Hamburger Edition, Hamburg. ISBN 978-3-86854-400-8

Ferdinand Sutterlüty, Soziologe an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, befasst sich seit einigen Jahren in einem umfangreichen Forschungsprojekt mit der Frage: wie sieht verdeckter Widerstand in der aktuellen Gesellschaft aus? Nun hat er dazu ein Buch veröffentlicht mit acht Interviews von Personen aus ganz verschiedenen Kontexten unserer Gesellschaft. Bevor hier etwas näher auf drei solcher Interviews eingegangen wird, sollen zunächst einige Gedanken zur Einordnung dieser Interviews aus Sicht der Rezensentin vorgestellt werden.

Der von Jürgen Habermas in den 1990iger Jahren noch propagierte öffentliche Diskurs in der Zivilgesellschaft als bedeutsamem Vermittlungsorgan zwischen Gesellschaft und Politik scheint nicht mehr der Transmissionsriemen zu sein, als den ihn Habermas seinerzeit mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns beschrieben hatte. Neben den sozialen Bewegungen ist die moderne Gesellschaft z. B. mit der Digitalisierung nicht nur durch Rückzüge ins Private, sondern offenbar zunehmend durch anonymisierte, aggressiv getönte und polarisierende Kommentare zum öffentlichen Geschehen gekennzeichnet. Die Landschaft der gesellschaftlichen Akteure ist vielfältiger geworden und manche, früher in zivilgesellschaftlichem Diskurs und Handeln Beteiligte ziehen sich – teilweise frustriert, teilweise engagiert – in eine persönlich verantwortete Gegenbewegung zurück und nehmen das Motto „das Private ist politisch“ ausgesprochen ernst. Wenn der „Marsch durch die Institutionen“ die eigenen Überzeugungen bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern scheint, bleibt vielleicht nur noch dieser Ausweg in ein „Trotzdem“ am Rande, außerhalb des Mainstreams und unterhalb des Radars dieser Institutionen.

Ferdinand Sutterlüty hat nun Menschen aufgespürt, die diese Wege gehen und die ihren Blick auf das alltägliche Leid und die Widersprüche in dieser Gesellschaft eben nicht mit glatten verallgemeinernden Floskeln unbewusst machen oder verdrängen wollen. Mit ihrem Handeln und ihrem alltäglichen Leben „widerstehen“ sie und sie wagen – im Unterschied zu Adornos Diktum, es gäbe kein richtiges Leben im falschen – genau solche Versuche und stehen mit ihrem teilweise verdeckten und nicht immer sichtbaren Engagement auch existenziell dafür ein, wovon sie überzeugt sind. Diese Interviews berühren und bewegen, sie erschüttern zuweilen gerade dann, wenn die praktisch gelebten Antworten radikal und kompromisslos die Finger in die Wunden unserer Gesellschaft legen. Es sind auch weniger Interviews als vielmehr Gespräche, die sich aus der Situation heraus entfalten, aus der Szene, in der sie entstehen. Diese Szenen, in denen sich Gesprächspartner und Gesprächspartnerin treffen, wirken fast immer wie Rahmen, in denen sich die Gesprächsinhalte widerzuspiegeln scheinen. Wir haben hier einen ethnographischen Reisebericht in verdeckte, nicht immer sichtbare Welten unserer Gesellschaft vor uns und er besticht durch das ständige Bemühen um Verstehen. Im Folgenden werden einzelne dieser Gespräche vorgestellt, es sind einige derjenigen Gespräche, die die Rezensentin nachhaltig bewegt haben.

So etwa die Geschichte des Seenotretters Josef Lose. Er holt den Autor vom Zug ab und fährt mit ihm in seinen kleinen Heimatort. Auf dem Weg dorthin weist er ihn auf frühere Uferbefestigungen von Zwangsarbeitern hier in der Gegend hin, Informationen, die er aus Gesprächen mit lokalen Zeitzeugen erhalten hatte. Herr Lose engagiert sich offenbar für Flüchtlinge, und am Morgen des Interviews hatte er schon mit einem Staatsanwalt telefoniert, um diesen über die Lage eines Flüchtlings, der ausgewiesen werden sollte, zu informieren. Dann beschreibt er eindrucksvoll, wie eine kleine Gruppe von Freunden bei dem Vorhaben, mit ihrem Segelboot eine Atlantiküberquerung zu machen, einmal ein Training bei der Bundeswehr für Zivilisten absolviert und dabei die Verfahren einer Seenotrettung ganz praktisch kennengelernt hatte. 2013, als sie losstachen, war gerade im Mittelmeer wieder ein Schiff gesunken und sie hatten sich gefragt: sind wir nicht in der falschen Richtung unterwegs? Diese Frage hatte ihn nicht losgelassen und nach Trainingstreffen, bei denen Seenotrettung geübt worden war, hatte er 2016 seinen ersten Einsatz auf einem Seenotrettungs-Schiff im Mittelmeer. Wie verarbeitet man solche Einsätze, bei denen man mit 12 Personen Besatzung 160 gerettete Menschen versorgt?  Wie markiert man Leichen, die dann durch die Küstenwache geborgen und beerdigt werden können, was geht in einem vor, wenn man tote Kleinkinder oder ein totes Baby bergen muss? Die Gespräche mit Ferdinand Sutterlüty drehen sich um die ganz konkreten Erlebnisse, dann um die Frage nach den Ursachen der Kriege. Aber Josef Lose thematisiert auch, dass er sich immer wieder von diesen großen Fragen löst: weil sie ihn ablenken von der direkten Hilfe. Man erfährt im Gespräch, wie er zu diesem Engagement gekommen ist und welche biographischen Wurzeln dazu beigetragen haben, aber auch, wie er sich im Kontext auch seiner beruflichen Unterstützung für Flüchtlinge mit bürokratischen Vorgängen auseinandersetzt. Schließlich sagt er, dass die Menschen, um die er sich kümmert, an der Logik unserer Wohlstandssicherung zerschellen. „Dem System tut es nicht weh, weil es einfach seine Eigenlogik vollzieht“ (a.a.O. S.35).

Als zweites Beispiel aus dem Buch soll hier die Reinigungskraft zu Worte kommen. Iwona Szrenicaska ist in Polen geboren und hat zunächst eine Weile auf einer italienischen Insel gearbeitet, ehe sie wegen einer Erkrankung nach Deutschland wechselte. Sie durfte sich nicht mehr länger in der Sonne aufhalten. Das Gespräch ist ein Beispiel dafür, wie verdeckter und offener Widerstand zusammenwirken können und wie jemand beharrlich und kompromisslos für seine Würde und die von anderen Kollegen und Kolleginnen einsteht, sich immer wieder über die eigenen Rechte schlaumacht und erlebter Ausbeutung und Demütigung mit ziemlich gut durchdachten Mitteln oft sehr erfolgreich Widerstand leistet. Das Gespräch findet auf dem Campus der Universität statt und als der Autor ihr den Weg dorthin erklären will, unterbricht sie ihn mit den Worten: „Ich bin nicht dumm“. Sie atmet etwas schwer und hat eine akute Rippenverletzung, wie sie später erzählt. Leider war diese durch die Behandlung eines Orthopäden entstanden, der sich mit der Absicht, eine Bandscheibe wieder zurechtzurücken, mit ganzer Kraft auf sie gelegt hatte und ihr dabei sechs Rippen gebrochen und den linken Lungenflügel verletzt hatte. Auch hier zeigt die „Rahmengeschichte“ des Interviews, dass diese Frau ganz offensichtlich ein Lied davon zu singen weiß, was wenig umsichtige, auch lieblose und unachtsame Behandlungen in ihrem Leben immer wieder ausgerichtet haben. Es zeigt aber auch, dass und wie sie sich eindrucksvoll dagegenstemmt. So beschreibt sie in allen bedrückenden Einzelheiten verschiedene Ausbeutungssituationen, in die sie als Reinigungskraft gekommen ist. Ob ihr nun öfter mal der Lohn einfach nicht ausgezahlt wird, ob sie im Blick auf die Leistungen betrogen wird, ob sie diskriminierende Verhaltensweisen erlebt und beobachtet – immer wieder und zunehmend deutlicher leistet sie Widerstand und macht sich bei der Gewerkschaft über ihre Rechte kundig. Die Erfolge, die sie durch kreative Gegenwehr gegenüber Hotelmanagerinnen oder anderen Direktoren erreicht, sind sehenswert. Mit einem kurzen Wortwechsel, den sie dann in einer Straßenbahn führt, soll diese Darstellung beendet werden. Ein Mann besetzt drei Plätze gleichzeitig und macht keine Anstalten, die Plätze freizugeben, als sie mit einer anderen – farbigen – Kollegin einsteigt. „Ihr Ausländer kommt hierher und klaut uns hier die Arbeitsplätze“ – seine Frau suche Arbeit und finde nichts. Als sie dann antwortet, er könne gerne die Nummer ihrer Firma haben, die suchten nämlich Reinigungskräfte, prustet er los: „Was, meine Frau eine Putzfrau?“ „Also“, antwortet sie dann ganz gelassen: „… können wir Ihrer Frau die Arbeitsplätze ja auch nicht wegnehmen“.

Das letzte Gespräch, auf das hier eingegangen werden soll, findet auf einem kleinen Bauernhof in den Alpen statt. Ein Ehepaar – Franz und Cornelia – betreibt – weitgehend in Selbstversorgung – eine kleine „schöne“ Landwirtschaft, die der Mann von der Mutter übernommen hatte, seine Frau war mit eingezogen. Sie haben inzwischen 5 Kinder und 5 Enkelkinder und haben sich immer klarer für diese Subsistenz-Wirtschaft entschieden. Sie sprechen auch von „sozialer Subsistenz“, denn zu dieser Art von bäuerlichem Wirtschaften gehört für sie auch die „schöne“ Nachbarschaft, die guten verwandtschaftlichen Beziehungen und das ganze soziale Leben im Dorf dazu – ihre Erzählungen machen deutlich, wie sehr sie das trägt, sie genießen den Gestaltungsspielraum, den sie haben. Der Begriff „schön“, der hier auffällt, macht aber den Zusammenhang von „schön“ und „gut“ deutlich – es ist eben nicht nur gut, es ist auch schön, d. h. hier werden Ressourcen „geschont“ und das ist für sie auch ästhetisch stimmig, es ist auch lebenswert.

„Vieles, was wir zum Leben brauchen, ist reichlich vorhanden“ – aus ihrer Sicht werden die vorhandenen menschlichen und sonstigen „Potenziale“ durch die Maschinen und die zunehmende Größe der Betriebe verdrängt. Das Pferd ist immer noch Mittel für den Transport von allem, was sie auf den Wiesen an Heu ernten.

Deutlich werden aber auch die Schatten, die durch die EU-Regularien geworfen werden. So dreht sich das Gespräch um die Frage nach dem grünen Tierwohl, mit dem eine „Laufstalllösung“ für die Kühe verbunden ist – die EU fördert damit den Bau immer größerer Ställe, denen die Weideflächen andererseits in diesem kleinen Betrieb nicht entsprechen können. Franz vergleicht im Gespräch diese Anforderung mit einer, von der er kürzlich im Bereich KiTa gehört hat: hier sollen in den Kitas „Lernlandschaften“ entstehen – er sah unmittelbar den Vergleich zu seinen „Laufställen“, und fragte sich, ob nicht ein Waldkindergarten, wo nur ein kleines Hüttchen stehe und die Kinder viel selbst- und eigenständiger die Natur erkunden könnten, den Lernbedürfnissen viel mehr entsprechen könnte.

Das Gespräch findet auf dem Hof statt und so wird der Autor auch in das Heuen einbezogen und steigt damit für ein paar Stunden direkt in den Alltag und die Arbeits- und Lebenswelt der beiden ein. Er wird auch vertraut gemacht mit den Momenten, wo die beiden „widerstehen“ müssen, wo sie den EU- Regeln der Landwirtschaft bewusst etwas entgegensetzen und mit ihrem Eigensinn und nachdenklich machenden Überlegungen für eine andere, eine ökologisch nachhaltigere Wirtschaft einstehen.

Wenn man nach einigen Tagen der Lesefreude und der immer neuen und überraschenden Entdeckungen dieses Buch an die Seite legt, fragt man sich durchaus, ob man diese Art von Widerstehen, von Eigensinn und Beharrlichkeit verallgemeinern könnte. Was wäre, wenn wir alle so leben würden? In einem bemerkenswerten Beitrag im Deutschlandfunk über sein Buch (https://www.deutschlandfunk.de/machen-statt-meckern-menschen-die-mutig-missstaende-ueberwinden-100.html ) hat Ferdinand Sutterlüty selbst eine Antwort darauf gegeben. Er sagt: ist nicht jedes Leben, was gelebt wird, einzigartig und unvergleichbar? Tatsächlich wird man sagen können, dass in diesem Buch beeindruckende Zeugnisse von Nachhaltigkeit, von Widerstehen gegen Würdelosigkeit und soziales Unglück, gegen Ausbeutung und Erniedrigung geschildert werden. Die Rezensentin konnte dabei viele Anregungen entnehmen, die in jedem anderen Leben umgesetzt werden könnten. Eine lesenswerte Lektüre.

Im Mai 2025

Bernadette Grawe

Buchbesprechung: Ferdinand Sutterlüty (2025): Widerstehen. Versuche eines richtigen Lebens im falschen