Wie ich die Psychoanalyse fand und was sie mir bedeutet

Einleitung

„Und wir waren hier allein im Inneren der Erde, ihren wilden Bewohnern auf Gedeih und Verderb preisgegeben.“  Dieses Zitat aus Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ habe ich meiner ersten, 1994 veröffentlichten Fallgeschichte „Von Goldgräbern und Geisterjägern“ vorangestellt. (Das Buch mit diesem Titel war ein Experiment. Ich wollte herausfinden, ob es möglich ist, psychoanalytische Prozesse ohne Verwendung von Fachbegriffen nachvollziehbar zu schildern. Es ist möglich.) Gut zehn Jahre zuvor hatte Johann Zauner im Eignungsinterview für die kinderanalytische Ausbildung in Göttingen gemeint, ich hätte eine „Sehnsucht nach der Tiefe“. Professor Zauner wurde für mich in den darauffolgenden Jahren der Lehrer, von dem ich besonders viel gelernt habe. Zu ihm fuhr ich auch nach Abschluss meiner Ausbildung weiterhin zur Supervision, bis kurz vor seinem – leider viel zu frühen – Tod. Er ist heute noch ein Vorbild für mich, für meine eigenen Supervisionen mit Kandidaten und Kolleginnen, die mir – nun selbst im hohen Alter angekommen – eine stete Freude und Bereicherung bedeuten.

„Sehnsucht nach der Tiefe“ klingt ja erst mal ziemlich pathetisch. Aber vielleicht hat Zauner mit dieser Formulierung genau das getroffen, was mir die Psychoanalyse so wertvoll macht – wobei ich damals nicht im Entferntesten daran gedacht habe –: die Erweiterung der Fläche zum Raum. Oder: die Erschließung einer neuen Dimension.

Autobiographisches

Die Sehnsucht nach der Tiefe durchzieht tatsächlich mein ganzes Leben. Meine Kindheit war geprägt von der Fürsorglichkeit meiner Eltern und der besonderen Zuneigung meiner Großmutter. Sie hatten in die Abgründe des Krieges geblickt, angezettelt von einem „Volk ohne Raum“ (eine aufschlussreiche Selbstdiagnose der Nazis, auf die ich noch zurückkommen werde). Sie waren gezeichnet von dessen Schrecken, Verheerungen und Verlusten. Die Kriegsverletzung meines Vaters war ein nicht zu übersehendes „Argument“ bei seiner Begleitung von Kriegsdienstverweigerern in ihren Verhandlungen. Im Rückblick denke ich, dass sie sich aus den Traumatisierungen des zweiten und der Angst vor einem dritten Weltkrieg, in dem, wie man fürchtete, Atomwaffen zum Einsatz kommen würden, in tiefe Frömmigkeit und unerschütterliches Gottvertrauen geflüchtet haben, einen „Glauben“, der schon ihre Herkunftsfamilien geprägt hatte: evangelisch-pietistisch getönt beim Vater, methodistisch-freikirchlich bei Mutter und besonders Großmutter. So stand das „Seelenheil“ an erster Stelle ihrer Erziehungsbemühungen. Die durch sie vermittelte Geborgenheit, die sanfte Freundlichkeit, die mild gedämpfte Atmosphäre, in die unsere heftig ausgetragenen Geschwisterrivalitäten so gar nicht hineinpassten, empfand ich früh als Enge, und ich begann mich gegen diese schwarzweiße Weltsicht aufzulehnen. Es musste doch noch mehr geben als Himmel und Hölle, Gut und Böse, Macht und Ohnmacht, Entweder-Oder… Bücher wie Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ faszinierten mich: eine unbekannte, verborgene Welt erforschen, in der unter einer sichtbaren, scheinbar ruhigen Oberfläche archaische Kräfte toben. Sich solchen Kräften auszusetzen und sie unversehrt zu überleben, ja, vielleicht gar zu nutzen – das erschien mir ungeheuer verlockend.

Eine weitere Geschichte, die mich faszinierte, ohne dass ich genau sagen konnte wodurch, war die „Zeitmaschine“ von H. G. Wells aus dem Jahr 1895. Ich stellte den auf dieser Erzählung beruhenden Film von 1960 in der Reihe „Film und Psychoanalyse“, veranstaltet von den beiden Kasseler psychoanalytischen Instituten, 2014 vor. Thema war damals „Eros und Thanatos“. Und wieder ging es um eine Unterwelt, in der, unsichtbar für das in einer scheinbar paradiesischen Oberwelt lebende Völkchen der „Eloi“, die grausamen monsterartigen „Morlocks“ ihr Unwesen treiben, die „Elois“ mit Energie, Nahrung und Alltagscomfort versorgend, aber dafür regelmäßig nachts einen von ihnen holen und verspeisen. Was dazu führte, dass die heiteren, freundlichen, ein bisschen naiv-dümmlichen „Elois“ bei Einbruch der Dunkelheit in Angst und Schrecken verfielen.

Mehr aus Mangel an einer wirklichen Idee als aus einer inneren Motivation begann ich ein Studium an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd. Es hatte sich ergeben, durch einen Umzug meiner Familie kurz vor meinem Abitur, dass ich dieses am selben Gymnasium ablegte wie meine Mutter, die ebenfalls Lehrerin geworden war, bis sie diesen Beruf aufgab, „Pfarrfrau“ und Mutter von vier Kindern wurde. Ich mochte den Kontakt mit Kindern, aber nicht den Schulbetrieb. So nahm ich die Geburt unseres Sohnes zum Anlass, mich ins Familienleben zurückzuziehen, bis ich durch eine Weiterbildung meines Mannes die Psychoanalyse kennenlernte. Dann kamen einige Jahre Berufstätigkeit als Sozialpädagogin, was mir schon besser gefiel, da ich es mit kleineren Kindergruppen zu tun hatte statt mit Schulklassen. Aber so richtig zufrieden war ich, trotz des intensiveren Kontakts mit Kindern, immer noch nicht. Eine Begegnung mit Peter Heidke, den mein Mann in seiner gruppendynamischen Weiterbildung kennengelernt hatte, brachte die Wende, nämlich dessen Frage, ob ich diese Weiterbildung nicht auch machen wolle. Da war mir plötzlich klar: Nein, auf keinen Fall! – Was denn dann? – Kinderanalyse! – Und warum machst du’s nicht? – Ja, warum eigentlich nicht? Kurz darauf bewarb ich mich am Göttinger Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie um einen Ausbildungsplatz. Und entdeckte die Psychoanalyse – für mich!

Sigmund Freud

Freuds geniale Idee von der Existenz eines Unbewussten – einer Tiefendimension in jeder Persönlichkeit, die das Oberflächenleben wirkmächtig beeinflusst – ließ mich nicht wieder los. Ich begann seine Texte zu lesen, u. a. die „Traumdeutung“, der er das Motto aus Vergils Aeneis voranstellte: „Flectere si neque superos, Acheronta movebo“ – „Wenn ich die Oberen nicht beugen kann, werde ich die Unterwelt bewegen“ (SFG 7, S. 16). In meiner Lehranalyse kam ich meiner eigenen „Unterwelt“ und den in ihr virulenten unbewussten Phantasien ein Stück weit auf die Spur. Ich erlebte in der Übertragung die Kehrseite meiner (bewussten) Ängste: meine (unbewusste) Aggression, die sich in Alpträumen bemerkbar gemacht und meine Ehe gefährdet hatte. So erfuhr ich, dass es sich lohnt, bei ängstlichen Kindern nach deren Aggressionen zu forschen und bei aggressiven nach deren Ängsten. Seither sehe ich Angst und Aggression als zwei Seiten einer Medaille.

Schon meine ersten Begegnungen mit Kinderpatienten in Diagnostik und Therapie, begleitet von Seminaren, eröffneten mir Einblicke in den Reichtum ihrer inneren Welt, besonders über ihr Spiel. Ich begann Winnicott, Melanie Klein und Hanna Segal zu lesen, dann Bion und Ferro. Und gewann mit dieser Lektüre eine Vorstellung von dem für mich nach wie vor existenziell wichtigen Konzept der Symbolisierung (Segal 1990). Dieser Lernprozess fand überwiegend nach Beendigung meiner Ausbildung statt, verflochten mit meiner kinderanalytischen Praxis. Mit der Symbolisierung gewann meine Arbeit (und mein Leben!) die lange ersehnte Tiefendimension.

Wenige Jahre nach Abschluss meiner Ausbildung gründete sich auf Initiative einiger Göttinger Kollegen und Kolleginnen, die in Kassel wohnten und arbeiteten, ein Ableger des Göttinger Instituts in Kassel, und ich war eine der Ersten, die hier mit Dozententätigkeit begannen. Dabei kam mir zugute, was ich auf der Pädagogischen Hochschule über Didaktik gelernt hatte. Meine Lieblingsthemen rankten sich um Fläche und Raum – intrapsychisch gesehen. Ich werde hier einige zusammenfassen.

Um zunächst etwas weiter auszuholen: Als Freud die Psychoanalyse erfand, hatte er die Sexualität oder zutreffender: die neurotische Verarbeitung der sexuellen Triebwünsche als Ursache psychischen Leids erkannt. Heute sehen wir eher die Aggression, auch hier: die unzulängliche Integration der aggressiven Wünsche, als pathogen.  Moderne psychische Störungen, wie Hyperaktivität (ADHS), Selbstverletzung (SVV), Depression und Panikattacken – alle wurzeln darin, dass es nicht gelungen ist, Aggression zur Entwicklung einer reifen, durchsetzungsfähigen und empathischen Persönlichkeit zu nutzen. Psychoanalytisch ausgedrückt: die aggressiven Triebwünsche so in das Selbst zu integrieren, dass die in ihnen enthaltene Energie konstruktiv in Wachstum und Entwicklung einfließen kann. Dazu gehört auch, die Gesellschaft aktiv so (mit) zu gestalten, dass sie besseres Leben ermöglicht.

In der Panikstörung wird die eigene Aggression in die Umwelt projiziert, und man fühlt sich von außen verfolgt. Kinder, denen ADHS diagnostiziert wird, fühlen sich getrieben von einer untergründigen Angst vor ihrer eigenen Aggression, der sie durch ständige ruhelose Aktivität zu entkommen versuchen. Im SVV – einem gerade unter Jugendlichen heute weit verbreiteten Symptom – wird der eigene Körper malträtiert, um den unerträglichen aggressiven Wünschen ein Ventil zu öffnen. Und in der Depression wird die Aggression ebenfalls gegen das Selbst gewendet, indem die Kranken sich entwerten. Triebfeder für all diese Störungen ist die Angst vor den als katastrophal phantasierten Auswirkungen der eigenen Aggression.

Sexualität und Aggression, von Freud als Triebe bezeichnet, sind Ausdruck einer elementaren Kraft, die sowohl konstruktiv als auch destruktiv wirken kann. Je nachdem, wie diese Lebensenergie in die Gesamtpersönlichkeit integriert und nicht zuletzt zum Denken genutzt werden kann. Von Melanie Klein und W. R. Bion, mehr noch von Hanna Segal (die Kleins und Bions Theorien für mich erst zugänglich machte) habe ich gelernt, wie eine solche Entwicklung aussehen kann.

Aber zuvor ist mir in meiner Beziehung zu Freud ein Thema noch wichtig: Soviel er mir bedeutet, v. a. durch seine Entdeckung des Unbewussten, sowie mit seinem Verständnis von Übertragung, Widerstand und psychischer Entwicklung, speziell dem Ödipuskomplex, so sehr habe ich von Anfang an gehadert mit seiner Darstellung der weiblichen Entwicklung. Aufgrund des – seiner Zeit geschuldeten – patriarchalen, phallozentrischen Menschenbilds entwirft er eine Psychodynamik der Weiblichkeit, von der jede Frau spürt, dass diese wenig mit ihr zu tun hat. Wie nachfolgende Analytikerinnen (z. B. Doris Bernstein und Christa Rohde-Dachser) zeigten, ist auch die Entwicklung des Mädchens von seinem eigenen Genitale bestimmt und nicht vom „Penisneid“. Genau wie der Junge richtet es um das 4./5. Lebensjahr herum zärtlich-erotische Wünsche auf den gegengeschlechtlichen Elternteil und wünscht den gleichgeschlechtlichen weg. Und genau wie beim Jungen lösen diese Wünsche beim Mädchen genitale Ängste aus, wie sie bspw. Doris Bernstein beschrieben hat. Keine Frau denkt von sich, sie sei ein „kastrierter Mann“ – eine Behauptung Freuds, die nur empören kann. Gleichzeitig ist die Lösung des ödipalen Konflikts eine grundlegend wichtige Aufgabe, weil erst mit dieser Lösung der Mensch in der Realität ankommen und auf Größenphantasien verzichten kann, mit der Auswirkung, dass er beginnt, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.

Symbolisierung

Der Weg zur Integration der Persönlichkeit führt über die spezielle Fähigkeit der innerseelischen Raumgewinnung mit Hilfe der Symbolbildung. Ohne diese Fähigkeit bleibt der Mensch gefangen in teils quälenden Zuständen, vergleichbar einem hungernden Säugling, der sich ganz ausgefüllt vom nagenden Hunger fühlt und daher verzweifelt schreiend und strampelnd versucht, dieses unerträgliche Gefühl aus sich herauszustoßen. Er kann sich (noch) nicht erinnern, dass er sich auch schon in anderen, angenehmen Zuständen befunden hat, und daher auch nicht hoffen, dass seine gegenwärtige Befindlichkeit vorübergehen und sich wieder zum Guten wenden kann. Das gelingt ihm erst, wenn er ein Konzept von Abwesenheit entwickelt, was (nach M. Klein) bedeutet, dass der Hunger nicht auf ein anwesendes böses Objekt in seinem Inneren zurückzuführen ist, sondern auf ein abwesendes gutes Objekt (die Milch). Ein Objekt, das da war (in der Vergangenheit), nicht da ist (in der Gegenwart), aber wiederkommen wird (in der Zukunft). Wenn das Baby also sich erinnern und hoffen kann, hat es begonnen zu denken (Bion). Und Denken hilft. Immer, im ganzen Leben. Denken braucht einen Raum, in dem es sich entfalten kann (Kennel&Reerink).

Es gibt einen skurrilen „Roman“ aus dem Jahr 1884, der sich mit Fläche und Raum befasst, einer der Vorläufer von Science-Fiction-Literatur, dessen Thema „Ausflüge in andere Dimensionen“ auch heute noch reizvoll ist: „Flächenland“ von E. A. Abbott. In dieser phantasierten Geschichte wird ein „altes Quadrat“ von einer Kugel besucht, die in dessen zweidimensionale Welt eindringt und das Quadrat von der Existenz einer dreidimensionalen Welt zu überzeugen versucht. Was ihr auch gelingt, obwohl das Quadrat ihre Bewegung durch seine Flächenwelt nur als sich im Durchmesser verändernde Kreise wahrnehmen kann.

Mir erscheint diese Geschichte eine schöne Veranschaulichung der Symbolisierung, die eng verknüpft ist mit der intrapsychischen Triangulierung – einem Entwicklungsschritt, der das Kind befähigt, denkend eine Vorstellung von einem eigenen Selbst zu entwickeln. Indem es wahrnimmt, dass Vater und Mutter eine gute Beziehung zueinander haben, aus der es selbst zeitweilig ausgeschlossen ist, kann es über sich in diesem Beziehungsdreieck nachdenken, was Abelin in den markanten Satz fasst: „There must be an I like him who wants her“ – „Es muss ein Selbst geben, das ist wie er, der sie begehrt“. Das Kind kann sich nun vorstellen, selbst an der Stelle von Vater (oder Mutter) zu sein, und sich mit seinem (oder ihrem Begehren) identifizieren. Damit hat es die zur Symbolisierung gehörende Spielfähigkeit erworben, eine „Als-ob-Funktion“, die sich im dreidimensionalen „potenziellen Raum“ (Winnicott 1985) entfalten kann – einem Raum, in dem Ängste kreativ bewältigt werden können, und so Entwicklung, Wachstum und Leben stattfinden kann.

Raum braucht auch die Analyse. Die analytische Situation ermöglicht die Überwindung von lebensfeindlichem Stillstand und Erstarrung durch die Begegnung im „analytischen Raum“ (Ferro). Eine solche lebensverändernde Begegnung ist möglich, wenn es der Analytikerin gelingt, in sich einen inneren Raum zu entfalten, in dem sie über sich in Beziehung zu ihrem Patienten nachdenken kann. (Ralf Zwiebel, dessen Schriften meine Arbeit in besonderem Maß bereichert haben, spricht hier vom „inneren Analytiker“.) Ein Denkraum, der immer wieder zusammenfällt unter dem Ansturm nicht integrierter Triebwünsche und der immer wieder neu errungen werden muss mit Hilfe der analytischen Theorie. Dabei, so wird mir zunehmend deutlich, ist es weniger wichtig, über welche Theorie der Analytiker verfügt, als dass er Zugang zu einer Theorie hat. Die sich natürlich im Laufe seines Berufslebens durch die Erfahrungen mit den Patienten und sich selbst, sowie den Austausch mit Kollegen und weitere Lektüre verändert, gleichzeitig seinen persönlichen Stil gestaltet und ihm zu einer eigenen Stimme verhilft (Zwiebel 2019).

Melanie Klein

Was tut sich im analytischen Raum? Bevor ich mich dieser Frage zuwende, muss ich noch kurz (was angesichts der Komplexität ihrer Gedanken eigentlich unmöglich ist) schildern, wie Melanie Klein die kindliche Entwicklung sieht. Sie stellt Freuds linearem Modell der aufeinander folgenden Phasen ein eher zirkuläres Modell gegenüber. Das Kind erklimmt nach ihrer Theorie nicht immer höhere Stufen bis zur Reife des Erwachsenenalters, sondern es erlebt sich in Beziehung zu seinen Objekten – so nennt sie die wichtigen Personen, die es braucht, um zu überleben und zu wachsen – unter dem Einfluss bestimmter Positionen.

Das Leben beginnt in der paranoid-schizoiden Position. Missempfindungen werden – wie ich es am Beispiel des Hungergefühls darzustellen versuchte – als anwesendes böses Objekt in seinem Inneren empfunden, von dem sich das Baby verfolgt fühlt. Es versucht diese Verfolgungsangst zu bewältigen mit Hilfe von Spaltungsprozessen. Spaltung heißt: Ausstoßung, weg damit! Aber wohin? Nach Melanie Klein: zunächst in die Mutter. Nun kann das Kind die Mutter jedoch noch nicht als ein von ihm getrenntes Objekt wahrnehmen, deshalb fühlt es sich durch seine abgespaltenen, in die Mutter projizierten Aggressionen selbst bedroht. Die Hauptangst in dieser Position ist die vor Verfolgung, also paranoid, und der Zustand des Selbst und seiner Objekte ist durch Spaltung gekennzeichnet, also schizoid. Diese an Angstgefühlen und Objektbeziehungen beobachteten Merkmale veranlassten Melanie Klein, von einer paranoid-schizoiden Position zu sprechen. In der paranoid-schizoiden Position gibt es, wie schon erwähnt, keine Vorstellung von Abwesenheit. Lustvolle oder quälende Zustände werden als dauerpräsent erlebt, so als würden sie niemals enden, da das Kind noch nicht über eine Vorstellung von Zeit verfügt. Und auch Objekte sind dauerpräsent: das Kind fühlt sich entweder mit einer guten (real anwesenden) Mutter verschmolzen oder von einer bösen (real abwesenden) Mutter verfolgt.

Erst in der depressiven Position, wenn das Baby anfängt zu denken, erwirbt es ein Konzept von Abwesenheit. Damit kann es die Realität äußerer, von ihm selbst getrennter Objekte erfassen – eine wichtige emotionale Errungenschaft. Bisher waren für den Säugling Objekte vorwiegend in Bezug auf ihre wohlmeinenden (gute Teilobjekte) oder übelwollenden (böse Teilobjekte) Absichten definiert. Durch die Verbindung der guten und bösen Teilobjekte zu einem Ganzen entsteht ein Objekt mit gemischten Absichten. Das Kind begreift allmählich, dass seine guten oder bösen Erfahrungen nicht von einer guten oder bösen Brust oder Mutter herkommen, sondern von ein und derselben Mutter, die zugleich Quelle des Guten wie des Bösen ist. Das Erkennen der Mutter als einer ganzen Person hat weitreichende Folgen und eröffnet eine Welt neuer Erfahrungen. Es bedeutet auch, dass das Kind die Mutter als ein Individuum erkennt, das ein Eigenleben führt und Beziehungen zu anderen Menschen hat (Triangulierung). Das Kind entdeckt seine Hilflosigkeit, seine äußerste Abhängigkeit von der Mutter und seine Eifersucht auf andere Menschen.

Dieser Entwicklungsschritt bringt den Säugling in intensive emotionale Schwierigkeiten, die für ihn völlig neuartig und sehr schmerzhaft sind: Er stellt jetzt nämlich fest, dass er mit seinen sadistischen Attacken gegen das böse (Teil-)Objekt gleichzeitig auch das gute (Teil-)Objekt getroffen hat. Er muss mit der Tatsache fertigwerden, dass er in derselben Person, die er liebt, weil sie ihn nährt, für ihn sorgt und ihn liebt, nun die Mutter erkennt, die er mit völlig ungehemmter und paranoider Intensität hasst. Dies führt zu überwältigendem Schuldgefühl und zu neuen Ängsten, nämlich der depressiven Angst, das gute Objekt mit den sadistischen Angriffen zerstört zu haben. Das Kind durchlebt in den Beziehungen zu seinen inneren und äußeren Objekten intensive Gefühle von Furcht, Verlust, Trauer, Sehnsucht und Schuld, gerät in äußerste Verzweiflung. Das Selbst braucht lange, bis es sich stark genug fühlt, sich diesen depressiven Gefühlen zu stellen.

Deshalb werden gegen die depressive Angst zunächst Abwehrmechanismen eingesetzt: Das Erkennen der Abhängigkeit (von einem guten Objekt), der Ambivalenz (Hass und Liebe gelten ein und demselben Objekt), sowie die daraus resultierenden Schuldgefühle sind zunächst so schwer erträglich, dass paranoide Ängste und Verdächtigungen reaktiviert werden. Die Regression auf die paranoid-schizoide Position kann in Form einer manischen Abwehr erfolgen. Diese gründet sich auf die omnipotente Vorstellung, dass den Objektbeziehungen keine große Bedeutung zukommt. Mit der Bedeutung der guten Objekte wird auch die Abhängigkeit von ihnen verleugnet. Implizit werden damit die Liebesobjekte entwertet. Schmerz und Drohung lassen nach. Die Erfahrung psychischer Realität wird verleugnet durch Wiedererwecken und Verstärkung von Allmachtsgefühlen, besonders durch eine omnipotente Beherrschung des Objekts. Herrschsucht, Triumph und Verachtung charakterisieren die manische Beziehung zum Objekt. Alle drei Gefühle basieren auf Verleugnung: Verleugnet werden Abhängigkeit, Wertschätzung und Sorge. Ein verachtetes Objekt ist keines, das es wert wäre, sich seinetwegen Gewissensbisse zu machen, und die für ein solches Objekt empfundene Verachtung rechtfertigt weitere Angriffe auf eben dieses Objekt. Das Konzept der manischen Abwehr wurde mir in meiner Arbeit besonders hilfreich, da es mir ein Verständnis für die innere Welt hoch aggressiver Kinder eröffnete, die alle sich um sie bemühenden Erwachsenen zur Verzweiflung bringen (Wittenberger 1998).

Bei erstarktem Selbst kann ein weiterer Schritt hin zur depressiven Position stattfinden, der mit dem neuerlichen Versuch verbunden ist, die depressive Angst zu ertragen. Wenn dies gelingt, befähigt die depressive Position zu Mitgefühl, Dankbarkeit, Wiedergutmachung und Humor. Die paranoid-schizoide Position wird jedoch nie ganz von der depressiven Position abgelöst, der Mensch pendelt ständig zwischen beiden Positionen hin und her, paranoide und depressive Ängste bleiben innerhalb der Persönlichkeit aktiv. Je reifer der Mensch wird, desto weiter gehen die Integrationsprozesse, eine relativ sichere Realitätsbeziehung wird hergestellt durch das Durcharbeiten der de¬pressiven Position, und die Ängste werden modifiziert und gemildert.

Auch wenn es nicht unproblematisch ist, psychische Zustände auf gesellschaftliche zu übertragen, so drängt sich mir doch der Gedanke auf, dass die von Spaltung und Paranoia geprägte Nazi-Ideologie in der paranoid-schizoiden Position zu verorten ist, wo der Angriff auf das „böse“ Objekt von Erwachsenen ausgeführt wurde, die leider in der Lage waren, destruktivere Waffen einzusetzen als der schreiende und strampelnde Säugling. Dem „Volk ohne Raum“ fehlte tatsächlich Raum, nämlich ein innerer Denkraum, wie er in der depressiven Position entsteht.

Melanie Kleins Theorie wurde mir im Lauf meiner Berufstätigkeit immer wertvoller, weil sie mir half, gerade Kinder und Jugendliche, die sich besonders zu Beginn ihres Lebens nicht ungestört entwickeln konnten, besser zu verstehen. Und auch mich selbst in der Beziehung zu ihnen. In einem Vortrag mit dem Thema „Theorie und Praxis als Bausteine beruflicher Identität“ auf den FIS-Tagen 2011 in Mainz habe ich mich dazu geäußert. Mit diesem Vortrag, zu dem ich von Inge Zimmer-Leinfelder und Franz Leinfelder eingeladen worden war, begann eine bis heute andauernde auch berufliche Verbindung mit dem FIS, die mir nach wie vor viel Freude macht.

Der analytische Raum

Nun möchte ich mich meiner oben gestellten Frage zum Geschehen im analytischen Raum zuwenden. Wenn unsere Patienten allmählich Vertrauen zu uns fassen, richten sie all ihre zunächst unbewussten Wünsche und Befürchtungen auf uns, in der Übertragung, getrieben vom Wiederholungszwang. Wir versuchen, sie über unsere Gegenübertragung zu verstehen, indem wir über das, was geschieht, nachdenken, unsere Gedanken auf eine Art, die ihrer derzeitigen psychischen Verfassung entspricht, in Worte fassen und ihnen so allmählich Zugang zu ihrer inneren Welt ermöglichen. Das ist ein Prozess, der viel Zeit braucht. Denn das Unbewusste ist ja bevölkert von Relikten aus der frühesten Kindheit (Melanie Klein nennt sie unbewusste Phantasien), vergleichbar den urzeitlichen Monstern Jules Vernes in seiner „Reise zum Mittelpunkt der Erde“. Dass er diese Monster in der Gestalt von erbarmungslos sich bekämpfenden und tötenden Dinosauriern auftreten lässt, passt zu dem archaischen Charakter der Phantasien, an denen unsere Patienten leiden: Auch diese sind in Wirklichkeit längst „ausgestorben“. Auf der Vernunftebene wissen wir alle, dass man an Missempfindungen wie Hunger und Frieren erst einmal nicht zugrunde geht. Wir wissen, dass wir uns selbst helfen und solche Zustände beheben können. Wir wissen auch, dass unser Hass und unsere Wut unsere geliebten Menschen nicht töten können.

Und dennoch empfinden wir und ganz besonders unsere Patientinnen immer wieder Angst, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit, auch wenn real betrachtet kein Grund dafür vorhanden scheint. Aber eine unter Panikattacken leidende Jugendliche darauf hinzuweisen, hilft ihr nicht; sie wird diesen Attacken immer weiter ausgeliefert sein, solange sie keinen Zugang zu ihren unbewussten Phantasien hat, die ihr Fühlen und Handeln bestimmen. Eine solche Phantasie könnte sein: Meine Wut ist so groß, dass sie die Mutter töten würde, wenn ich sie herausließe, und mich mit, weil ich existenziell abhängig bin von ihr (da Selbst und Objekt im Erleben der frühen Kindheit ja noch nicht voneinander getrennt sind). Also muss ich sie um jeden Preis zurückhalten, um zu überleben. Da das, wie Freud schreibt, zeitlose Unbewusste Tod und Endlichkeit nicht kennt, bleiben auch seine Inhalte in Form der unbewussten Phantasien wirkmächtig, so lange, bis sie im Licht des Bewusstseins zerfallen.

Solche Patientinnen neigen dazu, ihre Analytikerin zu idealisieren und jegliche Kritik an ihr zu vermeiden. Sie wirken wie die freundlichen, heiteren „Elois“ in der „Zeitmaschine“, die all ihre dunklen Persönlichkeitsanteile abgespalten haben in eine innere Unterwelt, bevölkert von Monstern wie den „Morlocks“. Das wäre die psychodynamische Interpretation der Geschichte (neben der auf der Hand liegenden Sozialkritik H. G. Wells). Unsere Aufgabe im Umgang mit diesen Patientinnen ist nun zunächst, die Idealisierung unserer Person zuzulassen und die Spaltung ihrer inneren Welt nicht vorschnell aufzuheben. (In Wells‘ Geschichte hat die durch den Zeitreisenden erzwungene Konfrontation der „Elois“ mit den „Morlocks“ katastrophale Auswirkungen, denen sich der Protagonist nur durch Flucht entziehen kann.) Denn das Ich muss erst erstarken, bevor es die abgespaltene Aggression integrieren kann. Mit anderen Worten: es muss erst ein innerer Raum im Patienten entstehen (mit Bion gesprochen: ein Container), der die bisher abgespaltenen unerträglichen Gefühle aufnehmen, halten und in erträgliche Gefühle umwandeln kann. Und wie entsteht ein solcher innerer Raum?

Er entsteht über den Raum in der analytischen Situation, der es ermöglicht, alle in der Übertragung andrängenden Gefühle aufzunehmen und in der Beziehung zur Analytikerin wiederzuerleben, durchzuarbeiten und in das Selbst zu integrieren. Das ist natürlich eine Idealvorstellung. In Wirklichkeit ist die Raumgewinnung in der Analyse eine diffizile Angelegenheit. Wir verstehen nämlich die unbewussten Botschaften unserer Patienten nicht ohne weiteres. Wir reagieren auf sie, spielen ihr Spiel mit, geraten mit ihnen in Sackgassen und ringen um ein Verständnis dessen, was sie bei sich selbst nicht verstehen. Und dieser Prozess ist notwendig: Wir müssen uns auf sie einlassen, ihr Spiel mitspielen, sonst würden wir nicht erleben, wie sie mit sich selbst und ihren Objekten umgehen unter dem Einfluss ihrer unbewussten Phantasien. Und wie sie sich wirklich fühlen in den Beziehungen zu sich selbst und anderen. Aber irgendwann ist unser „innerer Analytiker“ gefordert, seine Arbeit zu tun, nämlich darüber nachzudenken, was mit uns, dem analytischen Paar (Ferro) geschieht. Und dann erst können wir, wie oben beschrieben, unseren Patienten den Zugang zu ihrer inneren Welt ermöglichen. Hier ist unsere Fähigkeit zu pendeln gefragt: pendeln zwischen Agieren und Reflektieren (Klüwer) und dabei auch zwischen paranoid-schizoider und depressiver Position. Mit dieser gemeinsamen Bewegung des analytischen Paares im Raum der Analyse können sich die allmählich ich-stärker werdenden Patienten identifizieren und so einen eigenen inneren Raum in sich entfalten, in dem sie selbst über ihre Gefühle nachdenken und diese entsprechend ihren erstarkten Ich-Fähigkeiten modifizieren lernen. Und der es ihnen ermöglicht, sich nach Beendigung ihrer Analyse selbstreflexiv weiterzuentwickeln. Vielleicht könnte man hier, analog zum „inneren Analytiker“ vom „inneren Analysanden“ sprechen.

Dabei erscheinen mir zwei Dinge von besonderer Bedeutung:

  1. Bei Patienten mit fragiler Ich-Struktur wäre es gefährlich, ihnen zu viel Raum zu lassen, also etwa zu lange zu schweigen. Die Angst vor den im Raum andrängenden unbewussten Phantasien würde zu stark ansteigen und ihre Denkfähigkeit weiter einschränken, denn Angst macht dumm. Bei solchen Patienten muss der Analytiker, besonders zu Beginn der Analyse, den Raum ein Stück weit „möblieren“, indem er aktiver und strukturierender vorgeht, dabei auch in seiner realen Persönlichkeit sichtbarer wird als bei ich-stärkeren, neurotischen Patienten. Man könnte dies so zusammenfassen: Was Frühgestörte stärkt (nämlich eher wenig Raum), schwächt Neurotiker. Und umgekehrt: Neurotiker profitieren von einer stärkeren Selbstzurücknahme (Zwiebel) des Analytikers, weil sie aufgrund ihrer vorhandenen Ich-Stärke den analytischen Raum eher nutzen können zur Integration ihrer sich in der Übertragung entfaltenden Wünsche. In der Einschätzung, wieviel Raum eine Patientin braucht, hilft das Verständnis des Widerstands als „Bremse“ – eine Formulierung Johann Zauners. Was bedeutet, dass Analytiker gut daran tun, den Widerstand ihrer Patienten zu beachten, die damit für sich sorgen, wenn der Sog in die Regression zu groß wird, und so das Tempo ihrer Analyse regulieren. Die also durch ihren Widerstand signalisieren, ob die Weite des ihnen zur Verfügung gestellten Raums ihrer Entwicklung förderlich oder hinderlich ist.
  2. Der Weg zur Gesundung führt ganz entscheidend über die negative Übertragung. Die analytische Situation mit all ihren Begrenzungen (Rahmen, Selbstzurücknahme der Analytikerin, lange Dauer des analytischen Prozesses, etc.) wirkt unweigerlich enttäuschend auf den Patienten. Und Enttäuschung macht wütend. Wenn er wagt, diese Wut auszudrücken, fließen alle unverdauten Enttäuschungen seines bisherigen Lebens mit ein, und seine im Unbewussten angesammelte Enttäuschungswut trifft die Analytikerin mit voller Wucht. Wenn dann die Analytikerin im Sinne Winnicotts (1983) den Hass des Patienten überlebt, was bedeutet, dass sie weder tot umfällt noch sich für seine Angriffe rächt, bietet dies die Chance zur Integration der Aggression. Und ohne Integration der Aggression gibt es keine Milderung der Angst.

Ein Beispiel aus der psychoanalytischen Ausbildung

Auch heute, wo ich keine Analysen mehr durchführe, hilft mir das Pendeln zwischen Agieren und Reflektieren, und ich erlebe es als erhellend, befreiend und entlastend, wenn es gelingt. Als Ambulanzleiterin unseres Ausbildungsinstituts hatte ich eine Mutter in einer Sprechstunde kennengelernt, die Therapie für ihren kleinen Sohn wünschte. Sie machte sich Sorgen, dass der Vierjährige ein für die ganze Familie erschreckendes Erlebnis nicht ohne Hilfe bewältigen könnte. Der Vater war unter dramatischen Umständen verhaftet worden: In den frühen Morgenstunden hatten vermummte und bewaffnete Polizisten eines SEK die Wohnung der Familie gestürmt, durchsucht und dabei auch die Kinder aus den Betten gezerrt. Ich war beeindruckt, wie gefasst die Mutter in der Situation reagiert hatte. Sie war äußerlich ruhig geblieben und ganz darauf fokussiert, ihre drei Kinder zu schützen. Ich hielt eine Diagnostik für sinnvoll und vermittelte die Familie an eine junge Kandidatin, die daraufhin im Rahmen ihres Anamnesenpraktikums einige Sitzungen mit Mutter und Sohn durchführte. Jede Anamnese wird mit ein bis zwei Supervisionen begleitet und mit einer sogenannten Zweitsicht abgeschlossen, einer gemeinsamen Sitzung von Familie, Kandidatin und Supervisorin.

Während der Anamnesenerhebung passierten merkwürdige, mich sehr irritierende Missverständnisse und Fehlleistungen: Meine Verabredungen mit der Kandidatin zur Supervision klappten mehrmals nicht, und dann vergaß ich auch noch den vereinbarten Zweitsicht-Termin! Konkret: die Kandidatin wartete mit der Familie im Institut auf mich und fragte telefonisch nach, wo ich denn bliebe, worauf ich ins Institut eilte. So etwas kenne ich eigentlich nicht von mir und es war mir äußerst peinlich. Als dann die Kandidatin den Fall im Anamnesenseminar (einem Seminar, das während des Anamnesenpraktikums besucht wird und das ich in dieser Zeit mit einer Kollegin leitete) vorstellte, kam es zu einer weiteren merkwürdigen, mich wiederum stark irritierenden Situation: Die Kandidatin war voller Bewunderung für die starke, empathische Persönlichkeit der Mutter, die den Schicksalsschlag der unerwarteten Inhaftierung ihres Mannes so gut bewältigte und für ihre Kinder so liebevoll sorgte, und ich teilte diese Bewunderung aufgrund des Berichts der Kandidatin und meiner zweimaligen Begegnung mit der Mutter. Andere Teilnehmerinnen der Seminargruppe wurden misstrauisch und zogen die Integrität und Kompetenz der Mutter in Zweifel. Sie fragten bspw., wie es sein könne, dass die Frau jahrelang scheinbar nichts gemerkt habe von den kriminellen Machenschaften ihres Ehemannes, ob sie womöglich selbst involviert gewesen sei… Ich unterbrach mehrmals die Teilnehmerinnen, wies deren Einwände, die mich ärgerten, zurück (auch das ist eigentlich nicht meine Art). Später, als ich nach dem Seminar nach Hause fuhr, schämte ich mich dafür. Dann endlich fing ich an nachzudenken.

Meine Serie von Fehlleistungen in diesem Fall, mein Ärger über die kritischen Anmerkungen der Kandidatinnen, meine Scham über mich selbst – was hatten diese Gegenübertragungsreaktionen mit der Familie zu tun? Ärger und Scham kamen weder in den Sitzungen mit der Mutter noch im schriftlichen Anamnesenbericht der Kandidatin vor. Offensichtlich hatten wir (die Kandidatin und ich) uns blenden lassen von den Stärken der Mutter, und wir wollten beide nicht genau hinsehen, uns das Idealbild, das wir von dieser Frau gewonnen hatten, nicht kaputt machen lassen. Wut musste sie empfunden haben, zumindest darüber, von dem Mann, dem sie vertraut hatte, jahrelang hintergangen worden zu sein. Und Scham, auf ihn hereingefallen zu sein.

Im darauffolgenden Seminar stellte ich meine Reflexion der Gruppe zur Verfügung, die das mit Interesse und Erleichterung aufnahm. Eine Teilnehmerin meinte, sie habe sich schon über mich gewundert, da sie mich so gar nicht kenne. Es wurde klar, dass die Spaltung, mit der die Mutter versuchte, die für sie traumatische Situation zu bewältigen, sich in der Gruppe konstelliert hatte: die Kandidatin und ich sahen nur die ideale Seite der Mutter, die Gruppe nahm ihre abgewehrte, dunkle Seite wahr. Die Häufigkeit der Fehlleistungen in der Gegenübertragung und die affektive Heftigkeit in der Gruppendiskussion weisen auf die Rigidität der Abwehr hin und diese wiederum auf die unbewusst phantasierte Gefährlichkeit des Abgewehrten. In Wahrheit brauchte nicht der Junge Therapie, sondern die Mutter.

Schluss

Noch ein paar Gedanken zur Verflechtung von Theorie, Praxis und Selbstreflexion in meiner beruflichen Entwicklung, die zwangsläufig auch eine persönliche war und immer noch ist. In Stresssituationen, Machtkämpfen, scheinbar ausweglosen Konflikten – immer, wenn unter dem Ansturm heftiger Affekte der Denkraum zusammenzufallen droht, hilft es, auf eine tiefere (oder höhere) Ebene zu wechseln, vergleichbar einer Unterführung (oder Brücke), die es ermöglicht, eine gefährliche Strecke sicher zu kreuzen. Und das gelingt immer dann, wenn die Wiedergewinnung der Denkfähigkeit in einer dritten Dimension neue Möglichkeiten der Begegnung eröffnet. Oft entfaltet sich dieser Denkraum erst im Nachhinein, manchmal durch einen Traum, und meist erst im Austausch mit anderen. Wir können diese Entfaltung nicht erzwingen. Ich empfinde sie jedes Mal als Geschenk. Und finde mich doch immer wieder in einer zweidimensionalen Verstrickung gefangen, die eine erneute Aktivierung meiner Denkfähigkeit erfordert. Dann kann ich nur hoffen, dass mir etwas einfällt, irgendeine erhellende Idee… Jetzt, am Ende dieses Textes, frage ich mich: Kam ich zur Psychoanalyse oder kam die Psychoanalyse zu mir? Wie ich in meinem Vortrag von 2011 formuliert habe: „Theorien finden mich, wenn ich sie brauche“. Ich habe die Psychoanalyse gebraucht, und sie hat mich gefunden.

Literatur

Abbott, E. A. (1982). Flächenland. Ein mehrdimensionaler Roman, verfaßt von einem alten Quadrat. Stuttgart: Klett-Cotta

Abelin, E. L. (1986). Die Theorie der frühkindlichen Triangulation. Von der Psychologie zur Psychoanalyse. In J. Stork (Hg.), Das Vaterbild in Kontinuität und Wandlung. Zur Rolle und Bedeutung des Vaters aus psychoanalytischer Betrachtung und in psychoanalytischer Reflexion. (45-72). Stuttgart Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog

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Annegret Wittenberger

Psychoanalytikerin für Kinder und Jugendliche (VAKJP), Dozentin und Kontrollanalytikerin am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Kassel (DPG/VAKJP). Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kinder- und Jugendlichenanalyse.

Von der Fläche zum Raum.
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