– ein ganz persönlicher Rückblick

Seit einigen Jahren hat es bei den FiS-Tagen neben anregenden Vorträgen und Kleingruppen zu Reflexion und Resonanz, abendlicher Musik und lockerem Tanz immer künstlerische, kabarettistische oder musikalische „Unterbrechungen“ gegeben. Bei den letzten FiS-Tagen (2022) wurde z. B. der Film „Die Wand“ gezeigt und später im Plenum ausführlich reflektiert.

Diese „Unterbrechungen“ im Tagungsgeschehen dienten der Erholung, aber auch der Wahrnehmungserweiterung und so war bei diesen Tagen Andreas Lating (Künstlername „Andi Substanz“) eingeladen worden, um mit seiner Schreibmaschine im Plenum und in den Kleingruppen das aufzugreifen und poetisch zu verarbeiten, was ihm beim Zuhören bemerkenswert erschien.

Später trug er uns die Texte vor und erhielt großen Applaus. Angekündigt hatte die Vorbereitungsgruppe diesen Schriftsteller als „Lyrikkeller vor Ort – Buchstabentasten ergründen das Unbewusste in Organisationen“.

Und tatsächlich, als der erste Vortrag begann, klapperte im großen Saal des Franz Hitze Hauses von hinten die Schreibmaschine, während Annemarie Bauer ihren Vortrag hielt. Es war störend, ganz unverkennbar, aber das Auditorium hielt das Klappern aus und in mir – wie vielleicht in vielen Anwesenden im Saal – breitete sich eine Unsicherheit, Unruhe, eine Ambivalenz, ja: eine Ungeduld aus: müsste man nicht aufstehen, kurz unterbrechen und das Klappern unterbinden? Was Annemarie Bauer sagte, war durch das Klappern teilweise nur schwer zu verstehen. Vielleicht sprach sie auch zu leise. Die Schreibmaschine nahm sich jedenfalls Raum, trotz der Versuche, das Mikro lauter zu stellen. Nach und nach hörte es auf und ich nahm es erleichtert zur Kenntnis.

Wie ich hörte, wurde der Künstler später in den Resonanzgruppen auch teilweise heftig kritisiert, wenn er mit seiner Schreibmaschine anfangen wollte. Das löste zunächst (so erzählte er später) einen Schrecken bei ihm aus – aber dann auch die Reflexion: „an der Schreibmaschine hängt meine Kunst nicht“. Er nahm einen Stift und schrieb seine poetischen Überlegungen einfach handschriftlich auf.
Erst im Nachhinein und durch Gespräche mit Kollegen und Kolleginnen über diesen Vorgang angeregt, fragte ich mich: was bedeutet es? Was zeigt dieser Vorgang selbst? Fakt ist: Wir haben im Plenum störende Geräusche in einem Vortrag erlebt. Fakt ist auch: wir hielten es aus, auch als es uns störte …

Das Motiv und die Ursache für diese Geräusche lagen ja nicht darin, den Vortrag zu stören. Eher wollte der Künstler signalisieren, dass hier jemand deutlich hörbar das laufende Geschehen der Tagung „verarbeitete“ – so wie wir alle es ja auch taten: nur eben still zuhörend und den Gedanken folgend.

Aber diese unsere inneren Resonanzen wurden durch das Klappern der Schreibmaschine durchaus gestört. Manche, so erfuhr ich später, hatten das Geräusch nach und nach ignorieren können, andere aber waren wie ich von dem anspruchsvollen Vortrag abgelenkt und ärgerten sich, weil sie nicht alles verstehen konnten. Der Künstler selbst hatte sein Stören während des Vortrags wahrgenommen und schließlich auch durch die Rückmeldungen in den an den Vortrag anschließenden Resonanzgruppen sein Vorgehen geändert.

Heute frage ich mich: wie lange hätte ich noch gewartet? Im Rückblick bin ich doch sehr nachdenklich geworden, denn beide hier gegeneinanderstehenden Geräusche hatten ihre Berechtigung: Frau Bauer wollte und sollte mit ihrer Rede verstanden werden, Herr Lating wollte zeigen, dass er gerade etwas poetisch verarbeitete, Aktionskunst sozusagen. Wir wollten es ja auch: eine andere Brille, eine poetische Verarbeitung war beabsichtigt …

Eine Art Zerrissenheit zwischen diesen beiden legitimen Ansprüchen war es, die mich nach der Veranstaltung weiter beschäftigt hat. Könnte man sagen: in diesem Vorgang hat sich etwas von unserem Tagungs-Thema symbolisiert?

Störungen nehmen sich Vorrang – diesen Hinweis hat schon Ruth Cohn gegeben und empfohlen, zu untersuchen, welche Bedeutung eine Störung hat. Störungen aufzuklären bringt in Gruppenprozessen nicht selten neue Erkenntnisse hervor. Das sagt uns ja: Störungen können inspirierend sein, können auf etwas Übersehenes, Verborgenes, vielleicht Unbewusstes hinweisen. Insofern stelle ich mir die Frage: welche Relevanz könnte diese Störung durch die Schreibmaschine für unser Erkenntnisgebiet haben? Was können wir daraus gewinnen?

Der Künstler hat sein Verfahren geändert – ganz offenbar wollte er uns nicht, wie bei künstlerischen Aktionen nicht immer ausgeschlossen, „auf den Nerv“ gehen. Er entschied: das „auf den Nerv gehen“ hatte hier keinen künstlerischen Mehrwert. Warum, wenn die Schreibmaschine hier keine künstlerische Bedeutung hatte, so fragte ich mich weiter, hat er dann keinen Laptop genutzt? Warum eine Schreibmaschine, eine alte Technik aus dem letzten Jahrhundert? Die Frage nach seinem künstlerischen Konzept will ich hier aber gar nicht weiterverfolgen. Da wäre vielleicht ein Gespräch mit ihm selbst interessant.

In der Supervision ist Verstehen etwas sehr Kostbares. Nehmen wir den Vorgang mal nicht moralisch (wir waren im Moment des Plenums mit einer spontanen Verhandlung über die beiden gegeneinanderstehenden Interessen vielleicht überfordert), sondern nehmen die Vorgänge von ihrer Oberfläche her, vom Phänomen. Wenn ich mit den erlebten Phänomenen „spiele“, vielleicht assoziiere, so kommen mir ganz verschiedene Aspekte in den Sinn.

1
Man kann die Schreibmaschine mit ihrem Geklapper dann auch als eine Reinszenierung der immer störenden organisatorischen „Nebengeräusche“ einer Supervision sehen. Die gilt es in unserer Arbeit ja auch immer erstmal auszuhalten, bis man sie in ihrer Relevanz wahrgenommen hat und handlungsfähig wird durch Angebote der Reflexion und des Verstehens. In unserem Fall hat der Künstler die entscheidende Wende vollzogen: „An der Schreibmaschine hängt meine Kunst nicht …“. Und wir hätten in einer Verhandlung einwenden können: „… und am Verstehen hängt unsere Kunst.“

2
Annemarie Bauer sprach u.a. über Organisationen im Faschismus und wie perfekt sie die Gewalt organisiert hatten. Das Aushalten eines Schreibmaschinengeklappers für eine kurze Zeit ist absolut nicht vergleichbar mit den damaligen Zumutungen. Aber: auch in den Organisationen, in denen wir mit unserer Supervision arbeiten, muss gegenwärtig viel ausgehalten werden, das geht nicht selten an die verkraftbaren Grenzen …

3
Die Schreibmaschine lässt auch die umfangreichen Dokumentationspflichten assoziieren, denen sich Pflegende oder Erzieher*innen wie Sozialarbeiter*innen gegenwärtig gegenübersehen. In unserer Beratung wird nicht selten mit einem Stöhnen darauf hingewiesen mit dem Zusatz: „… und wir haben dadurch kaum wirklich Zeit für den menschlichen Kontakt.“

4
Wir leben in der Zeit intensivierter Internetkommunikation. Was gerade irgendwo geschehen ist, taucht unmittelbar bei Twitter oder in anderen Sozialen Medien auf, ein kurzer Post fasst zusammen oder vermittelt eine Stimmung, eine Emotion. Diese Posts bringen nicht selten interessante Impulse und machen auf Meinungen „von unten“ aufmerksam. Aber die schnellen Posts stehen immer in der Gefahr der Banalisierung und vielleicht auch Pauschalisierung. Supervision steht demgegenüber für Verlangsamung. Wir wollen gar nicht so schnell „zur Sache“ kommen, wir breiten einen Raum des Nachdenkens aus, in dem noch nicht sofort gewusst wird, um was es hier vielleicht geht … in dem um neue Perspektiven und ein weitergehendes Verstehen gerungen wird. Damit entwerte ich nicht die Arbeit des Künstlers, in dessen Resonanzen auf unsere Tagung bemerkenswerte Sprachbilder auftauchten. Aber eine schnell klappernde Schreibmaschine konnte auch das schnelle und manches überflutende Internet fühl- und hörbar machen …

Je länger ich nachdenke über diesen Vorgang, umso interessanter wird er für mich. Ich gebe zu, ich habe ein wenig gezögert, das hier zu veröffentlichen. Aber die entstandenen Gedanken und Assoziationen stelle ich nun doch auch gerne zur Verfügung und bin ggf. gespannt und neugierig auf Ihre und Eure eigenen Assoziationen …

Dr. Bernadette Grawe

Bernadette Grawe, (*1951) aufgewachsen in Gütersloh, lebt in Warburg. Berufliche Stationen: nach einem Ausflug in die Pharmazie, Studium der Katholischen Theologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften, langjährige Tätigkeiten in verschiedenen Feldern der Jugendverbandsarbeit, freiberufliche Praxis als Supervisorin DGSV (seit 1992), Trainerin für Gruppendynamik (seit 2001), Promotion zum Dr. phil. (2002), Professorin für das Lehrgebiet „Sozialmanagement“ an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn (2005–2017), seither Praxis für Supervision und Beratung. www.grawe-netz.de Bernadette.grawe@t-online.de

Die Geschichte mit der Schreibmaschine