Die Anfrage einer der Redakteurinnen, einer langjährigen Freundin von mir, zu Orientierung und Ermunterung in Krisenzeiten zu schreiben, hat mich zunächst erschreckt, weil in diesen bedrückenden Zeiten, kaum etwas schwieriger ist, als anderen Mut zu machen.

Ohne Selbstanklage und Selbstmitleid stelle ich nüchtern fest: Meine Generation – ich bin Jahrgang 1943 – hat ihre Chancen nicht genutzt. Für uns war der große Krieg vorbei, das Nachkriegselend überwunden und die Welt stand offen. Mit der 68er Bewegung fingen wir an, den Muff der 1950er und 1960er Jahre, nicht nur unter den Talaren der Professoren, sondern auch in den Frauen- und Familienbildern der Gesellschaft weg zu blasen, die Nazivergangenheit aufzuarbeiten, neue Freiheiten in Kultur und Lebensformen zu erproben. Freiheit schien ohne Ordnung möglich. Und wir hatten, gut zwanzig Jahre später, eine zweite Chance. Mit der Wiedervereinigung sollte Freiheit nicht nur für die Menschen in der DDR, sondern für weitere etwa 80 Millionen Menschen sowie eine dauerhafte Sicherheits- und Friedensordnung in Europa, möglich werden.

Wir haben viel erreicht, aber Europa zu keinem dauerhaft besseren Ort gemacht. Den Terrorismus, der sich bald als Fratze der Freiheit erwies, hatten wir nicht auf dem Schirm; die Verletzungen der Wiedervereinigung ebenso wie die Verwüstungen, die fünfzig Jahre totalitärer Herrschaft angerichtet hatten, verbunden mit der Schocktherapie eines neoliberalen Kapitalismus, nicht richtig eingeschätzt. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt, längst vor der Besetzung der Krim durch Russland und dem Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine. Ganz davon zu schweigen, dass wir die drohende Umwelt- und Klimakatastrophe vernachlässigt haben, die seit dem ersten Bericht an den Club of Rome 1972, allen hätte bewusst sein müssen. Die Entwicklung der EU und die Globalisierung brachte nicht nur offene Grenzen in Europa, sondern mit Kriegen und Klimawandel auch neue Migrations- und Fluchtbewegungen, die über uns hereingebrochen sind, ohne dass wir einen gesellschaftlichen Konsens über humanitäre Asylpolitik und erfahrene Belastungsgrenzen gefunden hätten. Das sind bis heute schwärende Wunden, die unsere Gesellschaft belasten, bei vielen Menschen Ängste auslösen und in ganz Europa eine Quelle des erschreckenden Rechtsextremismus sind.

Die Generationen, die heute aktiv im Leben stehen, haben es daher beruflich und persönlich meines Erachtens ungleich schwerer als meine Generation in diesem Lebensabschnitt. Aber unser Bewusstsein davon, was ein besseres, was gutes Leben ist, ist ja weder bei mir noch bei Ihnen als Leserinnen und Lesern abhandengekommen. Gerade dann, wenn die Situation schwieriger wird, ist Handeln dringlicher. Statt Resignation ist Resilienz gefragt.

Aus meiner Berufs- und Lebenserfahrung sind mir folgende Punkte wichtig:

  • In meiner katholischen Lebensphase, ebenso wie in meiner ersten Berufsphase, war mir Parteilichkeit wichtig. Parteilichkeit als Botschaft des Evangeliums, als Theologie der Befreiung für Arme und Unterdrückte, als gewerkschaftliche Solidarität.
    Der Glaube ist weggefallen, die Botschaft ist geblieben, die biblischen Bilder der Parteilichkeit, vom Magnifikat über die Bergpredigt bis hin zum Gerichtsgleichnis bleiben gültig, weil sie Bilder eines besseren Lebens sind, deren Verwirklichung geboten ist. Solange es Arme und Reiche, besser und schlechter Gestellte gibt, ist die Parteilichkeit solidarische Pflicht – nicht nur in politischen Programmen, sondern im alltäglichen Tun, wo immer es möglich ist. Wir sind alles in allem ein reiches Land, ein reicher Kontinent. Wir können im Großen wie im Kleinen umverteilen – Zeit und Geld. Für entsprechende politische Programme gilt es unverändert zu streiten, das alltägliche solidarische Tun hat jeder selbst in der Hand. Und dass es Millionen Menschen gibt, die das täglich beweisen, schafft Zuversicht. Die Acht- und Rücksichtslosigkeit haben in unserer Gesellschaft zugenommen, die Rücksicht und Achtsamkeit sind aber nicht verschwunden. Das macht Mut und fordert zum Handeln auf.
  • Aus meiner späteren Berufstätigkeit nehme ich mit, dass es wichtig ist, Überzeugungen zu haben, sie zu vertreten, aber auch dialogfähig zu bleiben.
    Anstelle des Streits und heftiger Kontroversen, auch harter und handfester Proteste, die natürlich zu einer demokratischen Gesellschaft gehören, ist cancel culture und lautes Brüllen statt besserer Argumente getreten. Wir sind ein freies Land, jeder kann seine Meinung sagen und soll sie auch sagen können, solange es nicht rechtswidrige Rede oder Aufforderung zu rechtswidrigem Handeln ist. Einzutreten für die Freiheit, seine Meinung äußern zu können, deswegen nicht an Leib und Leben bedroht zu werden, ist heute wichtiger denn je. Es gilt all denen entgegenzutreten, die immer häufiger öffentlich reklamieren, man dürfe nicht alles sagen – aber dadurch, dass sie sich damit Gehör verschaffen, genau das Gegenteil belegen. Täter versuchen sich als Opfer zu präsentieren. Die Freiheit der Meinung gegen Hass und Hetze gilt es als kostbares Gut einer freien Gesellschaft nachhaltig zu verteidigen.
  • Heute bin ich ehrenamtlich tätig. Daraus habe ich gelernt, dass kleine Schritte und der Umgang mit Kindern wichtig sind.
    Große Träume und begeisternde Visionen behalten ihren Wert, auch wenn es in einer brüchigen Zeit schwieriger geworden ist, sie zu formulieren. Aber sie sind Schall und Rauch, wenn sie nicht durch kleine Schritte im Alltag begleitet und unterfüttert werden. Es gibt abertausende Menschen, für die kleine Schritte für ein besseres Leben tagtäglich selbstverständlich sind. Das macht Mut und gibt Zuversicht. Dies gilt es zu stärken und selbst zu praktizieren. Alles, was wir mit Kindern und für Kinder tun, ist das Wichtigste. Denn sie sind die Zukunft. Mit ihnen und für sie können wir Wege zu einem guten Leben ebnen.

Impulse und Erfahrungen mögen wichtig sein. Jede Generation muss ihr Schicksal jedoch selbst in die Hand nehmen. Sie darf sich dabei das Wissen darum, was gute Arbeit und gutes Leben ist, nicht nehmen lassen. Sie soll sich Ziele setzen, die durchaus hochtrabend und anspruchsvoll sein können. Sie soll aber das Gute, das es gibt und tagtäglich verwirklicht wird, nicht geringschätzen und die alltäglichen kleinen Schritte wertschätzen und praktizieren.

Ich bin auf einen Text gestoßen, der ermutigt. Antoine de Saint-Exupéry hat ein Gedicht geschaffen, das auch als Selbstermutigung und nicht als Gebet verstanden werden kann. Es ist gültig, auch wenn man die Skepsis gegenüber Träumen nicht teilt:

„Ich bitte nicht um Wunder und Visionen, Herr,
sondern um die Kraft für den Alltag.
Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte.
Mach mich findig und erfinderisch, um im täglichen Vielerlei und Allerlei rechtzeitig
meine Erkenntnisse und Erfahrungen zu notieren, von denen ich betroffen bin.
Mach mich griffsicher in der richtigen Zeiteinteilung.
Schenke mir das Fingerspitzengefühl,
um herauszufinden, was erstrangig und was zweitrangig ist.
Lass mich erkennen, dass Träume nicht weiterhelfen,
weder über die Vergangenheit noch über die Zukunft.
Hilf mir, das Nächste so gut wie möglich zu tun und
die jetzige Stunde als die wichtigste zu erkennen.
Bewahre mich vor dem naiven Glauben, es müsste im Leben alles glatt gehen.
Schenke mir die nüchterne Erkenntnis,
dass Schwierigkeiten, Niederlagen, Misserfolge, Rückschläge
eine selbstverständliche Zugabe zum Leben sind, durch die wir wachsen und reifen.
Erinnere mich daran, dass das Herz oft gegen den Verstand streikt.
Schick mir im rechten Augenblick jemand,
der den Mut hat, mir die Wahrheit in Liebe zu sagen.
Du weißt, wie sehr wir der Freundschaft bedürfen.
Gib, dass ich diesem schönsten, schwierigsten, riskantesten und zartesten
Geschenk des Lebens gewachsen bin.
Verleihe mir die nötige Phantasie, im rechten Augenblick ein Päckchen Güte,
mit oder ohne Worte, an der richtigen Stelle abzugeben.
Mach aus mir einen Menschen, der einem Schiff mit Tiefgang gleicht,
um auch die zu erreichen, die «unten» sind.
Bewahre mich vor der Angst, ich könnte das Leben versäumen.
Gib mir nicht, was ich mir wünsche, sondern was ich brauche.
Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte!“

27. November 2024

Dr. theol. Klaus Lang

Als katholischer Theologe beim Dachverband der katholischen Studenten- und Hochschulgemeinden, dann Gewerkschaftssekretär und zuletzt Personalvorstand. Aktuell in der Kulturarbeit mit Kindern und Jugendlichen tätig und Kommentator gesellschaftlicher Entwicklungen.

Resilienz statt Resignation – Ermutigung in Krisenzeiten
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