Zusammenfassung

Die Corona-Pandemie zwang viele Supervisor*innen dazu, gewohnte Wege zu verlassen – in meinem Fall im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser Artikel beschreibt, wie aus der Not heraus die Supervision im Gehen entstand und warum sie heute für mich eine bereichernde Alternative zur klassischen Sitzung im Raum darstellt. Es werden insbesondere persönliche Erfahrungen, Vorteile, Grenzen sowie praktische Hinweise zu Strecke und Setting geteilt.


Weg und Bank

Die Not macht erfinderisch. Wie viele Kolleg*innen stellte mich die Corona-Pandemie beruflich vor zentrale Fragen: Wie kann ich meine Supervisionsprozesse fortsetzen, wenn Begegnungen im Raum nicht mehr möglich sind? Wie bleibe ich ansprechbar für Menschen, die Unterstützung und Beratung bei mir suchen? Und wie sichere ich mir meine finanzielle Existenz?

Als es in diesen unsicheren Zeiten wieder möglich wurde, sich zu zweit oder in kleinen Gruppen im Freien zu treffen, hatte ich die Idee, Einzelsupervision beim Gehen durchzuführen. Diese Idee war für mich in meiner 30-jährigen Praxis neu. Als Supervisor habe ich immer nur im Sitzen gearbeitet – Face-to-Face, wie die meisten Supervisor*innen. Ich habe, wenn es der Entwicklung des Prozesses diente, mit dem leeren Stuhl gearbeitet oder mit der Aufstellung von Figuren ein Team oder eine Situation visualisiert. Wenn es angezeigt war, arbeitete ich auch am Flipchart, gerade um Organisationsaspekte zu veranschaulichen. „Mehr Methode“ habe ich in 30 Jahren in der Supervision nicht eingesetzt.

Aber auch wenn Supervision im Gehen für mich fremd war, war mir Beratung in der Natur nicht völlig unbekannt: Ein befreundeter Arzt und Psychotherapeut hatte bereits in den 1980er-Jahren mit Jugendlichen in der Jugendpsychiatrie während Spaziergängen oder Aufenthalten im Wald gearbeitet. Er sagte, bei etlichen Jugendlichen, die er begleitete, sei es nur so möglich gewesen, in einen Kontakt und in ein gutes Arbeiten zu kommen.

Und man kann auf der Zeitschiene sehr viel weiter zurückgehen: Ca. 350 v. Chr. findet man in der Schule von Aristoteles, dem Lyzeum, das Arbeiten und Lehren im Gehen. Die Peripatetiker, wie sie später genannt wurden, wandelten durch die Wandelhalle und ließen Körper und Geist in Bewegung kommen.

Ich wusste auch von Beratungskonzepten, die die Natur bewusst als Raum mit einbeziehen und z. B. als Spiegel nutzen, um an Themen wie Persönlichkeitsentwicklung, Stressabbau oder „innere Balance“ zu arbeiten. Das war aber nicht mein Anliegen. Ich wollte kein neues Beratungs- oder Coaching-Konzept. Ich halte – wenn man es so formulieren will – Supervision für eine besondere, tiefgreifende und effektive Form des Coachings, und die wollte ich auch nicht aufgeben.

An dieser Stelle passen einige Gedanken dazu, warum ich mir die Entscheidung, das Setting zu wechseln beziehungsweise eine neue Methode auszuprobieren, nicht leicht gemacht habe.

In meiner Supervisionsausbildung habe ich gelernt: Die wichtigste Methode ist das Gespräch – alles andere muss ich fachlich gut begründen. Das hat mich überzeugt, so praktiziere ich es seit 30 Jahren und so gebe ich es in den letzten zehn Jahren, in denen ich für einige Institute als Lehrsupervisor arbeite, weiter.

Auch in meiner Tätigkeit als Lehrsupervisor habe ich stets hinterfragt, wenn Lehrsupervisand*innen Methoden einsetzten – besonders dann, wenn dies bereits zu Beginn des Prozesses geschah, ohne dass fachlich nachvollziehbar war, auf welcher diagnostischen Grundlage diese Methodenwahl beruhte und inwiefern sie tatsächlich zu einer schnelleren Zielerreichung führen sollte. Für mich sollten Methoden aus dem Prozess heraus entwickelt und fachlich begründet sein.

Mein Interesse war es also, die Möglichkeiten der Supervision auch bei der Arbeit im Gehen zu bewahren. Gleichzeitig war ich aber durchaus bereit, mich auf Neues und Unerwartetes einzulassen.

Und dann habe ich mich auf das mir Fremde eingelassen.Tisch mit zwei Bänken im Grünen

Ich lebe direkt am Waldrand, und von meinem Haus aus führen mehrere Wanderwege in die Natur. Diese Ausgangssituation war sicherlich ein wichtiger Impuls für die Entstehung dieser Idee. Für den Weg habe ich zunächst eine Strecke mit festem Untergrund ausgewählt, die ein Stück durch den Wald führt und anschließend an Wiesen und einem Bach entlang verläuft. Die Route ist eben, sodass ein Gespräch während des Gehens gut möglich war. Sie ist etwa vier Kilometer lang, und nach rund zweieinhalb Kilometern befindet sich eine Bank mit Tisch, an dem man sich gegenübersetzen kann. So bot sich regelmäßig die Gelegenheit, etwa 20 Minuten in einem veränderten Setting zu arbeiten. Für diese Sitzphase hatte ich meist Wasser, Kaffee oder Tee dabei. Die Gesamtzeit von 90 Minuten ließ sich auf dieser Strecke stets gut einhalten.

Ich war zunächst gespannt, ob Supervision im Gehen tatsächlich funktioniert – und ob es im Vergleich zur gewohnten Arbeit im Sitzen Einbußen in der Wirksamkeit geben würde. Was geschieht, wenn aus einem Face-to-Face-Setting ein Side-by-Side wird? Und welchen Einfluss haben mögliche Störungen, die sich im Außenraum nie ganz ausschließen lassen? Der Weg verläuft teilweise entlang einer Bahnlinie, und es konnte jederzeit zu Begegnungen mit anderen, mitunter auch mir bekannten Spaziergänger*innen kommen. Hinzu kamen weitere äußere Faktoren wie das Wetter, die körperliche Verfassung – sowohl meinerseits als auch seitens der Supervisand*innen – und ähnliche Einflüsse.

Doch bereits nach den ersten beiden Supervisionen im Gehen wurde deutlich, dass ich eine gute Alternative für die Durchführung von Einzelsupervisionen gefunden hatte – möglicherweise auch über die Zeit der Corona-Pandemie hinaus.

Ein Weg am Wald entlang

Die Supervisionen waren anders, das veränderte Setting zeigte seine Wirkung. Sollte ich eine Bewertung vornehmen, könnte ich jedoch nicht sagen, ob es besser oder schlechter war – es war einfach eine andere, aber gleichwertige Form der Zusammenarbeit.

Das Erste, was mir auffiel, war die Wirkung des beim Gehen selteneren Blickkontakts. Ungewollt wurde dadurch ja auch ein Teil des Abstinenzprinzips aus der Psychoanalyse umgesetzt. In meinem Alter umso mehr, weil es zunehmend schwerer wird, gleichzeitig zu gehen und nach rechts oder links zu schauen. Auch hier bin ich zurückhaltend mit Bewertungen, aber mein Eindruck war, dass Neues passierte.

Nach Fragen von mir oder nach geäußerten Gedanken der Supervisand*innen entstanden häufiger Schweigephasen – und diese wurden mit bemerkenswerter Gelassenheit ausgehalten. Ich empfand diese stillen Momente als weiterführend und hilfreich für den Prozess. Vermutlich hätten sowohl ich als auch die Supervisand*innen im gewohnten Setting solche Phasen des Schweigens deutlich schwerer zugelassen – obwohl sie vielleicht genau das Richtige gewesen wären.

Weg durch den Wald

Gleichzeitig entstehen beim Gehen fast wie von selbst Momente, in denen man stehen bleibt, sich einander zuwendet und bewusst in den Blick nimmt. Diese Wechsel zwischen Distanz und Nähe, zwischen Bewegung und Innehalten, zwischen Sprechen und Schweigen machen für mich einen besonderen Reiz dieses Formats aus.

Die Situation am Tisch erlebe ich oft als einen Moment des Sammelns und Sortierens – ein Zusammenfassen dessen, was zuvor besprochen wurde, und auch als Ausgangspunkt für neue, weiterführende Fragen. Auf dem letzten Abschnitt des Weges wurde es dann häufig noch einmal vertiefend – oder, je nach Verlauf, sehr praxisnah und konkret.

Insgesamt habe ich mit sieben Supervisand*innen Prozesse mit jeweils fünf bis fünfzehn Sitzungen ganz oder teilweise im Gehen durchgeführt. Dabei gab es erstaunlich wenig Irritierendes. Wenn ein langer Güterzug vorbeifuhr, schwiegen wir einfach, bis es wieder still wurde. Trafen wir auf einen Bekannten, der mich grüßte, war dieser womöglich überrascht, dass ich ungewohnt kurz angebunden reagierte. Nach meinem Eindruck aber hat das weder mich noch die Supervisand*innen verunsichert.

Brücke

Was ursprünglich als Notlösung begann, hat sich für mich zu einer bewährten Alternative entwickelt. Heute biete ich neuen Supervisand*innen ganz bewusst beide Optionen an: das klassische Setting im Raum und die Möglichkeit, im Gehen zu arbeiten – oder flexibel zwischen beiden Formen zu wechseln. Letzteres eröffnet zudem die Chance, das unterschiedliche Arbeiten gemeinsam zu reflektieren und bewusst wahrzunehmen, wie sich das veränderte Setting auf den Prozess auswirkt.

Ein Supervisand sagte einmal am Ende einer Sitzung: „Ich habe mich in Bewegung gesetzt, bin Schritte gegangen – und habe auch etwas hinter mir gelassen.“ Das, was innerlich geschah, spiegelte sich im äußeren Geschehen wider.

Weg

Ich bin dankbar, dass ich mich dazu entschlossen habe, mit unserem Format der Supervision zu experimentieren – und ich ermutige auch Kolleg*innen dazu. Damit halten wir auch unsere Arbeitsform lebendig und in Bewegung.

Lothar Reuter

Diplom-Sozialarbeiter, Supervisor (DGSv). Geboren 1954. Seit 1995 bin ich in freier Praxis als Supervisor (DGSv), Fortbildner und Organisationsberater tätig – zunächst nebenberuflich, später überwiegend hauptberuflich. Seit 2014 arbeite ich zudem als Lehrsupervisor für verschiedene Institute und Hochschulen. reuter-supervision.de

Supervision in Bewegung