Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, den ich beim Kompasstag „Vertrauen in die Gruppe – Zur gruppenanalytischen Perspektive in der Supervision“ der DGSv am 16. Mai 2025 in Hamburg gehalten und für diesen Beitrag überarbeitet und erweitert habe.
Szene eines unzureichenden professionellen Habitus
Am 15. Juni 2024 berichtete die Badische Zeitung unter der Überschrift „Die Fronten sind verhärtet“ über den erneuten, dritten Prozess gegen den Fußballspieler Jérôme Boateng wegen Körperverletzung an seiner Ex-Freundin. 2021 war er vom Amtsgericht München zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt worden. „In der Berufung erhielt er im Oktober vom Landgericht 120 Sätze zu 10.000 Euro. Die Revision kritisierte dieses Urteil wegen Fehlern beim Prozess. So hatte der Vorsitzende Richter selbst mitberaten über einen Befangenheitsantrag gegen ihn.“ (Badische Zeitung Nr. 136/24, 79. Jg. vom 15. Juni 2024, S. 15)
Wenn die professionelle Habitualisierung misslingt, zeigt sich das in solchen Szenen: ein Richter befindet über seine eigene Befangenheit. Fälle einer unzureichenden professionellen Kompetenz begegnen Supervisorinnen und Supervisoren auch in der supervisorischen Praxis. Man sagt dann, dass jemand aus der Rolle gefallen sei. Ohne weitere Reflexion wird intuitiv erfasst, dass etwas schief gelaufen ist, denn es besteht eine innere Vorstellung davon, was zu einer adäquaten Berufsausübung gehört und was nicht. Und das bezieht sich nicht nur auf die Gestaltung einer Rolle, sondern auf die Haltung insgesamt, den beruflichen Habitus. Der Habitus-Begriff, der von dem Soziologen Pierre Bourdieu (1930 bis 2002) geprägt wurde, ermöglicht es, auf eine professionelle Kompetenz übertragen, die Zusammenhänge der intuitiven Wahrnehmung gedanklich nachzuvollziehen.
Der soziale Habitus
Der berufliche Habitus ist ein Teil-Habitus des sozialen Habitus des Menschen und stellt eine Verkörperung seiner beruflichen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster dar. Der Körper ist in einem fundamentalen Sinn Bedeutungsträger und soziales Ausdrucks- und Kommunikationsmittel. Er ist nie nur biologisch, sondern eine Einheit von Biologischem und Sozialem. Es gibt keine Körperhaltung und keine Geste, die nicht von der Gesellschaft mit Bedeutung belegt wird. Somit fungiert der menschliche Körper als Bedeutungsträger. Dadurch konstituiert sich nach Bourdieu der soziale Habitus in Interaktionsmustern. Er ist mehr als eine Haltung oder Einstellung, da er eine in den Körper eingeschriebene Ordnung darstellt. Es sind einverleibte Verhaltensmuster, die in einem sozialen Kontext unvermeidbar angeeignet wurden und sich dann wieder in den aktuellen Interaktionen Geltung verschaffen. Dieser Prozess, in dem sich habituelle Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster herausbilden, ist ein weitgehend unbewusster. Der Habitus geht zurück auf die frühen Erfahrungen des Kindes mit seinen erwachsenen Bezugspersonen in den familiären Verhältnissen. Grundlegende gesellschaftliche Muster und Bedeutungen werden auf diese Weise angeeignet. Nach Bourdieu sind die fundamentalsten sozialen Muster auf der habituellen Ebene in den Individuen verankert. Mit der verleiblichten Symbolik fungiert der Körper selbst als das wesentliche soziale Mittel zur Kommunikation und es fällt dem Individuum schwer, hierzu eine distanzierte und bewusste Haltung einzunehmen. Da die Verkörperung symbolisiert ist (z.B. in Blick, Mimik oder Haltung), kann sie intuitiv, d.h. ohne rational-verstandesmäßige Aktion, erfasst werden (siehe Holger Brandes in Gruppenanalyse. Zeitschrift für gruppenanalytische Psychotherapie, Beratung und Supervision 2005 (15. Jg), Heft 2, S. 151–169).
Der supervisorischer Teil-Habitus und die supervisorische Haltung
Der soziale Lernraum der supervisorischen Weiterbildung soll – analog zu den beruflichen Qualifizierungsprozessen von beispielsweise Lehrer*innen, Ärzt*innen oder auch Richter*innen – so gestaltet sein, dass ein Prozess der beruflichen Habitualisierung ermöglicht wird, wie für die Gestaltung der supervisorischen Rolle erforderlich. Das bedeutet die Ausbildung dauerhafter Dispositionen inkorporierter Einstellungs-, Wert- und Verhaltensmuster, die von dem zur Professionstheorie forschenden Soziologen Ulrich Oevermann (1940 bis 2021), als professioneller Habitus bezeichnet werden. Als Ausdruck von bewährten Krisenlösungen ist ein Habitus ins Körpergedächtnis eingeschrieben, steht somit spontan und unmittelbar zur Verfügung. Bourdieu verweist darauf, dass ein Habitus nicht angeboren ist, sondern sozial erlernt. Die Habitualisierung erfolgt – sozial vermittelt – über Imitation, Identifikation und Krisenlernen. Der Habitus verhilft – in der beruflichen Rollengestaltung – vor allem bei der Bewältigung von Unsicherheit.
Die Professionalisierungsthematik in der Auseinandersetzung mit Bourdieus Habitustheorie steht seit annähernd zehn Jahren im Mittelpunkt des Diskurses in der Supervision (Entwicklungskommission der DGSv 2017). Mit der grundlegenden Darlegung zum professionalisierten supervisorischen Habitus haben Bernadette Grawe und Miquel Aguado einen maßgeblichen Beitrag zum fachlichen Diskurs geleistet (In puncto Standards No. 1). Sie zeigen auf, wie sich der supervisorische Habitus primär durch Selbstreflexion und eigene Krisenbewältigung entwickelt „und dass der Ausweis professionalisierter Praxis nicht primär darin besteht, Methoden und Techniken anzuwenden, sondern Dialektiken und Paradoxien zu balancieren. Supervisorische Praxis … besteht vor allem aus einem Komplex von Dialektiken, die sich … aus reflektierten Krisenbewältigungen, der Gestaltung eines Arbeitsbündnisses und dem Erwerb einer Kunstlehre ergeben.“ (M. Aguado, Krisenbewältigung und Professionalität von Supervision. Masterarbeit 2019, S. 98) In der supervisorischen Praxis müssen in großem Umfang Widersprüchlichkeiten, Paradoxien und Dialektiken balanciert werden, insbesondere im Umgang mit Krisen und deren Bewältigung sowie bei der Reflexion dieser Prozesse.
Der professionelle Habitus besteht aus Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern. Mit ihrer Hilfe wird die kompetente und spontane Bewältigung supervisorischer Alltagspraxis ermöglicht.
Wahrnehmungsmuster sind affektiv verankert und betreffen z.B.
- Selbst- und Fremdwahrnehmung,
- Ausblendungen („blinder Fleck“),
- Abwehrmechanismen und Vermeidungen,
- Gefühlswahrnehmung.
Denkmuster sind kognitiv verankert und betreffen z.B.
- Überzeugungen und Gedanken,
- Einstellungen und Ansichten,
- Bewertungen und Beurteilungen.
Handlungsmuster sind routinisiert und betreffen z.B.
- Handlungsroutinen,
- Umgangsformen,
- Auftreten und die Ausdrucksweisen,
- Stile,
- Darstellung und Gesten.
Der in der Weiterbildung durch Identifikationslernen und Krisenlernen erworbene supervisorische Habitus befähigt Supervisorinnen und Supervisoren zu einer Haltung, die Gruppen und Teams fordert und fördert, ihre Ressourcen und Kompetenzen in der Zusammenarbeit zu nutzen.
In der analytisch fundierten Supervision wird beispielsweise das supervisorische Arbeitsbündnis explorierend entfaltet. Wenn Supervisor*innen und Supervisand*innen aufeinandertreffen, kommt die Fähigkeit ins Spiel, Nichtwissen zuzulassen. Der supervisorische Habitus erfordert dabei die Aufnahmefähigkeit für Ungewusstes, die Fähigkeit, die Spannung und Verwirrung des Nichtwissens zu ertragen, anstatt einer mehrdeutigen Situation (Ambiguität) vorgefertigte Gewissheiten aufzuzwingen. Analog der „negative capability“ von W.R. Bion (1897 bis 1979) wenden Supervisorinnen und Supervisoren so die genuin gruppenanalytische „Technik“ des Containments an, in der die mit dem Nichtwissen verbundene Spannung nicht aufgelöst, sondern gehalten wird. Der Begriff „Technik“ steht im analytischen Sprachgebrauch für die Einheit von Haltung und Interventionsverhalten. Damit ist keine Methode gemeint, sondern die Stimmigkeit des Handelns.
Der Habitus und das Vertrauen in die Gruppe
Immanuel Kant schreibt 1784 in dem Artikel „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft 1784, S. 481–494): „Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu entwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu thun. Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich.“ Hier spricht Kant weit vor der Entstehung der gruppenanalytischen und gruppendynamischen Verfahren wie einer, der Erfahrung mit Gruppen hat. Er sagt, um sich über sich selbst und die Welt klar zu werden, braucht man die anderen. Selbst Denken ist nur möglich, wenn man zusammen mit anderen denkt und sich zu ihrem Denken ins Verhältnis setzt. Vernunft ist eine soziale, gemeinschaftliche und kommunikative Angelegenheit. An der Vernunft müssen wir gemeinsam arbeiten.
Und über das Vertrauen in die Gruppe schreibt Cornelia Edding: „Von Gruppen habe ich gelernt, ihren Entwicklungsmöglichkeiten zu vertrauen. Wenn man sie nur läßt, werden sie weiterkommen und ihre Fragen klären.“ (Cornelia Edding in Gruppendynamik 27. Jg. 1996, Heft 3, S. 264).
Es geht darum, Zutrauen in die Gruppe und in ihre Lösungsfähigkeit zu entwickeln. Welche Habitualisierung erfordert diese Grundhaltung des Vertrauens?
Dazu leistet der gruppenanalytische Ansatz einen Beitrag, der der supervisorischen Arbeit mit Gruppen und Teams Orientierung geben kann.
Die Grundhaltungen der gruppenanalytischen Arbeit und ihr Nutzen für die Supervision
Wie für die Supervision beschrieben, entwickelt sich in der gruppenanalytischen Weiterbildung auch ein Habitus. Er wird üblicherweise mit „Grundhaltung“ bezeichnet, dem Begriff der analytischen Haltung entsprechend.
Das Zutrauen in die Fähigkeiten der Gruppe und ihrer Mitglieder gehört zu den Grundhaltungen der gruppenanalytischen Arbeit. Dabei wird die Gruppe verstanden als Möglichkeitsraum für Entwicklung und Veränderung, als „potential space“ nach D.W. Winnicott (1896 bis 1971), in dem die Suche nach Kohärenz maßgeblich ist, nicht nach Kohäsion, also nach bedeutsamen Zusammenhängen und nicht nach Zusammenhalt.
Die forschende Haltung
Gruppenanalyse ist nach dem Begründer S.H. Foulkes (1898 bis 1976) einerseits eine Therapieform für Gruppen, andererseits eine Methode zur Erforschung des Handelns von Individuen in Gruppen. Das ist vergleichbar mit Kurt Lewins (1890 bis 1947) Feldtheorie der Gruppendynamik und den „Training-cum-Research“-Gruppen des Tavistock Institute of Human Relations. Somit ist die Orientierung am sozialen Feld ein Spezifikum der gruppenanalytischen Arbeit.
Der Aspekt der forschenden Praxis ist für die Supervision von Relevanz: Es werden Erkenntnisse über soziale Interaktionen und ihren individuellen Hintergrund generiert. Dafür postuliert Foulkes die analytische Haltung als „common ground“ des Gruppenanalytikers, die von der Unteilbarkeit von Behandeln und Forschen ausgeht.
Diese Haltung ist mehrdimensional:
- Vertrautheit mit den klinisch-metapsychologischen Grundlagen der Gruppenanalyse (Dimension des Wissens)
- Kenntnis und Handhabung der Grundprinzipien („Technik“): non-direktiv, nicht-manipulativ, klärend, interpretierend, verbalisierend (Art der Intervention)
- gleichschwebende Aufmerksamkeit, wesentlich nicht urteilend, beobachtend (erforderliche Haltung)
Das heißt konkret:
- Urteilen und Bewerten in der Schwebe zu halten,
- das Verstehen-Wollen zurückzustellen zugunsten der Beschäftigung mit dem Noch-nicht-Gewussten und Noch-nicht-Bewussten,
- gleichschwebend aufmerksam-sein auf das Unbekannte, das zum Vorschein kommt,
- die Fähigkeit mit Ungewissheiten und Zweifeln zu leben, ohne irritiert nach Tatsachen und Gründen zu greifen.
Die Bedeutung des Unbewussten
Der Grund dafür ist, dass jedes analytische Verstehen wegen des Unbewussten notwendigerweise chronologisch nachträglich ist, inhaltlich vorläufig und auf immer unabgeschlossen. Der Schweizer Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler (1919 bis 1984) hat das anschaulich geschildert: „In der analytischen Beziehung entwickelt sich immer aus dem emotionalen Angebot des Analytikers ein Echo des Analysanden. Dieses emotionale Echo enthält die Reste und trägt die Spuren der Gäste, die am einst frischgedeckten Tisch des Kindes, das der Analysand einmal war, gesessen, gegessen, gefressen, gewütet, gefastet, verachtet, verschlungen, gespuckt, gestohlen und getrunken haben. Das alles ist in der Vergangenheit versunken. Als Analytiker bin ich der verspätete Gast, der von all dem, was da einst vorging, nichts weiß, nichts versteht.“ (F. Morgenthaler, Technik. Zur Dialektik der psychoanalytischen Praxis. 1978, S. 90).
Die analytische Haltung ist somit der Habitus einer grundlegenden Ambiguitätstoleranz gegenüber der punktuell, aber nicht prinzipiell aufhebbaren Konfliktspannung von Schon-Gewusstem und Unbewussten in der analytischen Situation (D. Nitzgen, Laienanalyse in der gruppenanalytischen Ausbildung. Gruppenanalyse Vol. 4 1994 Heft 2, S. 25–36).
Containment
Mit Bions Begriff des Containment, dem Halten und Aufheben der Gefühle in der Dynamik des Prozesses, ohne sofort zu reagieren oder sie zu entladen, erweitert sich die Aufmerksamkeitshaltung zu einer Grundhaltung, die generell in der analytischen Arbeit eingenommen wird. Sie ist für die (gruppen-)analytische Identität zentral und stellt der supervisorischen Habitus-Auffassung entsprechend den analytischen Habitus dar.
Bei der Leitung von Gruppen kann der Prozess nur förderlich gestaltet werden, wenn die Leitenden das Schwierige containen können. Um das zu vermögen, muss man die Krisen der anderen auch als eigene Krise durchleben, damit innerlich verbunden sein und sie nicht abwehren. Mit der Gruppe geht es weiter, wenn sie das Schwierige durchgearbeitet hat. Weitere Krisen sind nicht ausgeschlossen, können aber auf dem Hintergrund einer solchen Erfahrung auf einem höheren Niveau bewältigt werden.
Konzept der Gruppenmatrix
Was in der Gruppe geschieht, ist Ausdruck aller Gruppenmitglieder. Sie sind in einem unbewussten Beziehungsnetzwerk miteinander verbunden – der Gruppenmatrix, eine von Foulkes entwickelte Vorstellung von der Verbindung des Individuellen mit dem Sozialen in der Gruppe. Das Konzept der Matrix ist ein Instrument, um die unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation zu erkennen. Die gruppenanalytische Grundregel der freien Interaktion und Kommunikation unterstützt diesen Prozess.
Die individuelle Entwicklung erfolgt in der Gruppe und mit der Gruppe. Störungen entstehen im Sozialen und können deshalb auch nur im Sozialen geheilt werden. Spezifisch dafür ist, mit der Gruppe als Ganzem und mit den einzelnen Mitgliedern zu arbeiten, sowie die Analyse von Beziehungsmustern in der Gruppe.
Kommunikation wird als vielfältiges, bewusstes und unbewusstes Netzwerk gesehen. Das Individuum kann als Knotenpunkt in diesem Netzwerk gegenwärtiger und gewordener Beziehungen verstanden werden. Zum Verstehen der Gruppenprozesse ist die Unterscheidung von Figur und Hintergrund, das Gestaltparadigma der Figur-Grund-Differenzierung bedeutsam und das Verhältnis von innen und außen, innerer Welt und äußerer Realität (O.F. Kernberg).
Dazu gehört auch das Denken in sozialen Beziehungen und die Platzierung eines Problems im sozialen Kontext (Norbert Elias, 1897 bis 1990), dem Foulkes die Sicht auf das Soziale verdankt.
Warten als wichtige Grundhaltung
Hier geht es um eine Grundeinstellung, die von der therapeutischen Aufgabe herrührt. Der Analytiker Rudolf Ekstein (1912 bis 2012) (Muß der Psychoanalytiker eine bestimmte Grundeinstellung zu seiner Arbeit haben? In: Kutter, Paramo-Ortega, Zagermann (Hg.) (1993). Die psychoanalytische Haltung. Auf der Suche nach dem Selbstbild der Psychoanalyse. Verlag Internationale Psychoanalyse München, Wien, S. 31-42) hat das an einer Erfahrung mit einem griechischen Kellner, der ihm aufgewartet hat, reflektiert. Im Griechischen bedeutet das Wort ‚therapeia‘ Dienst, Wartung, Pflege, Behandlung und zwar so, dass jemand begleitet wird, einen Weg der Heilung zu beschreiten, der Zeit braucht. Das Verb ‚therapeuein‘ bedeutet ‚sorgen‘, ‚aufwarten‘ und ‚warten‘. Zeit haben und warten können ist also eine Grundhaltung in der Arbeit mit Einzelnen und Gruppen. Warten-können braucht Geduld mit Gruppen und Vertrauen in den Prozess, heißt Raum geben, offenhalten und gewahr werden.
Am Beispiel einer Teamsupervision soll dargestellt werden, wie das Zutrauen in eine Gruppe die Überwindung einer existentiellen Krise ermöglichte – mit Fokus auf eine Schlüsselszene der Supervision. Es folgt eine ausschnittsweise Fallschilderung:
Im Fall geht es um eine Teamsupervision in einer Wohneinrichtung für erwachsene behinderte Menschen, die während der Corona-Pandemie begonnen wurde. Wegen der ab 2022 geltenden bundesweiten Covid-Impfpflicht für Mitarbeiter*innen im Pflege- und Gesundheitswesen, hatten sich im Pflegeteam der kleinen Einrichtung mit zwölf Fach- und Hilfskräften Spannungen entwickelt, die die Funktionsfähigkeit und den Fortbestand des Teams gefährdeten. Die Hälfte der Mitarbeiter*innen war geimpft, während die anderen nicht bereit waren, sich impfen zu lassen. Die gesetzliche Impfvorschrift hatte bereits zwei Mitarbeiterinnen veranlasst zu kündigen. Die Personalsituation war angespannt. Dadurch wurde die Supervisionsanfrage ausgelöst.
Die Einrichtung kämpfte mit den Herausforderungen, die sich durch die Impfpflicht für die Aufrechterhaltung des Dienstplans und die Versorgung der Bewohner*innen ergaben und durch die drohende Auflösung des Teams bei weiteren Kündigungen. Hinzu kam, dass das Thema Impfzwang das Team polarisierte. Die Supervision sollte das Auseinanderfallen des Teams verhindern.
Von Anfang an habe ich eine existentielle Bedrohung wahrgenommen, die mit Macht daherkam und allen Beteiligten Druck machte. Die Corona-Pandemie, bei der es im Falle einer Infektion um Leben und Tod gehen konnte, stand übermächtig im Raum als Frage nach dem Überleben der Einrichtung, des Teams aber auch von mir als Supervisor mit diesem Auftrag. Bereits in den ersten Kontakten erlebte ich, wie die Beteiligten das unbewusste Thema der existentiellen Bedrohung agierten, nämlich handlungsorientiert: Es muss sofort etwas gemacht werden, und zwar Supervision für die Impfverweigerer. Damit waren Projektionen auf den Supervisor verbunden: die Erwartung, durch die Supervision das Dilemma aufzulösen, die Krise abzuwenden und damit eine Rettung zu erfahren.
Drei Fragen brauchten also eine Antwort:
- Aus der Sicht des Trägers die Frage, wie die Einrichtung die Corona-Krise überlebt. Die Bedrohung, der er mit seiner Einrichtung ausgesetzt war, erzeugte Druck, den die Mitarbeiter*innen zu spüren bekamen und ich als Supervisor in der überhöhten Erwartung, das Dilemma mit dem Impfzwang aufzulösen.
- Für das Team die Frage, wie es die Spaltungsdynamik des staatlichen Gesundheitsmanagements überleben kann. Denn der vielfältige Druck (von Seiten des Trägers, der Kolleg*innen, von Angehörigen und von den Gesundheitsbehörden) beförderte die Erosion des Teams.
- Und für den Supervisor stand in Frage, wie er die Sprengkraft des existentiellen Themas in der Supervision mit dem Team überleben kann. Es war nicht auszuschließen, dass das Vorhaben scheiterte.
Schlüsselszene am Beginn der Teamsupervision
Die Supervision begann mit einer Zuspitzung der Krise. Gleich in der ersten Sitzung teilte ein Mitarbeiter mit, er werde die Einrichtung ebenfalls verlassen wie zwei Kolleginnen vor ihm, weil er eine Impfung ablehne und sich nicht dazu zwingen lassen wolle. Ich konnte förmlich sehen, wie das Team auseinander fiel. Die Befindlichkeit der Mitglieder des Teams war angespannt und polarisiert durch ihren jeweiligen Impfstatus (geimpft – ungeimpft) sowie durch die Frage der Nicht-Geimpften nach „Flüchten oder Standhalten“, d.h. die Einrichtung verlassen oder die für September des Jahres angedrohten Sanktionen über sich ergehen zu lassen (nämlich Strafzahlungen oder Gehaltskürzungen). Ich fand mich in einer extrem angespannten Situation wieder.
Die Mitteilung zu kommentieren war in doppelter Hinsicht schwierig, zum einen aus Respekt vor der Entscheidung des Mitarbeiters, zum andern auch wegen der Involviertheit in die Hilflosigkeit angesichts des mächtigen Themas. Zugleich entstand aber die Frage nach dem „Warum“, den Hintergründen. Damit konnten die Supervisand*innen ins Gespräch kommen über ihr eigenes Erleben der angespannten Situation und ihre Befindlichkeit dabei. Es zeigte sich, dass es das Gefühl gab, ungerecht behandelt zu werden, und eine Empörung darüber, dass in den persönlichen Entscheidungsbereich eingegriffen wird, da die Selbstbestimmung der Personen über ihren eigenen Körper aufgrund ihrer beruflichen Rolle eingeschränkt worden war. Einer Berufsgruppe den Zwang zur Impfung zuzumuten, während für die übrige Gesellschaft das Prinzip der Freiwilligkeit galt, war schwer zu verkraften. Dazu kam, dass Mitglieder des Teams erfahren hatten, dass der Druck primär nicht von den Gesundheitsbehörden kam, die angesichts des Fachkräftemangels Verstöße gegen die Impfpflicht vorerst nicht verfolgten, sondern aus dem eigenen Umfeld. Denn es waren Familienmitglieder von Bewohner*innen der Einrichtung, die auf den Träger Druck ausgeübt hatten, dafür zu sorgen, dass nur geimpfte Mitarbeiter*innen die Bewohner*innen versorgen.
Dies verursachte bei den Mitarbeiter*innen eine Kränkung der Berufsehre. Es wurde als ignorant empfunden, da sie mit Hygienekonzepten arbeiteten und genau wüssten, wie sie sich und andere vor Ansteckung schützen können. Sie testeten sich regelmäßig und würden zuhause bleiben, wenn der Test nicht negativ wäre. Das Risiko gehe ihrer Meinung nach von Angehörigen, die ins Haus kommen, selbst aus.
Dass die Pflegenden als Gefahr angesehen würden, würde sie zur Projektionsfläche für die Ängste und Befürchtungen der anderen machen.
Und indem sich das Team mit dem Verlust des Kollegen beschäftigte, kam auch der Ärger über die Rahmenbedingungen zur Sprache, denen sie unterworfen waren.
Die erste Sitzung war initial dafür, dass die innere Bewegung zur Auseinandersetzung mit der eigenen Situation als Mitarbeiter*in und als Team in Gang kam.
In allem wurde deutlich, dass es keine Lösung gibt, wenn man nicht den gesetzlichen Regelungen Folge leisten wollte. Und auch der Supervisor konnte keine in Aussicht stellen. Somit wurde durch diese existenzielle Szene des Anfangs deutlich, dass es notwendig war, für sich selbst einen Weg zu finden und die damit verbundenen Konsequenzen zu tragen. Indem die Auseinandersetzung damit begann, wurde die Gruppe mehr und mehr zum Ort der Vergewisserung für die Einzelnen und die Supervision zum Gesprächsraum dafür. Wie können wir unter diesen Umständen unsere Arbeit gut verrichten, wurde zunehmend zur Hauptfrage. Indem sie in den Fokus rückte, veränderte sich das Gefühl, schlecht behandelt zu werden. In gleichem Maße entwickelte sich die Zusammenarbeit. Die bedrohlichen Rahmenbedingungen traten im subjektiven Erleben in den Hintergrund, auch wenn sie in der Realität (noch) nicht verschwanden, während sich das primäre Interesse der Teammitglieder auf die primäre Aufgabe der Versorgung der Bewohner*innen ausrichtete. Auch wenn sich das Dilemma vorerst nicht auflösen ließ, hat ab dem Zeitpunkt niemand mehr das Team verlassen. Dieser Umstand hat sich stabilisierend und stressreduzierend auf die Arbeitsorganisation in der Einrichtung ausgewirkt, indem z.B. die Gestaltung des Dienstplans für die einzelnen keine unzumutbaren Belastungen mehr mit sich brachte.
Für meine Rolle als Supervisor waren insbesondere die Grundhaltung des Containment maßgeblich wie auch die Fähigkeit, die Spannung des Nichtwissens zu ertragen (negative capability), d.h. die Situation aushalten und halten zu können, auch den Umstand, dass die Suche nach Lösungen nicht hilft, da es sie in einem Dilemma so nicht gibt, sondern das Bemühen um das kontinuierliche Gespräch miteinander, um sich dem Verstehen von Ereignissen und Prozessen in ihrer Bedeutung anzunähern.
Drei Monate nach Beginn der Supervision geschah etwas Unerwartetes. Der Mitarbeiter, der in der ersten Sitzung seinen Weggang mitgeteilt hat, kam zurück ins Team. Es habe ihm so viel gefehlt, die Arbeit mit den Behinderten und die Verbindung mit den Kolleg*innen. Er wurde damit ein weiteres Mal zum Initiator von Veränderung im Team. Denn damit wurde der Trend umgekehrt. Das Team wuchs wieder. Die Existenzbedrohung verschwand. Vor kurzem hat dieser Mitarbeiter in einer Sitzung seine Mitteilung vom Anfang wiederholt. Er teilte nämlich mit, dass er im Sommer Team und Einrichtung verlassen werde, weil er in den Ruhestand gehe.
Als dann endlich die Aufhebung der für September angedrohten Sanktionen für Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen seitens des Gesundheitsministerium mitgeteilt wurde, war das eine „äußere“ Lösung, die für das Team nicht mehr von grundlegender Bedeutung war. Über Impfgründe, also das „Für und Wider“ war während der ganzen Zeit ohnehin nicht gesprochen worden. Es war auch nicht das eigentliche Thema, sondern die Folie, auf der sich das Geschehen in der Einrichtung abspielte. Auch gab es keinen Fall einer Corona-Infektion in der Einrichtung.
Das alles war im Laufe des Prozesses in der zugespitzten Situation nicht entscheidend, sondern die Fragen nach der Fürsorge für die Klient*innen und nach der Möglichkeit von Solidarität und Zusammenhalt in einer existenziell druckvollen Arbeitsrealität. Denn die Mitglieder des Teams hatten sich eine „innere“ Lösung erarbeitet, mit der die äußere Situation bewältigt werden konnte. Sie bestand in der Vergewisserung über die Bedeutung ihrer Empathie für die Klient*innen, die ihnen „ans Herz gewachsen“ waren, die Entwicklung des Zusammenhalts untereinander gegen die von außen herangetragene Spaltungsdynamik und die Entdeckung des Werts des gemeinsamen Gesprächs in der Gruppe.
Mir hat die Erfahrung mit dem Team, mit dem ich nach wie vor arbeite, gezeigt, dass Gruppen für sich einen Weg finden können, mit schwierigen Situationen klarzukommen, wenn man sie dabei unterstützt, d.h. ihnen Zeit gibt und den dafür nötigen Raum lässt.
Zusammenfassend formuliere ich mein Verständnis von Zutrauen als Haltung in der Arbeit mit Gruppen in der Supervision. Meines Erachtens beinhaltet eine solche Haltung
- ein erfahrungsgeneriertes Wissen um das Gelingen von Auseinandersetzungsprozessen,
- die Überzeugung, dass Konflikte unvermeidlich und für das Wachstum von Einzelnen und Gruppen notwendig sind,
- eine gewisse Angstfreiheit bei aller innerer Anspannung und Ambivalenz,
- durchlässig zu bleiben für affektiv besetzte Ereignisse,
- das „Offen-halten“ der Entwicklungsdynamik in der Gruppe ohne Lösungen zu induzieren und
- eine Haltung, die dem offen und interessiert gegenübertritt.
Es geht nicht um Unerschütterlichkeit, sondern im Gegenteil um das Sich-anrühren-lassen, um die affektive Verbundenheit mit den inneren Bewegungen der anderen. Es geht auf einer nichttrivialen Verstehensebene um die analoge Haltung des „wie“, mit der die Prozesse offen gehalten werden.
Alfred Andersch hat es in literarischer Form so ausgedrückt (Alfred Andersch, Mein Verschwinden in Providence. Diogenes Verlag 1971, S. 255):
„… die Erzählung ist ebenso wahr wie die Analyse, doch reicher an Bedeutungen; die Erzählung legt nicht fest, sondern platziert die Fest-Stellung in einen Spiel-Raum; die Erzählung gibt keine Antworten, sondern stellt Fragen …“

Wolfgang Dinger
*1948, Herbolzheim (Breisgau), Dipl.-Theologe, Supervisor und Coach (DGSv), Gruppenanalytiker (Institut für Gruppenanalyse Heidelberg), Lehrsupervisor und Gutachter im Zertifizierungsverfahren der DGSv. w.dinger@web.de