Wie Gruppendynamik, Psychodrama und der Ansatz von Balint meine supervisorische Arbeit beeinflussen
Bild eins: Ausgangssituation
Ein Weiterbildungsteilnehmer steht auf einem Stuhl und hat die Rolle von Gott eingenommen. Die Weiterbildungsgruppe hat ihn in einer Art von Schlussfeedback am Ende der Ausbildung aufgefordert, diese Rolle, die auch J.L. Moreno schon eingenommen hatte, doch noch mal einzunehmen. Der Teilnehmer hatte zu Beginn der Ausbildung bereits mit dieser Rolle geliebäugelt, aber sich nicht getraut. Hinter der Aufforderung der Gruppe steckt die Vermutung, dass es dem Teilnehmer guttäte, wenn er endlich seine Grenzen erweitern würde. Nach einer anfänglichen Verunsicherung in ungewohnter Höhe, breitet der Teilnehmer die Arme aus und schaut um sich. Dann fängt er an zu lächeln, schaut uns alle an und sagt mit lauter Stimme „Alles ist immer schon da“. – Schweigen in der Gruppe, etwas Besonderes ist gerade passiert. Wir sind berührt. Plötzlich fängt einer der anderen Teilnehmer*innen an zu jubeln, alle jubeln mit und feiern ihren mutigen Kollegen auf dem Stuhl. Nach einer verlängerten „Segensrunde“ an alle, steigt der Teilnehmer glücklich vom Stuhl.
Warum ich diese Szene schildere, die zunächst ja auch gar nichts mit Supervision zu tun hat? Die Szene war für mich damals eine psychodramatische Sternstunde und der Satz „alles ist immer schon da“ beschreibt das, was ich in diesem Artikel beschreiben möchte.
Eines meiner gruppendynamischen Lieblingszitate bestätigt das, was „Gott“ im Beispiel oben gesagt hat: „Alles, einschließlich der sogenannten Tiefenschichten, ist ständig gegenwärtig, wenn wir nur Augen haben, es zu sehen, und wissen, wie wir es manifest und wirksam werden lassen können“ (Foulkes, 2016). Foulkes spricht hier von den vielen, auch biografischen, Themen, die durch die Unterschiedlichkeit der Gruppenmitglieder in die (Therapie-)Gruppe hineingetragen werden und im Prozess der Gruppe und im Lernen der Einzelnen eine Rolle spielen – so ist dieses Zitat auf alle Gruppen und auch auf Supervisionen anwendbar.
Gruppendynamik und Psychodrama sind die beiden Verfahren, die ich gelernt habe, bevor ich eine Ausbildung zur systemischen Supervisorin gemacht habe. Als gruppendynamische Trainerin habe ich gelernt, auf die Prozesse in Gruppen zu achten, keine Angst vor Konflikten zu haben und auch in schwierigen Gruppensituationen handlungsfähig oder wenigstens neugierig zu bleiben. Als Psychodrama-Leiterin ist mir wichtig, dass immer wieder verschiedene Standpunkte und Rollen eingenommen werden, dass vieles im Spiel geübt oder verändert werden kann und wie intensiv die Erfahrung ist, „in den Schuhen der anderen zu gehen“.
Die Erweiterung meines systemisch-dynamischen Blickwinkels durch die Ausbildung zur Balintgruppenleiterin lässt mich in Supervisionen und Coachings Raum geben für das, was auf den ersten Blick nicht sichtbar, aber dennoch spürbar ist. Emotionen und Assoziationen, die in den Einzelnen entstehen, wenn sie mit einer Szene oder einem Fall konfrontiert sind, bereichern die eigene und gemeinsame Vorstellungswelt und machen ganz neue Türen zum Verstehen auf.
Die Idee des „Containing“ von Bion (Lazar, 1994), ist mir als Basis für meine supervisorische Arbeit bedeutsam: die Supervisorin hält den Rahmen, damit schwerverdauliche, unverständliche Inhalte und Emotionen besprechbar gemacht werden können. Innerhalb eines sicheren Rahmens und mit Hilfe von Interventionen, die Verstehen und „Verdauen“ ermöglichen oder unterstützen, können Supervisand*innen wachsen und selbst wirksam werden.
Mein Anspruch an mich ist, für viele verschiedene Themen und Ebenen offen zu sein, in der Lage zu sein, sie wahrzunehmen und gegebenenfalls „bespielbar“ zu machen. Neue Perspektiven, Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten und Wege aus der häufig anzutreffenden Problemtrance werden dadurch möglich.
Im folgenden Text beschreibe ich mit drei konkreten Situationen, wie die unterschiedlichen Herangehensweisen der Verfahren meine Arbeit als Supervisorin beeinflussen und anreichern.
Bild zwei: den Stuhl wechseln – psychodramatischer Einfluss
Ein Team von Schulsozialarbeiter*innen klagt in der Supervision länger über den Chef und wie schlecht er mit ihnen umgeht. Nachdem lange genug geklagt wurde, ist der Vorgesetzte beinahe physisch im Raum. Ich schlage vor, dass wir für ihn einen Stuhl aufstellen, wenn er jetzt eigentlich eh schon da ist (Buer, 2001). Die Schulsozialarbeiter*innen wundern sich, machen aber neugierig mit. Der Stuhl für den Vorgesetzten bekommt im Raum einen Platz, nicht sehr nah, eher in einer Ecke des Raumes, aber mit Blick auf das Team. Ich lade das Team ein, den Vorgesetzten von außen zu beschreiben. Dabei wird auch gelacht und gelästert, aber als Person wird er recht plastisch. Dann frage ich, ob sich mal jemand auf den Stuhl setzen und in die Rolle des Chefs gehen mag. Nach kurzer Bedenkzeit stellt sich jemand zur Verfügung und ich führe ein Rolleninterview mit ihm in der Rolle des Vorgesetzten durch. Die Person auf dem Stuhl spricht nun in der Rolle des Vorgesetzten mit den Kolleg*innen. Das fällt nicht ganz leicht, aber mit Unterstützung meiner Fragen und auch mit den Ideen der anderen, füllt der Schulsozialarbeiter die Rolle des gemeinsamen Chefs sehr nachvollziehbar aus. Am Ende des Rolleninterviews frage ich ihn, ob er dem Team noch was sagen möchte, und der Vorgesetzte sagt: „Jammert nicht so viel rum, streitet Euch lieber mit mir“.
In der anschließenden Betrachtung und Auswertung der Situation – auch derjenige, der in der Rolle des Chefs war, darf ausführlich erzählen, wie es ihm ergangen ist – wird die Dynamik, die in der Realität zwischen Team und Vorgesetzten entstanden ist, verständlich und nachvollziehbar. Ärger kann nun in der Supervision auch ganz konkret benannt werden und es wird, auf meine Einladung hin, sogar ausprobiert, Kritik konkret zu formulieren. Hier stelle ich mich in der Rolle des Vorgesetzten, als ein konkretes Gegenüber zur Verfügung, das auch Rückmeldungen auf die Wirkung des Gesagten geben kann.
„In Echt“ ist es dann so weitergegangen, dass sich das Team vereinbart hat, das Gespräch mit dem Vorgesetzten zu suchen und es hat auch eine mehr oder weniger gelungene Auseinandersetzung mit ihm stattgefunden. Die Probleme sind natürlich nicht alle final gelöst und dennoch ist das Team aus dem Kreisverkehr des Klagens abgebogen und hat sich mit all seiner Professionalität im Spiel und in der Realität wieder neu aufstellen können.
Bild drei: Neugierig forschen – gruppendynamischer Einfluss
Ein Beratungsstellenteam versucht in der Teamsupervision über Konflikte zu sprechen. Gar nicht so leicht, man kreist um den Konflikt, versucht ihn so vorsichtig wie möglich anzusprechen – ich als Supervisorin sitze dabei, wundere mich über das, was geschieht oder auch nicht geschieht und werde allmählich ungeduldig. Ein guter Punkt, um mal zu intervenieren. Das tue ich und frage das Team, ob sie Lust haben, mal da drauf zu schauen, was denn gerade hier und jetzt in der Supervision „los“ ist. Die Begeisterung ist nicht allzu groß, man ist ja schließlich gerade damit beschäftigt, sich um einen Konflikt zu kümmern. Ich insistiere, auf die „Metaebene“ zu gehen und quasi von außen zu beforschen, was, wann, wie, durch wen wie getan wird und welche Auswirkungen das hat. Das Team lässt sich dafür gewinnen, eine „forschende Haltung“ einzunehmen und gemeinsam schauen wir, was unter der Überschrift, „wir klären einen Konflikt“, alles zu bestaunen ist.
Die verschiedenen Interaktionen können angeschaut werden, die dazu gehörenden Reaktionen: gab es Spannungen? Wer hat wem zugehört? Wurde das Thema benannt? Was wurde vermieden? Wer hat wen unterstützt? Wer steht mit seiner Meinung allein? Wer war gekränkt? Wer zieht und wer bremst, durch was?
Die genaue Untersuchung der gerade erlebten Situation in der Supervision lässt die Supervisand*innen auf den gewohnten Umgang des Teams mit Konflikten schließen.
Der tatsächliche Konflikt hat sich dann übrigens aufgelöst – was geblieben ist, ist ein Interesse daran, was konkret geschieht und welche Dynamiken daraus entstehen. Ich persönlich bin sehr erfreut darüber, wie sich das Team trotz anfänglicher Vorbehalte darauf eingelassen hat, genauer hinzuschauen, und die entstandene Teamsituation, ohne sofort in die Bewertung zu gehen, zu beforschen und dann erst in die Hypothesenbildung zu gehen (Amann, Budziat, 2023).
Es entstand während der Untersuchung der aktuell erlebten Situation eine große Neugier auf die unterschiedlichen Dynamiken im Team und ein großes Verständnis füreinander und auch für die eigene Wirkung. Möglicherweise wird das Team zukünftig auch mutiger, sich mit größeren und kleineren Konflikten in seiner Arbeit zu befassen.
Bild vier: Emotion wagen – Einfluss durch Balint
In einer Fallsupervision in einer psychiatrischen Klinik geht es um zwei Mädchen, die an Anorexie erkrankt sind und einiges an Dynamik im Team auslösen. Im Team besteht mittlerweile große Uneinigkeit darüber, wie man mit diesen Mädchen umzugehen hat. Beide sind so schwer erkrankt, dass wenigstens für eine von beiden Lebensgefahr besteht.
In der Supervision schildern die Fachkräfte aus dem Team die Situation der Mädchen und es wird deutlich, dass sehr große und sehr unterschiedliche Einschätzungen und Emotionen im Raum sind. Ich lade das Team dazu ein, ihren Emotionen und Assoziationen Raum zu geben und diese laut auszusprechen und zu sammeln. Das ist nicht leicht, denn es ist auch sehr viel Wut, Ärger, große Trauer, Ohnmacht, die zu Tage kommen. Assoziationen wie „eine kalte dunkle Stadt im Winter, kein Mensch auf der Straße, allein unterwegs zu sein, zu frieren, sich verlassen fühlen, nicht gesehen zu werden, große Angst und auch Hass auf die Welt“ werden benannt, als das Team sich in die Assoziationen hineinbegibt und ihnen wenigstens ein bisschen freien Lauf lässt.
Behutsam greife ich die Emotionen auf und wir verbinden sie mit den beiden „Fällen“: alle diese Emotionen sind möglicherweise auch in den Mädchen vorhanden, die Beziehungen der Mädchen zu den unterschiedlichen Fachkräften im Team sind unterschiedlicher emotionaler Qualität. Im Team entstehen Ideen, wie die Mädchen vielleicht doch noch erreicht werden können – gleichzeitig entsteht auch ein großer Respekt vor der Mächtigkeit dieser Erkrankung und eine Einsicht darin, dass sie als Mitarbeiter*innen vielleicht auch ohnmächtig sind und den Mädchen gar nicht helfen können.
Das war keine leichte Supervision und alle waren sehr „angefasst“. Nachdem das Aussprechen der starken Emotionen möglich wurde, war nun auch wieder Platz für realistische Ideen und abgegrenzte Vorgehensweisen, wie mit den Mädchen auf der Station weiterhin umgegangen werden könnte; auch wie das Team sich selbst schützen kann. Das Team hat eine starke Entlastung erfahren und konnte auch Hinweise annehmen, dass ihre Teamkonflikte Dynamiken sind, die durch die Krankheit der Mädchen ausgelöst werden. Dieser Einfluss des Fallgeschehens auf die Dynamik des Teams und die Dynamik in der Fallsupervision wird von Wittenberger als „das Nadelöhr des Falles“ beschrieben, durch das alles, was im Team oder in der Gruppe geschieht, betrachtet und verstanden werden muss (Wittenberger, 2019). Dies erscheint mir in vielen anderen Fallsupervisionen, in denen ich mit der Balintmethode arbeite, sehr plausibel: so oft bildet sich das, was im Fall passiert auch im Mitarbeitendenteam ab, und es ist für die Fachkräfte meistens sehr entlastend zu verstehen, dass ihr Stress, ihre Konflikte, Teile des gesamten Geschehens sind.
… wieder Bild 1: Fazit
… Nach einer anfänglichen Verunsicherung in ungewohnter Höhe, breitet der Teilnehmer die Arme aus und schaut um sich. Er fängt an zu lächeln, schaut uns alle an und sagt dann mit lauter Stimme „Alles ist immer schon da“ …
Ich liebe meine Arbeit als Supervisorin. Es macht mir Freude, die Menschen in meinen Supervisionen mit unterschiedlichen Herangehensweisen zum Spüren, Fühlen, Forschen und Spielen einzuladen. Mir ist wichtig, auf die Supervisand*innen und ihre Interaktionen mit mir, untereinander und auf die Prozesse im Hier und Jetzt konzentriert zu sein, neugierig zu bleiben und den Raum offen zu halten. Das ist mein Angebot als Supervisorin an meine Klient*innen. Ich begleite sie dabei – mal mehr, mal weniger distanziert – wenn sie ihre Themen mitbringen, ihre Fragen stellen, Erkenntnisse haben oder Neues ausprobieren und selbst wirksamer werden. Die Fülle und Komplexität der Themen, die angesprochen oder nicht angesprochen im Raum stehen, beeindrucken und begeistern mich immer wieder. Ich stelle mich und verschiedene Ideen zur Verfügung – die Supervisand:innen entscheiden die Richtung.
Literaturverzeichnis
Amann, A., Budziat, R. (2023). Die systemische Schleife – eine Basismethode der Gruppendynamik. Internes Arbeitspapier für Designworkshop. Rastatt.
Buer, F. (. (2001). Praxis der Psychodramatischen Supervision. Opladen: Leske und Budrich.
Foulkes, S. (2016). Gruppenanalytische Psychotherapie. Neulingen: Edition Klotz.
Lazar, R. A. (1994). Bions Modell „Container-Contained “ als eine psychoanalytische Leitidee in der Supervision (Bd. 2. Jahrgang). Berlin, LAZAR, Ross A. WR . Handbuch der Supervision, 1994, 2. Jg., S. 380–402.: Edition Marold.
Wittenberger, G. (2019). Die Balint-Gruppe ein „Nadelöhr“ der Gruppendynamik. Eine Methode der psychoanalytisch orientierten Gruppensupervision. FIS-Newsletter Nr. 14, 2019. (Zimmer-Leinfelder, Hrsg.) Wiesbaden: FIS Münster.

Rosa Budziat
Jg. 1963, Dipl.-Soz.-Päd (FH), Psychodramaleiterin DFP, Ausbildungsberechtigte Gruppendynamische Trainerin DGGO, Systemische Supervisorin, Lehrsupervisorin, Coach DGSv, Balintgruppenleiterin. Langjährige Erfahrung als Geschäftsführerin, Jugendhilfe, Jugendbildungsarbeit, Erwachsenenbildung, seit über 12 Jahren in eigener Praxis tätig. Seit 4 Jahren Mitglied bei TOPS München-Berlin e.V. und dort in der Coaching- und Supervisionsausbildung tätig. Fachbuchautorin: Rosa Budziat und Hubert Kuhn: „Gruppen und Teams professionell beraten und leiten – Handbuch Gruppendynamik für die systemische Praxis“, 2021, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. www.rosa-budziat.de