man Phänomene (Analyse, Statistik) und gewinnt eine weitere Perspektive. Das Verstehen führt dann zu mehr Empathie und man findet eher gemeinsame Ziele, Werte und Interessen. Konkrete Problemlösungen werden im besten Fall leichter, auch die Akzeptanz von Grenzen ist gemeinsam besser zu bewältigen.
Schwierig finde ich, wenn die Verhärtung in der Gegeneinander-Stellung zu Rückzug/Schweigen oder zum Kampf führt, wenn Dialog, gemeinsame Ziele, nicht mal strategische Bündnisse möglich sind. In den Bubbles und Blasen wird ideologisch aufgerüstet und mit viel Moral und Abwertung die Kluft verstärkt. Dieses Phänomen prägt aktuell in der Welt den Zeitgeist. Abschottung, Fremdenfeindlichkeit, Verweigerung zu teilen, autoritäre Ordnung, Antifeminismus sind keine neuen Phänomene. Aber der Rechtsruck seit 2011 (Plattformen, Algorithmen …) hat mit Hass und Desinformation Wut und Angst verstärkt, das Vertrauen in staatliche Institutionen gefährdet und Einfluss auf die Politik gewonnen. Wir sollten denen nicht die Deutungshoheit über Freiheit, Demokratie, Weltoffenheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Gerechtigkeit überlassen. Eine Herausforderung, weil die Gesellschaft darüber neu verhandeln muss und es für jeden eine Frage der eigenen Haltung ist.
In Supervisionen sehe ich öfter den Rückzug (wenig Empathie, Klagen und Vorwürfe, sehr enge Spur der Wahrnehmung, wenig Interesse an der anderen Perspektive, an Hintergründen, Orientierung eher an Erwartungen, am Funktionieren) und auch die ideologische Abwertung der anderen. Ich wundere mich auch oft über die scheinbare Ruhe und das Abwarten, erwarte eher Mut und Kraft für Veränderung. Es gibt aber auch die Sorgen, Fragen, Erklärungsversuche, die durch ein Thema/Fall ausgelöst werden und für die der Raum geöffnet werden muss.
Zunehmend gewinne ich einen Zugang dazu, dass dieses Verhalten wohl auch Ausdruck von Enttäuschung, Angst, Resignation und Überforderung ist. Die Diskrepanz zwischen der idealen und der realen Welt ist so erdrückend, dass die Wahrnehmung der Realität überfordert und abgewehrt werden muss. Erstarrung und Rückzug sind aber keine Lösung, Veränderung nicht aufzuhalten. Meine Haltung ist, dass Begegnung, Austausch, Zugehörigkeit und Meinungsbildung Grundbedürfnisse sind und dass sich der geschützte Ort der Supervision für Erfahrung damit anbietet.
Sich in Teams und Gruppen gemeinsam bei konkreten Problemen der Realität zu stellen, Fakten zu prüfen, Selbstreflexion und Perspektivwechsel zu trainieren, neue Wege zu suchen oder Bewährtes zu verteidigen, verbindet und aktiviert.
Liebe Monika!
Alles, was du schreibst, kann ich sehen und verstehen, doch es löst auch etwas anderes in mir aus – nämlich Druck. Betrachten wir unsere Leitfrage „Was prägt Supervision heute und wie wird sie ihrem Anspruch gesellschaftlich relevant zu sein, gerecht?“, so haben wir im Laufe dieses Textes ganz schön viele große Fässer aufgemacht. Und niemand wird sagen, dass man eins davon in der Supervision nicht braucht und trotzdem finde ich wichtig, dass wir am Ende unseres Austausches auch nochmal darauf gucken, was ist der (kleinste) gemeinsame Nenner. Wo sehen wir Supervision heute und was wird wahrscheinlich – für uns – an Wichtigkeit gewinnen?
Für mich zeichnet Supervision schon immer aus, dass ein sicherer Raum für eine gewisse Zeit zur Verfügung steht und von den Anwesenden gefüllt werden darf. Ich stimme dir zu, dass die Entlastung der persönlichen Ebene dazu führen kann, dass größere Dynamiken erkannt werden. Ich lese vor allem deinen letzten Beitrag so, dass es eigentlich unumgänglich ist, dass der Supervisor/die Supervisorin fähig ist, das große Ganze zu sehen. Es geht um Gesellschaft, Politik, Weltgeschehen etc.
Ich teile deine Einstellung, finde es aber eine neue Herausforderung. Die Schnelligkeit der heutigen Welt, das Tempo der Ereignisse (Wahl Amerika, Ampelkoalition Deutschland etc.), die Aufarbeitung gesellschaftlicher Phänomene – eine unglaublich große Informationsdichte. Ich weiß noch, in meiner Supervisionsausbildung (2017 – 2020) haben wir oft über ein Thema diskutiert, bei dem es sehr unterschiedliche Einstellungen gab: Das Thema Feldkompetenz. Ist es besser, in einem bekannten Bereich erste Erfahrungen als Supervisor*in zu sammeln oder ist es eigentlich egal und man kann „einfach“ mal anfangen. Im Verlaufe unseres Diskurses wird mir klar, dass der Begriff Feldkompetenz auch anders gesehen werden kann. Es geht gar nicht (mehr nur) darum, ob eine Sozialpädagogin nicht am besten in einer Wohngruppe ihre erste Supervision abhält. Es ist viel größer zu denken: Da wir Supervisor*innen uns mit den Menschen in gesellschaftlichen Gefügen beschäftigen, ist es unumgänglich, sich auch damit zu beschäftigen, was in der Welt und der Gesellschaft so los ist. Und ich merke, dass ich diese Formulierung etwas lapidar wähle, weil ich es hoch komplex finde und auch meine/unsere Aussagen anspruchsvoll. Denn das bedeutet etwas: Zu sagen, dass Supervisor*innen sich sowohl mit der eigenen Entwicklung, aber auch mit der Entwicklung von Phänomenen, Politik und vielem mehr auskennen sollte/müssen, damit die Supervision ihre gesellschaftliche Relevanz festigt und behält.
Liebe Anna-Lena!
Puh – den Druck, den du beschreibst, kann ich spüren.
Die Anforderung, in größeren Kontexten zu denken, sollte aber kein zusätzlicher Anspruch zu all den schon vorhandenen Erwartungen und Normen sein, denen man sich auch noch anpassen müsste. Ich denke, es geht um einen Paradigmenwechsel, um die Befreiung von der Vorstellung, zu wissen wie es geht, von der scheinbaren Sicherheit und den Scheinwelten, die Schutz vor all den Gefahren versprechen und von dem Anspruch, alles alleine hinzukriegen und richtig zu machen. Eine Befreiung, die Energie freisetzt für den Umgang mit der Unsicherheit und für die Suche nach Neuem. Das ist auch sehr persönlich gemeint, es ist die Freiheit, selbst zu denken und eigene (immer begrenzte) Antworten auf die Welt (Weltanschauung) zu finden und dem Leben zu vertrauen. Sich im Diskurs und im Bündnis mit anderen auf die Suche nach Antworten zu machen und Verantwortung zu übernehmen. Ich finde, das gilt auch für den privaten Bereich (Erziehung, Umgang mit Ressourcen…)
Mir ist in unserem Dialog bewusst geworden, wie unterschiedlich junge und ältere Menschen die Welt wahrnehmen und erleben. Wir Älteren haben früh gelernt, die Verhältnisse in Frage zu stellen und haben darüber Solidarität und Gemeinschaft erfahren. Wir wollten und haben viel Neues gemacht. Aber – wir haben aufgehört, die Verhältnisse radikal in Frage zu stellen, uns gegen die Entwicklungen zu stemmen und Anpassung vorgelebt. Jetzt ist die Enttäuschung riesengroß, wir wollten es doch besser machen.
Wie konnte das passieren? Jüngere haben gelernt, sich an die Verhältnisse anzupassen und sind nun herausgefordert, alles in Frage zu stellen und zu verändern. Dabei sind in der heutigen Lebenswelt ganz andere Voraussetzungen und Ressourcen vorhanden: Zugang zu Informationen, Möglichkeiten der Vernetzung, Freiheit und Vielfalt, selbstbewusster Umgang mit Grenzen und Selbstfürsorge, positive familiäre Bindung (auch zur Elterngeneration) usw.
Mit gegenseitigem Respekt für die Unterschiede könnte gemeinsam viel Energie freigesetzt werden für die Zukunft. Dazu gehört die Bereitschaft der Älteren, eigene Maßstäbe, Erfahrungen zu reflektieren und nur dosiert einzubringen, loszulassen aber nicht einfach in Rückzug, sondern mit in die Verantwortung zu gehen. Für die Jüngeren heißt das, sich von dem Anpassungsdruck und von scheinbar sicheren Zugehörigkeiten zu befreien, ihre Ressourcen zu nutzen, Verantwortung zu übernehmen, neue Maßstäbe zu entwickeln, neue Sicherheiten zu gewinnen. Gemeinsam ist für uns alle, Zuversicht für die Zukunft zu behalten bzw. wieder zu gewinnen und dem Prozess, dem Leben und den Nachfolgenden zu vertrauen.
Du hast ja die Frage aufgeworfen, welche Kompetenzen Supervisor*innen brauchen, um dem Anspruch auf das Mitdenken größerer Kontexte gerecht zu werden.
Im Bereich ‚Selbsterfahrung‘ würde Emanzipation sich neben den biografischen Erfahrungen auch um die Freiheit des Selberdenkens und der eigenen Weltsicht drehen. Im Bereich ‚Gruppendynamik‘ würde Beziehungsklärung, Konfliktklärung die Spiegelungen von gesellschaftlichen und politischen Prozessen einbeziehen und Aushandlungsprozesse auch in Bezug zu aktuellen gesellschaftspolitischen Vorgängen als Teil der Demokratie verstehen. Im Bereich ‚Organisation‘ wäre neben Rollen- und Strukturfragen auch Aufklärung von Interessen, Vernetzung, Macht, Finanzen gefragt.
In der fallbezogenen Supervision gehören zur Feldkompetenz in jedem Arbeitsfeld die gesellschaftliche Aufgabe, Bedeutung, Status, Ausstattung, die politischen Hintergründe und Rahmenbedingungen zur Aufklärung dazu.
Ich denke die gesellschaftliche Verantwortung in der Supervision und Supervisionsausbildung, den größeren Blick also nicht als zusätzliche Säule des Konzeptes, obwohl das in der Ausbildung durchaus ein zusätzlicher Workshop sein könnte, sondern als integrierter Bestandteil der supervisorischen Haltung. Realitätsbezug statt Flucht in Scheinwelten, In-Frage-Stellung statt Anpassung, Beziehung, um sprech- und bündnisfähig zu sein, Humanität und Gemeinwohl vor Kapitalinteressen – das finde ich die wesentlichen Ziele.
Wie die Supervisionsausbildung in Zukunft aussieht, müssen künftige Ausbilder*innen entwickeln. Informationsverarbeitung, Lernmethoden werden sich verändern. Gesellschaft und Arbeitswelt und damit der Beratungsbedarf werden sich verändern. Personelle und finanzielle Ressourcen werden sich verändern. Ich beobachte diese Prozesse mit Interesse und Respekt, bringe meine Gedanken ein, wenn ich gefragt werde und bin froh, nicht mehr zuständig zu sein.
Liebe Anna-Lena, vielen Dank für diesen Dialog. Ich bin froh, dich gefragt zu haben und freue mich, dass wir uns verständigen konnten. Ich habe diesen Text sehr gerne mit dir geschrieben.
Liebe Monika,
ich freue mich besonders, dass wir den Fokus darauflegen konnten, was für ein Potenzial in der Verbindung von „Jung“ und „Alt“ liegt und dass eine Mischung aus Erfahrung, Enthusiasmus, Kritik und Wohlwollen uns zu einem tieferen Verständnis führen kann. Auch ich habe diesen Text sehr gern mit dir geschrieben und freue mich, dass du mich gefragt hast.
Anna-Lena Thies
Anna-Lena Thies (*1985) hat einen Magister in Europ. Ethnologie, Deutsch und Religionswissenschaft. Sie arbeitet freiberuflich als Supervisorin (DGSv) und angestellt an der Universität Münster als Projektleitung eines Projektes zur Weiterbildung von jungen Allgemeinmediziner*innen. www.thies-supervision.de
Monika Möller
Monika Möller, Greven, ich bin seit 1988 selbständig als Supervisorin, war vorher hauptberuflich in der Erwachsenenbildung tätig. Ich wohne und arbeite in Greven. Von 1992–2007 Ehrenamt und Vorstandsarbeit in der DGSv.