Balance zwischen Beständigkeit und Wandel

In der heutigen Gesellschaft, die durch rasante Veränderungen, Unsicherheiten und Krisensituationen geprägt ist, wird die persönliche Reflexion immer wichtiger. Der Prozess der Reflexion ermöglicht es jedem Einzelnen, sich mit den eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen, um persönliche Ressourcen bewusst zu aktivieren und Herausforderungen besser zu bewältigen. In diesem Kontext spielt die Supervision eine entscheidende Rolle. Supervision bietet eine strukturierte Möglichkeit, um professionelle Praktiken zu hinterfragen, neue Perspektiven zu gewinnen, emotionale Belastungen zu bearbeiten und das eigene Handeln bewusster zu gestalten. So wird nicht nur das individuelle Wohlbefinden gestärkt, sondern auch die Gesamtqualität der Arbeit verbessert. Darüber hinaus fördert Supervision nicht nur die persönliche und fachliche Weiterentwicklung, sondern leistet einen wertvollen Beitrag zur Gestaltung einer gerechteren und inklusiveren Gemeinschaft, indem sie die sensiblen Themen und Herausforderungen unserer Zeit in den Fokus rückt.

Damit ein Supervisionsprozess erfolgreich umgesetzt werden kann, ist es unerlässlich, einen sicheren Beziehungsraum zu schaffen. Ein solcher Raum ermöglicht es den Beteiligten, offen und vertrauensvoll zu kommunizieren und die oft komplexen und sensiblen Themen der Supervision konstruktiv zu bearbeiten. Dieser sichere Beziehungsraum bildet die Grundlage für eine tragfähige und produktive Zusammenarbeit zwischen SupervisorInnen und SupervisandInnen und stellt sicher, dass der Supervisionsprozess effektiv und zielgerichtet verläuft (vgl. Leuschner, 1988, S. 8ff.).

Um die Tragfähigkeit und Sicherheit dieses Raums zu gewährleisten, bedarf es einer kontinuierlichen Reflexion seitens der SupervisorInnen. Die eigene Reflexion in verschiedenen Reflexionsräumen bildet die Grundlage für einen bewussten Umgang mit Unsicherheiten und Krisen. Nur durch diese reflektierte Haltung sind SupervisorInnen in der Lage, den gesellschaftlichen Wandel adäquat zu begleiten und SupervisandInnen in Krisenzeiten umfassend zu unterstützen.

Dieser Artikel basiert auf den Erkenntnissen meiner Masterarbeit „Der supervisorische Beziehungsraum: Eine Analyse der Einflussfaktoren in Anfangsszenen, eine explorative Forschungsarbeit“ im Rahmen meines weiterbildenden Masterstudiengangs Supervision und Beratung an der Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft. Allerdings beschränke ich mich in diesem Artikel ausschließlich auf die Bedeutung des Beziehungsraums und die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Reflexion von SupervisorInnen.

Der Beziehungsraum umfasst die formale Struktur, die inhaltlichen Themen und Ziele sowie die persönliche Beziehungsebene zwischen SupervisorInnen und SupervisandInnen. Bereits in der Vergangenheit wurde die Beziehung zwischen den Beteiligten als eine Art Kunst verstanden, bei der einerseits eine Gegenseitigkeitsbeziehung vermieden werden sollte, andererseits jedoch Elemente der Gegenseitigkeit wie Honorierung und Kontrakt ausgeglichen werden müssen, um die Autonomie der SupervisandInnen zu gewährleisten (vgl. Lehmenkühler-Leuschner, 1993, S. 26). Das gelingende Arbeitsbündnis erfordert eine beidseitige Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen und den Beziehungsraum gemeinsam zu gestalten. Kontakt, Vertrauen und gegenseitige Anerkennung sind dabei zentrale Elemente (vgl. Gröning 2010, S. 55). Das Arbeitsbündnis supervisorischer Praxis entsteht in einem vertrauensvollen interaktionellen Rahmen, der weit über alltägliche Wechselseitigkeitserwartungen und Beziehungen hinausgeht.

Dieser Raum wird durch moraltheoretische und philosophische Ansätze des Verhandelns, des Diskurses und der demokratischen Verständigung geprägt (vgl. ebd). Diese Ansätze fördern eine Atmosphäre der Transparenz und des gegenseitigen Respekts, die Stabilität und Vertrauen schafft. Indem ethische Prinzipien und offene Kommunikation betont werden, wird sichergestellt, dass Entscheidungen und Handlungen auf gemeinsamen Werten basieren. SupervisorInnen navigieren ein außerordentlich schwieriges Terrain in ihrer Beziehung zu den SupervisandInnen. Die Beziehungen sind oft komplex, nicht rein zweckrational, schwer überschaubar und stets herausfordernd. Auch Gefühle von Fremdheit und Übertragungen sind wichtige Aspekte der Beziehungsgestaltung (vgl. ebd). Diese gilt es für SupervisorInnen immer wieder in den verschiedenen Reflexionsräumen zu reflektieren; andernfalls wird die Bearbeitung von Konflikten erschwert und die Kommunikation im Prozess behindert. Ein Beziehungsraum, der diese Aspekte berücksichtigt, kann in Zeiten von gesellschaftlichen Krisen und Unsicherheiten als stabilisierendes Element fungieren.

In der Supervision spielen sowohl latente als auch manifeste Sinnstrukturen eine zentrale Rolle. Diese Strukturen beeinflussen die Art und Weise, wie SupervisorInnen und SupervisandInnen interagieren und den Supervisionsprozess gestalten. Ein vertieftes Verständnis beider Strukturen ist entscheidend für einen erfolgreichen Prozess, da sie die Grundlage für die Reflexion und das Bearbeiten von Beziehungsthemen bilden (vgl. Kaiser, 2024, S. 7ff.).

Manifeste Sinnstrukturen in der Supervision sind konkret und klar formuliert. Sie umfassen explizite Ziele, die während der Kontraktvereinbarung festgelegt werden, offensichtliche Erwartungen und Bedürfnisse der SupervisandInnen, sowie klare Vereinbarungen über den Ablauf und die Rahmenbedingungen des Prozesses. Die manifesten Sinnstrukturen helfen dabei, den Fokus zu halten, die Zusammenarbeit zwischen SupervisorInnen und SupervisandInnen zu strukturieren und eine gemeinsame Basis für die Arbeit zu schaffen. Indem sie transparent und nachvollziehbar sind, schaffen sie Verbindlichkeit und Klarheit in der Supervision. Sie ermöglichen es den Beteiligten, ihre Erwartungen und Bedürfnisse offen zu kommunizieren und sicherzustellen, dass der supervisorische Prozess auf die jeweiligen Ziele und Anliegen ausgerichtet ist (vgl. ebd.).

Latente Sinnstrukturen in der Supervision beziehen sich auf die unbewussten oder verborgenen Bedeutungen, Motive und Dynamiken, die in den Interaktionen zwischen SupervisorInnen und SupervisandInnen oder innerhalb des supervisorischen Settings vorhanden sind. Diese können sich auf unbewusste Übertragungen und Gegenübertragungen, tief verwurzelte Glaubenssätze, ungelöste Konflikte oder emotionale Blockaden beziehen. Latente Sinnstrukturen können dazu führen, dass bestimmte Verhaltensweisen, Reaktionen oder Kommunikationsmuster in der Supervision auftreten, die auf der Oberfläche nicht offensichtlich sind. Diese unsichtbaren Aspekte beeinflussen das eigene Rollenverständnis der Beteiligten sowie die Ziele und Erwartungen, die sie an den Prozess haben. Zeitweise fehlt es den Beteiligten an Bewusstsein für diese Aspekte. Daher ist es umso wichtiger, latente Sinnstrukturen im Beziehungsprozess zwischen SupervisorInnen und SupervisandInnen zu berücksichtigen. Indem diese verborgenen Bedeutungen und Dynamiken erkannt und reflektiert werden, wird eine tiefere Auseinandersetzung ermöglicht.

Diese beiden Dimensionen – die manifesten und die latenten Sinnstrukturen – spielen eine wesentliche Rolle in der Gestaltung eines tragfähigen und sicheren supervisorischen Beziehungsraums. Kontinuierliche Reflexion und ein bewusstes Verständnis beider Strukturen sind erforderlich, um die Supervision effektiv und konstruktiv zu gestalten(vgl. ebd.).

Es wird deutlich, dass sowohl bewusste als auch unbewusste Wahrnehmungen in den Supervisionsprozess einfließen und sowohl den Beziehungsraum als auch das Arbeitsbündnis entscheidend beeinflussen können. Auch erfahrene SupervisorInnen bleiben nicht von den unbewussten Wahrnehmungen verschont, die die Dynamik der Supervision als Szene beeinflussen. Durch kontinuierliche Reflexion und Analyse können SupervisorInnen zusätzliche Erkenntnisse gewinnen und ihre Gedanken und Emotionen besser verstehen. Dieser fortwährende Prozess des Verstehens ermöglicht den SupervisorInnen sich selbst als auch andere zu verstehen und persönlich zu wachsen. Einige Fragen, die sich SupervsisorInnen in jedem Prozess stellen sollten:

  • Wie kann ich den Kontrakt sicherstellen, in die vertrauensvolle Beziehung einsteigen und professionell handeln?
  • Was sind meine bewussten Wahrnehmungs-, Interaktions- und Handlungsmuster und haben die sich in der letzten Zeit verändert?
  • Welche Auswirkungen haben meine eigenen Emotionen und Reaktionen auf meine supervisorische Arbeit?
  • Wie kann ich meine eigenen Zuschreibungen und Übertragungen identifizieren und als SupervisorIn angemessen darauf reagieren?
  • Inwieweit beeinflussen meine eigenen Werte und Überzeugungen meine Arbeit als SupervisorIn?
  • Wie kann ich meine persönlichen Eigenschaften effektiv nutzen, um den Beziehungsraum zu gestalten? (vgl. Kaiser, 2024, S. 71)

Insbesondere in Krisenzeiten erweist sich die Fähigkeit, zwischen einem geschützten Raum und Wandel zu balancieren, als Schlüsselfähigkeit. Ein bewusster Umgang mit den dynamischen Aspekten der Beziehung, der durch kontinuierliche Reflexion erlernt wird, befähigt SupervisorInnen, die psychodynamischen Faktoren der Beziehung konstruktiv zu nutzen. So wird eine unterstützende Entwicklungsumgebung geschaffen, die sowohl den individuellen als auch den gemeinsamen Bedürfnissen der Beteiligten gerecht wird.

Diese Balance ermöglicht es, den Herausforderungen, die durch gesellschaftliche Veränderungen und individuelle Krisen entstehen, wirksam zu begegnen. SupervisorInnen, die diese Fähigkeit beherrschen, können ein stabiles und zugleich flexibles Umfeld schaffen, das es den SupervisandInnen erlaubt, ihre beruflichen und persönlichen Ressourcen zu entfalten. Dadurch wird nicht nur das Wohlbefinden der Einzelnen gefördert, sondern auch die Resilienz der gesamten Gruppe gestärkt. Eine solche Entwicklungsumgebung fördert die nachhaltige Bewältigung von Konflikten und die Förderung von Wachstum und Innovation innerhalb der Supervisionsbeziehung.

Letztlich trägt die Fähigkeit, eine unterstützende und reflektierte Supervisionspraxis zu gewährleisten, wesentlich dazu bei, dass SupervisorInnen und SupervisandInnen gemeinsam die Herausforderungen unserer Zeit meistern und gestärkt aus ihnen hervorgehen können. Die kontinuierliche Reflexion und Anpassung der eigenen Praxis sind hierbei entscheidend, um den Wandel proaktiv zu gestalten und den Beziehungsraum als stabilisierenden und entwicklungsfördernden Faktor zu nutzen.

Literatur:

Gröning, K. (2010): Studienbrief Reflexive Supervision. Bielefeld

Kaiser, C. (2024): Der supervisorische Beziehungsraum: Eine Analyse der Einflussfaktoren in Anfangsszenen, eine explorative Forschungsarbeit, Universität Bielefeld

Lehmenkühler-Leuschner, A. (1993): Professionelles Handeln und Supervision. In: Forum Supervision, Heft 2, S. 8–35.

Leuschner, G. (1988): Fragen zum gesellschaftlichen Standort von Supervision, in Kersting u. a. (Hg) Diagnose und Intervention in Supervisionsprozessen, Aachen S. 8–22

Christine Kaiser

Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (B.A.) mit langjähriger Erfahrung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Freiberufliche Supervisorin (DGSv) (M.A.) mit eigener Praxis in Paderborn. www.supervision-ck.de

Der supervisorische Beziehungsraum
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