In den Erfahrungsfeldern, die hier vorgestellt werden, steht im Zentrum das TUN als Vorgehensweise und Voraussetzung zum VERSTEHEN, zum VERLANGSAMEN und begleitet von NACHDENKLICHKEIT, auch und vor allem in krisenhaften Zeiten und Situationen, die es ja nicht erst seit gestern gibt, mit ihren Handlungsaufforderungen, aber auch Resignationserfahrungen.
An drei Feldern ist die Entwicklung von TUN-Strategien dargestellt als Beispiel zum Umgang mit dem unvermeidlichen Gang ins Risiko. Dabei wird auch die Notwendigkeit deutlich, die Richtung des Handelns permanent zu überprüfen. TUN und REFLEXION gehören somit untrennbar zusammen.
- Erfahrungsfeld Lernen: FELDFORSCHUNG, ein Beispiel aus dem Supervisionsausbildungskontext, wo dem Verstehen einer Organisation nachgegangen wird, passend zu dem Satz nach Karl Weick[1], wonach eine Organisation eine Sammlung von Entscheidungen ist, die nach Problemen suchen, von Lösungen, die nach Fragen suchen und von Entscheidern, die nach Arbeit suchen.
- Erfahrungsfeld Kreation: KLANGZEIT – Klangmaschinen und deren handwerkliche Entwicklung, Einsichten in Herstellungsprozesse und dies im Kontext technischer Aspekte von Zeit und des persönlichen Erlebens des Faktors Zeit im handwerklich-künstlerischen Alltag.
- Erfahrungsfeld Politik: WORÜBER WIR REDEN WÜRDEN, WENN WIR REDEN WÜRDEN – Versuche zur Krisenbewältigung durch Kommunikation und deren Konzeption im Umfeld des Braunkohlekonfliktes im Hambacher Forst.
I. Erfahrungsfeld Lernen: FELDFORSCHUNG
Es war für die Ausbildungsteilnehmer:innen nicht leicht, neben der alltäglichen Arbeit und dem, was sonst noch so alles ansteht, dieser Aufgabe Form und Inhalt zu geben, die sie aus der Ausbildungswoche mitgenommen hatten: eine Organisation zu erforschen und eine Fragestellung dafür zu entwickeln, Zugang und Erlaubnis zu finden, für Vertrauen zu sorgen, ein passendes methodisches Konzept zu entwickeln.
Bereits die Wahl der Organisation, die Thema sein sollte, war der Startpunkt für einen dynamischen Prozess, der erst mit der Auswertung in der Kursgruppe Wochen später zum Abschluss kommen würde. Alle 16 Teilnehmenden des Ausbildungskurses waren ja nicht nur als Personen anwesend, sondern repräsentierten gleichzeitig eine Organisation, den sozialen, ökonomischen, politischen Hintergrund ihres Arbeitsplatzes. Da gab es die Einrichtungsleiterin neben dem Lehrer, die Krankenschwester neben dem Personaler einer Warenhauskette, das Panorama war bunt und herausfordernd. Es wurde gewählt und man wurde gewählt. Man geht also auf eine Organisation zu, für die der gewählte Kollege, die Kollegin, steht und man bietet sein eigenes Feld als Forschungsobjekt an.
Dieser Augenblick bereits brachte eine Lawine an Fragen ins Rollen: Auf was lasse ich mich da ein, auf wen lasse ich mich ein? Was kann ich erwarten und was wird von mir möglicherweise erwartet? Welchen Vorbehalten und vorgefassten Annahmen sehe ich mich ausgesetzt? – und dies gleichzeitig in beiden Rollen. Es geht um Vertrauen und um sich trauen.
Das TUN gestaltet sich recht unterschiedlich und bewegt sich im Aufspüren von Narrativen einerseits, also dem Suchen von Bedeutungen, Annahmen und Verhaltensweisen,
zum anderen eher am Sammeln von Daten und Fakten orientiert, die geeignet sind, den Zustand der Organisation zu erfassen, also ganz nach persönlicher Neigung und der Entscheidung zu einer bestimmten methodischen Vorgehensweise der Forschenden.
In diesem Kontext wird die Frage nach der Positionierung der Forschenden hinsichtlich Nähe und Distanz zentral. Nähe impliziert ein tiefes Eintauchen in die Abläufe der Organisation, wobei die Forschenden aktiv an einem irgendwie gearteten Geschehen teilnehmen. Distanz hingegen ermöglicht eine beobachtende Perspektive von außen, die sich stärker auf die Analyse von Daten und Texten konzentrieren kann. Auch eine Synthese beider Positionen ist denkbar und gleicht einer Bewegung im Wechsel zwischen diesen beiden Konzepten.
In dieser aktiven Phase der Kontaktaufnahme und -gestaltung, wie immer diese sich auch entwickelt haben mag, kommen erste Ideen dazu ins Spiel, was aus diesem Erkundungsprojekt in die Kursgruppe zurück transportiert werden kann.
Die Auswertungsphase der Feldforschung in der Ausbildungsgruppe bietet eine besondere Gelegenheit, nicht nur die Ergebnisse der Forschung darzustellen, sondern auch den Reflexionsprozess und die dynamischen interpersonalen Prozesse in der Kursgruppe einzubinden. Die Integration von Inszenierungselementen und die Möglichkeit zur Rückspiegelung von Übertragungsphänomenen legen ein Arbeitsvorgehen nahe, das folgende Aspekte berücksichtigt.
Anstatt die Ergebnisse nur in Form eines klassischen Vortrags zu präsentieren, könnte der/die Forschende die Daten visualisieren und in eine Inszenierung einbetten, z. B. durch Rollenspiel, Theaterinszenierung oder Simulation, indem bestimmte Szenen oder Interaktionen nachgestellt werden, die in der Feldforschung beobachtet wurden.
Beispiel: Wenn die Forschung beispielsweise Machtverhältnisse oder Teamdynamiken in einer Organisation untersucht hat, könnten Teilnehmer:innen unterschiedliche Rollen einnehmen (z. B. als Führungskräfte, Mitarbeiter, Kunden), um auf typische Interaktionen aus den Rollen heraus zu reagieren. Dies ermöglicht es der Gruppe, die Dynamiken auf einer tieferen emotionalen Ebene zu erfassen und zu reflektieren.
In einer folgenden Phase hat die Kursgruppe die Möglichkeit, dem/der Forschenden Rückmeldung zu geben. Dies kann in Form einer strukturierten Feedback-Runde geschehen, in der die Teilnehmenden sowohl auf den Inhalt der Präsentation als auch auf die emotionale Resonanz eingehen. Dies schließt die Frage mit ein, welche Dynamiken, die während der Forschung beobachtet wurden, für die Teilnehmer emotional spürbar geworden sind.
Die Gruppe kann mithilfe von Szenen- oder Aufstellungsmethoden (z. B. systemische Aufstellungen) bestimmte emotionale oder interpersonelle Spannungen, die während der Präsentation sichtbar wurden, transparent machen. So können Übertragungsprozesse zwischen Forschenden, Teilnehmern und den Forschungsobjekten sichtbar gemacht werden, die über rein kognitive Reflexion hinausgehen.
Hier geht es darum, zu verstehen, wie die emotionale Dynamik der Feldforschung möglicherweise unbewusst in den Forschenden übergegangen ist und wie diese sich in der Präsentation und der Rückmeldung zeigt. Um diese Prozesse zu verdeutlichen, können einzelne Teilnehmer:innen gebeten werden, durch körperliche Ausdrucksformen oder Skulpturen bestimmte emotionale Zustände oder Rollen zu verkörpern, die während der Forschung präsent waren.
Der/die Forschende hat die Möglichkeit, zu reflektieren, wie sich seine eigenen Übertragungsprozesse in der Feldforschung gezeigt haben und wie die Rückspiegelung durch die Gruppe seine Perspektive auf die Forschungsergebnisse verändert hat.
Nach der Präsentation, der szenischen Darstellung und der Rückmeldung erfolgt eine Phase der Integration, in der die Gruppe gemeinsam die Erkenntnisse aus der Feldforschung und den emotionalen Prozessen reflektiert. Zum Abschluss könnten die Teilnehmer darüber nachdenken, wie die gewonnenen Erkenntnisse aus der Forschung in ihre eigene Praxis als Supervisor:innen integriert werden können.
Ein wichtiger Teil des Abschlusses stellt das „Debriefing“ dar. Zu Beginn des Projekts hatten beide Protagonisten eine bestimmte Rolle eingenommen – der eine als Feldforscher, der andere als Ermöglicher und Türöffner. Jetzt, da das Projekt endet, ist es wichtig, diese Rollen bewusst zu entflechten. Dies ist entscheidend, um die Beziehung zwischen dem Feldforscher und der Person, die ihre Organisation zur Verfügung gestellt hat, respektvoll und reflektiert abzuschließen. Dabei geht es darum, sowohl die fachlichen als auch die persönlichen Aspekte der Zusammenarbeit zu würdigen und gemeinsam eine klare Trennung herbeizuführen. Diese Reflexionsphase sollte Raum für offene und wertschätzende Kommunikation bieten, um sowohl positive Aspekte als auch Schwierigkeiten zu benennen. Beide Seiten sollten die Möglichkeit haben, über ihre Gefühle während der Zusammenarbeit zu sprechen, auch was als wertvoll oder herausfordernd empfunden wurde.
Der/die Feldforscher:in kann Feedback zur Kooperation der Organisation geben, wie diese auf die Forschung reagiert hat und was ihm/ihr bei der Datenerhebung geholfen oder was behindert hat.
Der Protagonist aus der Organisation könnte rückmelden, wie er die Präsenz des Forschers, der Forscherin erlebt hat und welche Auswirkungen die Forschung auf ihn und die Organisation hatte. Es kann besprochen werden, wie gewonnenen Erkenntnisse in die Organisation übertragen werden können, ohne dass der/die Feldforscher:in weiterhin involviert ist.
Das gut gestaltete Debriefing ermöglicht es beiden Protagonisten, die Beziehung auf respektvolle und reflektierte Weise zu beenden und die emotionale sowie professionelle Bindung klar zu trennen. Der Fokus liegt auf gegenseitiger Wertschätzung, Feedback und einer bewussten Rollenklärung, um eine abgeschlossene Übergabe der Verantwortung sicherzustellen. Dieser Prozess ist einerseits ein formaler Abschluss, aber auch eine Möglichkeit, persönliche und emotionale Themen zu reflektieren und zu lösen.
Auf diese Weise wird deutlich, dass das Handeln in der Feldforschung nicht nur ein Mittel ist, um krisenhafte Entwicklungen zu verstehen und zu bewältigen, sondern auch eine transformative Kraft für die Forschenden selbst entfaltet – indem er/sie durch das unmittelbare Eintauchen in die Realität der Organisation neue Einsichten gewinnt und die eigene Perspektive erweitert. Deutlich wird dabei: Nie kommt man so heraus, wie man hineinging. Auch das gilt es als handelnde Person mit allen damit verbundenen Lernerfahrungen in Kauf zu nehmen.
II. Erfahrungsfeld Kreation: KLANGZEIT – aus dem Tagebuch des Musikmechanikers
Die erste Stunde am Morgen hat etwas ganz Besonderes. Die Stille, das Licht, die Gerüche, das sind die ersten Eindrücke, wenn die Werkstatt aufgeschlossen ist und ein erster Rundgang sich den Arbeiten des Vortages zuwendet. Es ist gut, sich dann noch Zeit zu lassen, und diesen ersten Eindrücken Raum zu geben. Einatmen, riechen, ausatmen, schauen, aufmerksam erste Gedanken registrieren, diejenigen, die sich vordrängen, müssen sich noch etwas gedulden.
Seltsame Dinge passieren hier, Apparate entstehen, klingende Maschinen, die sich von selbst ihre Musik schaffen, Töne aus Pfeifen, Schläge wie von Glocken oder auf dumpfem Holz, Trommelwirbel und leises Beckenklingen …
Werkzeuge alter und neuerer Art helfen, dies alles herzustellen, und wo die Hand nicht weiterkommt, hilft Maschinenarbeit, an der Drehbank, der Fräsmaschine, um dem Material zu Form und Bestimmung zu verhelfen, verschiedene Metalle, Hölzer, rund und in Platten, neu beschafft oder aus altem Bestand zu neuem Leben verholfen, davor die Idee, die schnell hingeworfene Skizze, das Nachdenken über Funktionen und Arbeitsabläufe, stets die zur Verfügung stehenden Mittel berücksichtigend.
Dies alles konzentriert sich irgendwann zur Zeichnung, Maße entstehen, werden verworfen, korrigiert, an Probestücken getestet und so entsteht nach und nach ein Prototyp, der weiter reifen darf, hin zum fertigen Werk.
In dieser Werkstatt entstehen Klangmaschinen, klingende Apparate, selbstspielende Instrumente. Die aktuellen Projekte: ein Glockenspiel – genannt Carillon – entstand vor 6 Jahren als Prototyp für alle weiteren Carillons. Nun wird es um einige technischen Details ergänzt, um dann als Leihgabe in einer Schlosskapelle dem sakralen Raum Klang zu verleihen. Ursprünglich hatte es seinen ersten „Auftritt“ bei einem Improvisationsabend in der Kunststation Sankt Peter in Köln, bespielt vom dortigen Organisten Dominik Susteck, der seine 100-Register Orgel für Neue Musik immer wieder temporär ergänzt durch „ferngesteuerte“ Instrumente aus meiner Werkstatt.
Ein weiteres Projekt: das Spinett, von einer Musikerin aus Berlin übernommen, das demnächst Teil einer Kirchenorgel werden soll, d.h. es soll vom Orgelspieltisch aus, also von ferne, bespielt werden können und sich in die Fülle der Register und Schlagwerke dieser Orgel einfügen – ein Novum, das es so bisher noch nirgendwo gibt.
Überhaupt, die klingenden Apparate üben auf eine kleine Szene von Organisten, Musikern, Komponisten und Orgelbauern einen besonderen Reiz aus. Impulsgebend dabei ist immer die Suche nach neuen Klängen und Synergien zwischen Akustik, Mechanik, Elektronik, Computertechnik. So entstand für eine neue Orgel in Kyoto/Japan ein Marimbafon und ein Carillon als Ausgangspunkt für eine das Pfeifenwerk ergänzende Schlagwerkgruppe. Eine ähnliche Konfiguration, erweitert durch ein Vibrafon und eine Celesta, ergänzt nun seit kurzem eine Orgel in Düsseldorf, andere Carillons wurden in Orgeln in Köln, Zülpich und Tromsø eingebaut.
Was ist das Besondere an diesen Arbeiten, die doch als klanglicher Grundstock von gebräuchlichen Instrumenten und jahrhundertealten Klangerzeugungsmethoden ausgehen. Es ist die Synthese einer gleichberechtigten Kombination von elektronischer- und akustischer Musik, die sich in diesen computergesteuerten Musikautomaten geradezu manifestiert.
Die Maschinen erzeugen Schall mechanisch, werden aber von einer elektromechanischen Apparatur in Bewegung versetzt und von digitalen Signalen gesteuert. Diese „Musikroboter“ schließen die Lücke zwischen akustischer und elektronischer Musik, und verdeutlichen das Kontinuum zwischen beiden Musikpraktiken.[2]
Viele Arbeiten in diesen Entstehungsprozessen brauchen ihre Routine, folgen einem eigenen Rhythmus, haben ihre Eigenzeit. So wie heute. Für die Anschlagsmechanik des Spinetts sind 55 Trakturmagnete zu verbauen, d.h. Polster aufkleben, in ein vorbereitetes Raster einschrauben, Stromleitungen unterschiedlicher Farbkennung nach Plan verlöten, d.h. ablängen, abisolieren, Enden verdrillen, dabei Plus- und Minuspol nicht verwechseln, das sind immer die gleichen Handgriffe, 55 mal je 5 Minuten bei geruhsamem Arbeiten.
Der Weg zum Klang, die Arbeit am Instrument, ist mit sehr unterschiedlichen Klängen und Geräuschen verbunden. Sirren dünner Bohrer, Fräsmaschinenvibrationen, welche die Luft zittern lassen, die unsägliche Geräuschkulisse von Staubabsauganlage und Kreissäge oder Abrichthobel. Konzerte in der Neuen Musik scheinen manchmal diese Geräusch- und Klangkulisse aus der Werkstatt wiederzugeben.
Klang ist ein Ereignis in der Zeit. Er hat einen Beginn und ein Ende, mischt sich mit anderen Klängen, die ebenfalls ihre eigene Zeit haben. Vor dem Klang der Impuls, der Anstoß über ein steuerndes Element, es kann mechanisch oder über ein digitales Startsignal ausgelöst sein, es erfolgt ein Anschlag, oder eine Luftströmung, ein Zupfen oder ein Streichen, je nach Klangkörper, der in einer Saite, einer Labialpfeife, einem klingenden Stab oder einem Bronzebecken, einem Trommelfell oder einer Xylofonplatte den Anfangsimpuls setzt. Der Klang entsteht und gibt seine Energie an einen Resonator weiter, der ihn verstärkt, einfärbt, seine Frequenzen beeinflusst und der nachhallt, auch wenn der Anfangsimpuls bereits beendet ist und einem neuen Platz macht.
So ist also eine Reihe ganz unterschiedlicher Elemente am Entstehen und der Entwicklung des Klanges beteiligt und jeweils neu zu entwickeln.
Dieses zu kontrollieren ist Aufgabe der Steuerungssoftware im Zusammenspiel mit den physischen Eigenheiten der Anschlagsmechanik. Hier muss auch dem Musiker ein regelnder Eingriff möglich sein, um Zeitwerte einstellen zu können und damit z.B. ein Tremolo in der gewünschten Qualität zu erzeugen. Das Tremolo wird erreicht durch getaktete Impulse, die aus dem Rechner kommen mit einer eindeutig definierten Tonlänge und Pausenlänge, also dem Abstand zwischen Ton AUS und erneutem Ton AN. Es geht hier also darum, neben dem Tempo des Tremolos diese Definition des Prozentanteils von Tondauer und Pausendauer variieren zu können, was übrigens für den Programmierer eine anspruchsvolle Aufgabe ist.
So wie der Klang ein Ereignis in der Zeit ist, gilt dies ebenso für die gesamte Entwicklungs- und Herstellungsarbeit. Dem Anfangsimpuls, z. B. in Gestalt eines konkreten Auftrags, folgt eine Zeit des Studierens der verschiedenen nötigen „Gewerke“: wie soll der Klang entstehen, wodurch soll er ausgelöst werden, welche Anforderungen gibt es an Dynamik, Agogik und deren Beeinflussbarkeit u.ä., auch äußere Proportion, Gewicht, Einbausituation, Transportierbarkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit sind Faktoren, die in dieser Anfangszeit in eine „Machbarkeitsstudie“ einfließen. Vorzugsweise lassen sich diese Faktoren studieren an einem anfänglichen Modell, das erste Erkenntnisse und Entscheidungen zu Klangerzeugung zulässt. Auch werden hier die Risiken deutlich, mit denen im Herstellungsprozess zu rechnen ist. Selbst wenn am Modell und den Konstruktionszeichnungen „alles klar“ erscheint, ist es ratsam, Zeitschleifen einzubauen, d. h. in der Abfolge der Herstellungsprozesse Punkte zu definieren, wo eine Umkehr für alternative Lösungen möglich ist, ohne das ganze Werk von vorn beginnen zu müssen. Diese so definierten Punkte bilden die Gelegenheit zur Reflexion des bisherigen Arbeitsprozesses: ist der Weg wirklich der Richtige, haben sich Schwerpunkte verschoben, wurde zu viel Gewicht auf Ästhetik statt auf Funktionalität gelegt, haben sich Abkürzungen eingeschlichen, faule Kompromisse? Gäbe es eine Lehrsupervision für künstlerische Klangapparateentwicklung, an dieser Stelle hätte sie ihre Berechtigung. – oder, jetzt ist die Zeit auszuatmen und einzuatmen, auch Geduld zu üben, mit sich und dem Werk. Oft geschehen an dieser Stelle erstaunliche Wendungen, stellen sich ursprünglich für wichtig erachtete Annahmen als unwichtig heraus, entstehen aus dem Nichts, aus zugelassener Intuition geniale Vereinfachungen. Dies gilt im übrigen für alle Prozessphasen, die Konstruktionsphase, die Klangexperimente, die Entscheidung über Materialien und Herstellungsverfahren, die Werkstattabläufe und selbst die begleitende Dokumentation, ohne die nichts nachvollziehbar ist.
Bis dahin waren wir unter uns. Ich im Dialog mit meinem Projekt. Doch nun, wird das Werk, wenn es nach draußen geht, den Ansprüchen standhalten? Der Organist der Kunst-Station Sankt Peter in Köln lud mich ein, eine meiner „Maschinen“ in ein Improvisationskonzert einzubringen. Das Carillon stand in der Mitte des sonst leeren Kirchenraums, mit dem Orgelspieltisch über eine drahtlose Verbindung angekoppelt. So konnte es als zusätzliches Register, als willkommene neue Klangfarbe in das Spiel einbezogen werden. Der kritische Punkt war, wird die Stimmung der Orgel mit der Stimmung des Carillons zurechtkommen? Es gab keine Möglichkeit, dies genauer zu erforschen, und im Verlauf des Konzertes fielen auch keine Differenzen auf. Der Organist hatte Vertrauen, war auch professionell genug, bestimmte Ungereimtheiten zu umspielen oder diese geradezu zu suchen. Erst am Schluss, als die Improvisation auf einen Schlusston zusteuerte, fragte ich mich, ob sich nicht im letzten Augenblick der Unterschied bemerkbar machen würde, der Unterschied zwischen dem Klang aus dem schwingenden Metall des Carillons und den schwingenden Luftsäulen der Orgelpfeifen. Es endete auf einem A, schwang sich ein, hielt sich auf einem klaren gleichklingenden Niveau und endete dann in Stille.
III. Erfahrungsfeld Politik: WORÜBER WIR REDEN WÜRDEN, WENN WIR REDEN WÜRDEN
In der Zeit um 2015/16, als allerorts das Flüchtlingsthema viele Menschen beschäftigte, gab es zunehmend Streit um den Hambacher Wald im Rheinland, dem Braunkohleabbaugebiet Hambach des RWE-Konzerns. Schon seit Beginn des Aufschlusses dieses Tagebaus gab es Proteste und Kritik an der Konzernpolitik, die den Energieriesen aber wenig beeindruckten. Die Grenzen des Wachstums waren weitgehend Theorie und wenig spürbar. Vielen Menschen in der Region gab der Konzern mit dem Kohleabbau, der Verstromung in den Kraftwerken und den vielen Zulieferern Lohn, Brot, Perspektive. Da war wenig Raum für Protest.
Dies begann sich zu ändern, als 2012 junge Aktivisten begannen, den Wald zu bewohnen, den Wald, unter dem die Braunkohle liegt und der seit den 80er Jahren mit seiner Größe von 4.100 ha Stück für Stück dem Tagebau weichen musste. Es wurden Baumhäuser gebaut, Überlebensstrukturen entwickelt, Kontakte ins Umland geknüpft. Plötzlich wurde Protest vor der Haustür erlebbar, zwang dort wohnende Menschen, sich zu positionieren, rief Politiker und nicht zuletzt auch Polizei auf den Plan. Und so ergaben sich schnell zwei total gegensätzliche Blickwinkel auf die Situation.
Die „Waldbesetzer“ repräsentierten eine Kultur einfachen Lebens in der Natur, getragen von Solidarität und der Entwicklung herrschaftsfreier Räume. Von Teilen der Gesellschaft wurden sie in ihrem gewaltfreien Engagement gewürdigt und unterstützt.
Andererseits waren dies Störer, die den Betriebsablauf behinderten, Extremisten, die dem Kapitalismus die Prügel in die Speichen werfen („Climatchange = systemchange“), Leute, die nicht hierher gehören, und die, sollten sie recht behalten, Arbeitsplätze gefährden und die Region ins wirtschaftliche Abseits führen.
Es polarisierte und viele Akteure – Presse. Politik, Bevölkerung – beförderten diese Polarisierung mit unterschiedlich wirksamen Mitteln. Die Situation schien nur lösbar mit staatlicher Härte und gewaltsamen Mitteln. Es wurde aufgerüstet, seitens der Politik, der Polizei, aber auch unter den Aktivisten.
Für viele Menschen wurde diese Situation unerträglich. Es musste etwas geschehen. In diesem Kontext formierte sich ein Bündnis aus kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Gruppen unter dem Namen Initiative Friedensplan (IF), dessen Ziel es war, Gespräche mit den relevanten Akteuren – den Aktivist:innen, RWE, der Polizei und der Politik – zu führen, um Lösungsansätze für die Deeskalation zu entwickeln.[3]
Ich wurde von der IF beauftragt, als Vertreter einer zivilgesellschaftlichen Gruppierung[4] Kontakte zu den verschiedenen Akteuren herzustellen und ein geeignetes Gesprächsformat zu entwickeln. Es stellte sich als schwierig heraus, alle Parteien an einen Tisch zu bringen. Während sich die Politik und die Aktivist:innen lange verweigerten, erklärte RWE schließlich Gesprächsbereitschaft, wobei die Führungsebene eine direkte Teilnahme ablehnte, jedoch einem Format auf der Ebene Tagebaumanagement zustimmte mit dem Ergebnis, dass der leitende Bergbauingenieur, ein Vertreter des Betriebsrats, der Tagebauplaner sowie der Sicherheitschef in eine Gesprächsgruppe entsandt wurden. Auf Seiten der IF gehörten dieser Gruppe die Sprecherin einer Bürgerinitiative, ein Vertreter eines kirchlichen Gremiums, ein Waldpädagoge und ich als Initiator an. Die Gespräche sollten von jeweils einem Vertreter aus dem Energiekonzern und dem IF-Kontext moderiert werden.
Bis dahin war die zentrale Frage noch unbeantwortet geblieben: Worüber sollte gesprochen werden, wenn tatsächlich gesprochen würde?
Es wurden schnell die Themen deutlich, über die nicht gesprochen werden konnte, wollte man das Format nicht bereits nach der ersten Runde scheitern lassen. Die Benennung der Gruppe als HAMBACHER DIALOG ließ hoffen, dass etwas wachsen könnte, dass zumindest zugehört würde – dies von beiden Seiten. Gesprächsinhalte sollten nicht nach außen dringen, also keine anschließenden Pressemitteilungen o. ä. Die Moderatoren verständigten sich von Treffen zu Treffen über die Themen, Konflikte sollten so vermieden werden, um so den Fortbestand des Formates nicht zu gefährden. Es ist erstaunlich, dass in dieser Situation der unvereinbaren Standpunkte trotzdem positive Aspekte deutlich wurden, z. B. entstand eine gegenseitige Einsicht über die Begrenztheit der Einflussnahmen der Gesprächsteilnehmer auf das Gesamtgeschehen im energiepolitischen Kontext, oder die Grenzen bezogen auf die Kommunikationsmöglichkeiten und Einflussmöglichkeiten auf die Aktivisten im Wald. Es wurde bald deutlich, dass diese Gruppe nur überleben konnte, wenn die kleinen tagesaktuellen Vorkommnisse im Konfliktgeschehen verstanden werden wollten und hin und wieder auch pragmatische Absprachen nach sich ziehen konnten.
Das Gesprächsformat entwickelte sich in den 5 Jahren des Bestehens des HAMBACHER DIALOGS in 4 Phasen:
- Besprechungsraum in einem Keller der Tagebauverwaltung und Fortsetzung an einem etwas neutraleren Ort in den Fraktionsräumen der kommunalen Kreisverwaltung (4+4+2 Konstellation). Ende nach ca. 10 Sitzungen über 1,5 Jahre
Parallel zu diesen Gesprächen waren wir als Vertreter der Zivilgesellschaft immer wieder vom zuständigen Polizeipräsidenten angefragt zur Reflexion (!) der Situation im Konfliktgebiet Hambacher Wald. Es wurde eine polizeiliche Funktion kreiert, die außerhalb der polizeilichen Hierarchie als Kontaktbeamter zu Aktivisten und Bürgerinitiativen agierte. In diesem Zusammenhang entstand auch ein Kontakt und Gespräch mit dem zuständigen Innenminister mit dem Ziel der Entwicklung einer differenzierteren Sicht auf die Konfliktlage und dem Beitrag der Zivilgesellschaft zu den Deeskalationsbemühungen. - Neuauflage in der Hauptverwaltung der RWE-POWER-AG in einer Konstellation 2+2 mit konkreten tagebaurelevanten Fragestellungen, z. B. zum Verständnis der Betriebspläne.
Diese Phase des Hambacher Dialogs endete nicht wegen, aber zeitgleich mit der Gerichtsentscheidung zum Rodungsstopp im Hambacher Wald und der großen Räumung 2018 der Waldbesetzung durch die Polizei auf Anordnung der Landesregierung zur Durchsetzung von Brandschutzmaßnahmen.
Diese Phase des Hambacher Dialogs endete auch wegen inhaltlicher Differenzen innerhalb der IF – zufällig auch szenisch eingefangen im Rahmen der Filmaufnahmen zum Kinofilm DIE ROTE LINIE[5] – zu der einfachen Frage, warum mit RWE weiterreden, wenn es doch zu nichts führt. Ein Teil der IF unterstützte jedoch die Absicht, den Dialog fortzusetzen. Daraufhin übernahm die BfB die Initiative und setzte sich für eine Wiederaufnahme in einem neuen Format ein. - Erneute Neuauflage in einem kirchlichen Gemeindehaus in erweiterter Konstellation: 2 Personen von RWE, 2 Kontaktbeamte der Polizei, 2 Vertreter IF, 2 Plätze für Personen aus der Aktivistenszene.
In diesem Format gelang es am besten, die unterschiedlichen Blickwinkel der Akteure anzusprechen und zu diskutieren. Diese Phase endete jedoch durch den Ausbruch der Pandemie, bei dem vor allem den institutionellen Vertretern eine weitere Teilnahme versagt blieb. - Online-Konferenzen ab 2021 bis 2023 in reduziertem Format (1 IF, 1 Polizei, 2 RWE)
Das Ende dieses langanhaltenden Dialogs kam unspektakulär, der Kontaktbeamte ging in Rente, bei RWE gab es personelle Neubesetzungen und aus dem Konflikt war auch die Luft raus, bzw. er war weitergezogen ins Tagebaufeld Garzweiler, wo andere Akteure aktiv waren.
Zum Schluss:
Auch wenn der Hambacher Dialog keine greifbaren Verhandlungsergebnisse hervorbrachte, so zeigte die Initiative Friedensplan doch eindrucksvoll, dass Präsenz und Stimme der Zivilgesellschaft in den Konflikten um die Braunkohlepolitik von Wert sind – ein sichtbares Zeichen dafür, dass gesellschaftlicher Dialog und zivilgesellschaftliches Engagement selbst in scheinbar festgefahrenen Situationen Hoffnung auf Veränderung und gegenseitiges Verständnis schaffen können.
[1] Karl Weick, Der Prozess des Organisierens 1955/2021
[2] siehe auch den Artikel von Maciej Sledziecki „retro-futuristische Maschinenmusik von gamut inc“ in DIE ORGEL 4-2016
[3] Die Arbeit der IF ist ausführlich dokumentiert in dem Erinnerungsprojekt der INITIATIVE BUIRER FÜR BUIR (BfB), präsentiert in der Ausstellung „Begegnung und Bewegung an der Kante“ 2024
[4] Seit 17 Jahren ist die INITIATIVE BUIRER FÜR BUIR (BfB) im Umfeld des Tagebaues Hambach aktiv, setzt Impulse, schafft regional und überregional öffentliche Wahrnehmung für die Umweltthematik, das Ganze verbunden mit kreativen und kulturellen Aktionen. Satzungsziele: Natur und Kultur.
[5] DIE ROTE LINIE – Widerstand im Hambacher Forst 2019, Regie Karin de Miguel Wessendorf – Gesprächsszene zu diesem Konflikt bei 1:20 – abrufbar unter https://www.amazon.de/Die-rote-Linie-Widerstand-Hambacher/dp/B07SHVFWJK
Gerhard Kern
Gerhard Kern, Jg. 1945, erste Berufsjahre als Feinmechaniker und Konstrukteur, danach Sozialarbeit und Erwachsenenbildung. 40 Jahre tätig als Supervisor und Organisationsberater, langjährige Mitarbeit im Institut für Humanistische Psychologie (IHP) in verschiedenen Funktionen, Schwerpunkt Supervisionsausbildung. Seit Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als Musikmechaniker im Kontext Neuer Musik mit Komponisten, Orgelbauern, Musikern. www.musikmechaniker.de www.buirerfuerbuir.de