Vom Raumerleben zur Reflexion über geschützte Räume
Ein Ort, der wirkt
Am letzten Aprilwochenende habe ich einen Ausflug nach Mechernich gemacht. Dort, am nördlichen Rand der Eifel, inmitten der Felder einer Landwirtsfamilie, steht die Bruder-Klaus-Feldkapelle. Besucher:innen gelangen über einen Feldweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad dorthin.
Für uns waren es vom nächstgelegenen Parkplatz etwa zehn Minuten. Zunächst beeindruckte uns das strahlende Gelb des blühenden Rapses, das im starken Kontrast zum tiefblauen Himmel stand.
Inmitten dieses üppigen Farbspektakels fällt der von außen blockhafte, fensterlose Turmbau der Kapelle zunächst kaum auf. Wer nicht bewusst diesen Ort der Stille oder das architektonische Werk von Peter Zumthor aufsucht, könnte ihn beim flüchtigen Blick als störende Irritation wahrnehmen.
Ich selbst hatte mich im Vorfeld nicht intensiv mit dem Gebäude beschäftigt und war umso überraschter, dass mich dieser bislang eher zurückhaltende Charme – durch von außen überraschende Details, z.B. in Gestalt der Eingangstür, die die Form, der nicht vorhandenen Turmspitze aufgreift und das darüber liegende, schlichte Messingkreuz – mit einer seltsamen Ruhe und Kraft zugleich anzog.
Ich hatte das Glück, den Innenraum für eine kurze Zeit für mich allein zu haben – ein Moment, der schwer zu beschreiben ist. Was ich sagen kann, ist dass dieser Raum mich überraschend tief berührt hat. Vielleicht klingt es pathetisch, aber ich fühlte mich innerlich still, durchlässig und gleichzeitig tief verbunden.
Diese Art von Berührung kenne ich auch aus anderen Zusammenhängen: aus echten Begegnungen, aus Momenten geteilter Traurigkeit, Freude, Liebe, Stolz oder Demut. Wenn Menschen sich wirklich gesehen und verstanden fühlen, sich emotional durchlässig zeigen, weil sie sich gehalten fühlen, wenn etwas in Resonanz geht – in geschützten Räumen und sicheren Momenten.
Vom Raum zur Rahmung
Um nicht in die Spiritualität abzudriften, möchte ich noch etwas zur Bauweise sagen: Die Kapelle wurde 2007 von dem Schweizer Architekten Peter Zumthor errichtet. Zunächst wurde eine zeltförmige Konstruktion aus 112 Fichtenstämmen aufgebaut, um die dann – in traditioneller Stampfbetonweise – der Kapellenkörper geschichtet wurde.
Nach dem Aushärten wurde im Inneren ein wochenlanges Feuer unterhalten, um die Baumstämme zu verkohlen und entfernen zu können.
350 mundgeblasene Glaspfropfen verschließen die Bundöffnungen, die zur Verbindung der äußeren mit der inneren Holzschalung beim Einbringen des Betons notwendig waren.
Die Kapelle ist nach oben offen, und lässt in den Himmel blicken, aber auch Licht und Regen in den ansonsten dunklen Raum fallen.
Entstanden ist ein Raum ohne Altar, ohne Inszenierung – intim, roh, konzentriert.
Ein Raum, der nichts will und dadurch umso mehr ermöglicht.
Ich merke beim Schreiben, wie meine Gedanken beginnen zu kreisen.
Als Innenarchitektin war es lange mein Beruf, Räume zu entwerfen, in denen Begegnung möglich ist. Seit über 15 Jahren habe ich mir das als Supervisorin zur Aufgabe gemacht – nun nicht mehr baulich, sondern atmosphärisch, durch Struktur und Haltung.
Der geschützte Raum als professionelle Praxis
So wie die Bruder-Klaus-Feldkapelle durch ihre besondere Konstruktion und bewusste Reduktion einen Raum schafft, der Einkehr, Berührung und Sammlung ermöglicht, braucht es auch in der supervisorischen Arbeit einen Raum, der trägt – innerlich wie äußerlich. Wenn wir im professionellen Kontext vom „geschützten Raum“ sprechen, meinen wir damit weit mehr als nur vier Wände oder ein Zeitfenster. Gemeint ist ein Rahmen, der Verlässlichkeit, Klarheit und Halt bietet.
In Balintgruppen wie auch in der Supervision entsteht dieser Raum nicht von selbst. Er wird durch die bewusste Gestaltung des Settings, durch Regeln, Rituale und die verantwortungsvolle, haltende Leitung erst möglich gemacht.
Und ähnlich wie bei der Kapelle liegt der Kern oft im scheinbar Unsichtbaren: in der Haltung des Nicht-Wertens, der Achtsamkeit, dem Mut zur Offenheit – und manchmal auch in der Dunkelheit, die es braucht, damit etwas sichtbar werden kann.
Der geschützte Raum ist damit kein statisches Konstrukt, sondern ein Prozess – genau wie der Bau der Kapelle selbst. Er entsteht durch gemeinsames Tun, durch Vertrauen, durch langsames Schichten – und manchmal durch das bewusste „Abbrennen“ alter Hüllen, um Platz für neue innere Bewegungen zu schaffen.
Die Balintgruppenarbeit lebt von dem Spannungsfeld zwischen festem Setting und freier Assoziation – einem psychoanalytischen Konzept.
Die methodische Strenge ist kein formales Korsett, sondern eine Voraussetzung für emotionale Offenheit. Sie schafft Sicherheit – und damit Freiheit.
Wo Rollen klar sind, darf Ambivalenz sein. Wo Regeln gelten, darf Resonanz sich entfalten. Wo das Setting stimmt – verlässlich, klar, geschützt – macht die freie Assoziation so den Weg frei für ein tieferes Verstehen der Beziehung zum Patienten, zu den Supervisand:innen.
Als Supervisorin und Balintgruppenleiterin bin ich Raumhaltende und zugleich Raumbietende.
Wir schaffen Kontexte, in denen Menschen ihre professionelle Rolle reflektieren und ihre emotionale Resonanz erkunden können, ohne sich exponiert oder bedroht zu fühlen.
Der „Raum“ ist dabei nicht nur ein physischer oder zeitlicher, sondern auch ein atmosphärischer und relationaler – gespeist durch unsere Haltung, unsere Strukturangebote und unsere Fähigkeit zur Präsenz.
Gesellschaft braucht Schutzräume
Vielleicht ist es genau diese Gleichzeitigkeit von Begrenzung und Weite, die den Reiz eines wirklich geschützten Raumes ausmacht.
In einer Zeit, in der viele Menschen sich ohnmächtig fühlen – zwischen Krisen, Konflikten und polarisierenden Diskursen –, sind solche Räume rar geworden. Räume, in denen nicht sofort gewertet, sondern zugehört wird. In denen Zweifel erlaubt sind. In denen Menschen nicht funktionieren müssen, sondern sich zeigen dürfen – mit Brüchen, Fragen und Widersprüchen.
Ich frage mich, was ich bzw. wir als Supervisor:innen – mit unserem Verständnis von Prozessbegleitung, Resonanz und Rahmung – beitragen können, damit solche Schutzräume nicht nur im beruflichen Kontext entstehen, sondern auch gesellschaftlich weiter wirksam werden.
Vielleicht liegt gerade hier eine unserer stillen Kompetenzen: Räume zu halten, in denen etwas in Bewegung kommen darf – leise, aber nachhaltig.



Sabine Benninghoff
(*68), ich wohne und arbeite seit 2013 als selbstständige Supervisorin/Coach (DGSv) in eigener Praxis in Mainz. Vor meiner Supervisionsausbildung beim FiS (2010–13) war ich viele Jahre als Innenarchitektin in unterschiedlichen Kontexten, u.a. als Projekt-/Teamleiterin tätig. www.supervision-benninghoff.de