Herausforderungen in einer permanent sich verändernden Situation
Es gibt ja fast nichts, was über das Thema Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen, sozialen und politischen Lebens in den letzten Wochen und Monaten noch nicht geschrieben, gesprochen oder laut gedacht worden wäre. Wir leben in dieser Krise und nach gut einem Jahr inzwischen irgendwie schon mit dieser Krise. Und täglich grüßt das Murmeltier, weil fast nichts so funktioniert und vorangeht, wie wir uns das wünschen würden. Deutschland und seine ausgeklügelten Strukturen von Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Aufgabenteilungen zwischen den staatlichen, den kommunalen und den institutionellen Ebenen bekommt einiges ganz gut hin, anderes wiederum ist erschreckend träge, chaotisch, unstrukturiert.
Welche Herausforderungen stellt diese einerseits anhaltende, andererseits permanent sich verändernde Situation an die Leitung einer kleinen Stadtverwaltung, an Verwaltungsprozesse, an Führung, Koordination und Kommunikation, zugleich auch an Fürsorge für die eigenen Mitarbeitenden, den Blick für stadteigene Schulen und Kindertageseinrichtungen und letztlich an die Ansprache, das Mitnehmen und das Einbinden der Bürgerinnen und Bürger? Ein kleiner Streifzug durch diese Themen.
Gelassenheit heißt nicht bloß Abwarten
Für einen Bürgermeister gibt es im Jahresverlauf bestimmte Aufgaben, Pflichten oder „Rituale“, die sich wiederholen. So zum Beispiel der Neujahrsgruß an die Bürgerinnen und Bürger, der in der Lokalpresse veröffentlicht wird. Neben dem Wunsch für ein gutes neues Jahr, für Gesundheit und Glück wünsche ich den Menschen in unserer Stadt stets auch „…eine Prise Gelassenheit.“ Diese durchaus reflektierte Aufforderung resultiert aus der Wahrnehmung, dass viele Menschen – und dies schon „vor Corona“ – zunehmend zu einem Dauer-Alarmismus neigen, immer das Schlimmste fürchten, sich über Vieles zum Teil lautstark öffentlich aufregen, verstärkt durch die Breitenwirkung der Sozialen Medien stets den Skandal wittern und Abhilfe vorwiegend von der öffentlichen Hand – der Stadt oder dem Staat – einfordern.
Die Corona-Pandemie war und ist in diesem Zusammenhang wie unter einem Brennglas eine Verstärkung dieser Tendenzen, und dennoch sehe ich Unterschiede in Motivation und Ausprägung der geschilderten Reaktionen. Denn wenn dieses Verhaltensmuster zu „normalen Zeiten“ leicht auf die zunehmende massive Vertretung individueller und partikularer Interessen (im Übrigen oft auch gegen Interessen des Gemeinwohls) zurückzuführen sein dürfte, treten mit der Corona-Krise Unsicherheiten und Ängste hinzu, Abwehrhaltung gegen getroffene Regeln und Auflagen, Ermüdung und Demotivation mit zunehmender Dauer der Pandemie, Verunsicherung angesichts einer komplexen und oftmals widersprüchlichen Informationsflut sowie einer Verdrossenheit über das Hin und Her der nicht immer nachvollziehbaren oder konsistenten politischen Entscheidungen.
Immer – und in Krisenzeiten ganz besonders – rate ich zu einer gewissen Gelassenheit, zur nüchternen Betrachtung der Dinge, ohne dass dies mit bloßen Abwarten oder Nichthandeln verwechselt werden darf. Zielgerichtet zu handeln, heißt ja: Fakten aufnehmen, Situationen und Entwicklungen einschätzen und bewerten und dann zu Entscheidungen zu kommen, die nicht nur umgesetzt, sondern vor allem immer stärker kommuniziert und erklärt werden müssen.
Was hieß und heißt das in Corona-Zeiten?
Prozessstrukturen in der Krise aufbauen und nutzen
Gleich zu Beginn der Pandemie bildete sich in der Stadtverwaltung Telgte wie in allen Kommunalverwaltungen ein Krisenstab aus den Fachbereichsleitungen, dem Bürgermeister und punktuell hinzugezogenen externen oder internen Fachleuten. Im März 2020 waren Ausmaß und Dauer der Aufgaben natürlich nicht zu überblicken. Es galt aber vor allem, die eigenen Aufgaben und deren Abgrenzung von den Zuständigkeiten anderer kommunaler und staatlicher Strukturen zu identifizieren und die Abläufe schlicht zu „sortieren“.
Regelmäßige Zusammenkünfte, häufig auch an Wochenenden oder in kurzfristigen digitalen Runden dienten nicht nur der Abstimmung konkreter Maßnahmen, sondern vor allem auch dem Austausch und der gemeinsamen Interpretation der Informationslage sowie der permanenten Selbstvergewisserung, nichts zu übersehen, nichts zu vergessen, die relevanten von den unnötigen (oder mehrfach redundanten) Informationen, Anweisungen, Erlassen und Verordnungen zu unterscheiden und bei all dem den roten Faden nicht zu verlieren. Der kollegiale Austausch und die gegenseitige Unterstützung, Beratung und gemeinsame Entscheidungsfindung haben ich als stützend und motivierend empfunden.
Wichtiger und regelmäßiger Baustein dieser Prozessstrukturen war und ist bis heute der Austausch in Telefon- und Videokonferenzen mit dem Krisenstab des Kreises, mit den anderen Kommunen wie auch punktuell mit den zuständigen Landesministerien. Die daraus resultierenden Informationen, Aufgaben und Koordinierungsnotwendigkeiten mussten und müssen wiederum in die Strukturen der eigenen Stadtverwaltung eingespeist und dort umgesetzt werden.
Wenn schon dies als Daueraufgabe und neben dem ja ansonsten weiterlaufenden Tagesgeschäft einer Verwaltung und eines Bürgermeisters eine echte Herausforderung darstellte, so war und ist insbesondere die anhaltend hohe Flut an Informationen – und hier trifft der Begriff der Flut tatsächlich die gefühlte Wirklichkeit – häufig verbunden mit dem Empfinden, förmlich unterzugehen und keinen Boden unter den Füßen zu haben, wohl aber verantwortlich zu sein und „richtige“ Entscheidungen treffen zu müssen.
Eine solche Arbeitsweise und die Fülle an Herausforderungen der Corona-Krise mag eine Zeit lang als Sondersituation zu bewältigen sein. Nach über einem Jahr des damit verbundenen „Ausnahmezustandes“ und der teils sehr dominanten Überlagerung vieler anderer Themen und Projekte durch das immer wieder gleiche Dauerthema „Corona“ wächst natürlich die Gefahr von Abnutzung und Ermüdung oder von Dauerstress, Dauerbelastung und andauernder innerer Dienstbereitschaft. Auch da hilft das bewusste Mantra der „… Prise Gelassenheit“ und die mit der Dauer der Pandemie wachsende Erkenntnis, dass hier nicht der Sprint, sondern der Marathon gefragt ist.
Strukturen sind nichts ohne die Mitarbeitenden
Der bisher schlaglichtartig geschilderte Aufbau von Prozessstrukturen, das Knüpfen der Netzwerke und die Organisation der kommunalen Aufgaben in der Corona-Krise finden natürlich nicht abstrakt auf Organigrammen und in Zuständigkeitsrastern statt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung sind einerseits diejenigen, die bestimmte Aufgaben konkret operativ umsetzen müssen – so etwa die Kontaktnachverfolgung positiv getesteter Personen, die Verfügung von Quarantänemaßnahmen, die Prüfung und Umsetzung von Landesverordnungen, die Beratung von Unternehmen und Privatpersonen, die Kontrolle von Auflagen und Bestimmungen, die Organisation bestimmter Abläufe in Schulen und Kitas, die Beschaffung von Infektionsschutzmaterial, später der Aufbau mobiler Impfstellen, die Begleitung und Unterstützung von Teststrukturen u.v.m.
Andererseits sind eben diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fürsorge des Arbeitgebers „Stadt Telgte“ anvertraut, der in dieser besonderen Situation auch zu besonderen Regelungen und Maßnahmen kommen musste, um Kolleginnen und Kollegen zu schützen und zu unterstützen und zugleich die Arbeitsfähigkeit der Stadtverwaltung aufrecht zu erhalten. Ein wichtiger und eng mit dem Personalrat abgestimmter Schritt war im Frühjahr 2020 eine sehr weitreichende Flexibilisierung von Arbeitszeiten, damit Kinderbetreuung, Familie und berufliche Anforderungen besser bewältigt werden konnten. Schon dieser Schritt trug nicht unerheblich zur Motivation und zu einem solidarischen Mittragen der Situation bei.
Das Thema des mobilen Arbeitens von zuhause oder unterwegs gewann an Bedeutung und Dynamik. Die IT-technischen Voraussetzungen mussten in Windeseile geschaffen, Hard- und Software beschafft und sichere Zugänge auf die eigenen Arbeitsplätze gewährleistet werden.
Mit Beginn der Pandemie mussten und wurden zudem Formate der Zusammenarbeit verändert. An die Stelle von Präsenztreffen und Besprechungen traten Telefonkonferenzen, wurden digitale Strukturen aufgebaut und erprobt, wurden Videokonferenzen erst zum Lernfeld und dann zur Selbstverständlichkeit. Dass Deutschland in Sachen Digitalisierung nicht im vorderen Feld mitspielt, war uns längst schmerzlich bewusst. Umso spannender waren der einsetzende kollektive Lernprozess und die zunehmende Erkenntnis, wieviel Zeit und Energie durch digitale Formate eingespart werden kann.
Dem steht aber ebenso die häufig geäußerte Erkenntnis gegenüber, dass nichts ein „echtes“ analoges Gespräch ersetzen kann, dass die informellen und persönlichen Kontakte am Rande eines dienstlichen Termins oder das Gespräch auf dem Flur oder zwischen Tür und Angel wichtig und wertvoll sind.
Die Informationsflut bewältigen
Von der Informationsflut war bereits kurz die Rede. Eine kleine Auswahl: Infektionsschutzgesetz, Corona-Schutzverordnung, Corona-Betreuungsverordnung, Corona-Teststrukturverordnung, Corona-Test- und Quarantäneverordnung, Corona-Einreiseverordnung, Corona-Regionalverordnung, Impferlass, Bußgeldkatalog, Allgemeinverfügungen, Landesverordnungen …
Wenn schon diese Stichworte unübersichtlich erscheinen, dann trug und trägt zum Gefühl der „Informationsflut“ bei, dass die übergeordneten – insbesondere staatlichen – Ebenen die jeweiligen Regelwerke selbst natürlich immer nur auf Sicht erlassen konnten und daher ein permanenter Strom von laufend sich verändernden Einzelregelungen auf die Kommunen zukommt, der in Umfang und Detailtiefe kaum vollständig zu überblicken ist. Dennoch müssen daraus rechtssichere Umsetzungsschritte und Entscheidungen vor Ort abgeleitet werden.
Hinzu kommt leider das Phänomen, dass eine Fülle von landesseitigen Verordnungen und Regeln die Kommunen mit Vorliebe am späten Freitagnachmittag, freitagsnachts, samstags oder sonntags erreichen, aber zugleich ab montags gelten oder umgesetzt sein müssen. Vor allem die städtischen Schulen stellt dies vor enorme Herausforderungen, denn auch hier müssen die Verordnungen und Verfügungen nicht nur aufgenommen, vorbereitet und umgesetzt werden, sie müssen auch in die Eltern- und Schülerschaft kommuniziert und im Einzelfall erläutert werden. Eine ähnliche Lage ergab sich von Anfang an auch für die Kitas und die Betreuungsangebote der Offenen Ganztagsschule und der Übermittag-Betreuung an den Grundschulen, die von Schließung zu Notbetreuung zu Regelbetrieb zu reduziertem Betrieb und wieder zurück pendeln müssen, von der Finanzierung durch die Elternbeiträge oder durch Ausfallzahlungen der Kommune und teilweise des Landes NRW ganz zu schweigen.
Diese kurzen Schlaglichter mögen verdeutlichen, wie wichtig neben der rein formalen Abarbeitung der Aufgaben die Kommunikation ist.
Kommunikation nach innen, nach außen
Durch anlassbezogene Informationen per E-Mail oder Rundschreiben und im engen Austausch mit dem Personalrat fand von Anfang an eine offene und transparente Kommunikation mit den Kolleginnen und Kollegen im Rathaus und den „Außenstellen“ statt. Zusätzlich wurde es zur Daueraufgabe, die politischen Gremien der Stadt in den Sitzungen oder durch Mailings über aktuelle Entwicklungen zu unterrichten und Transparenz in Verwaltungs- und Verfahrensabläufe zu bringen. Diese Aufgabe wurde verstärkt durch teils umfangreiche politische Anfragen, die es zu beantworten galt.
Ebenso wichtig ist und bleibt die klassische Pressearbeit, die Nutzung der Social-Media-Kanäle oder die Schaltung von Videobotschaften für Informationen, Unterstützungsangebote oder Appelle. In einem der ersten Appelle vom März 2020 heißt es etwa:
„Liebe Telgterinnen und Telgter,
vor dem Hintergrund der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus hat die Stadtverwaltung Telgte verschiedene Maßnahmen eingeleitet, die uns neben der vom Land verordneten Schließung von Schulen und Kitas alle betreffen werden. Dabei steht für uns wie für alle Kommunen und staatlichen Ebenen die Vor- und Fürsorge für potenziell gefährdete Bevölkerungsgruppen im Vordergrund.
Zugleich muss aber auch die Funktionsfähigkeit zentraler öffentlicher Leistungsbereiche der Stadtverwaltung gesichert bleiben. Es geht der Appell an alle Telgterinnen und Telgter, mit dieser besonderen Situation besonnen und umsichtig umzugehen.
Dazu gehört es auch, im eigenen Umfeld, in der Nachbarschaft oder im Bekanntenkreis achtsam zu schauen, wo hilfebedürftige Menschen in der jetzigen Phase Unterstützung für Einkäufe, Nahrungszubereitung oder dringende Erledigungen benötigen. Wir sind gemeinsam in der Lage, diese Phase der Verbreitung des Coronavirus durchzustehen und zu bewältigen. Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger sollten ihren Teil mit Aufmerksamkeit und zugleich gelassener Besonnenheit dazu beitragen und für eine gewisse Zeit nicht notwendige Sozialkontakte herunterfahren.“
Schon hier zeigt sich die Herausforderung, einerseits für die Umsetzung und Beachtung der Corona-Schutzregelungen zu werben und zugleich die Zuversicht zum Ausdruck zu bringen, dass die solidarische Bewältigung der Krise möglich ist.
Im April 2020 habe ich aufgrund des verhängten Lockdown und der wirtschaftlichen Folgen persönlichen telefonischen Kontakt zu vielen Telgter Unternehmen aufgenommen, um mir ein Bild über die wirtschaftliche Lage der Unternehmen und Betriebe und über die spezifischen Herausforderungen für die nächsten Monate und Jahre zu machen. Diese persönlichen Gespräche über mögliche Umsatz- und Ertragsausfälle, Kurzarbeit oder gar Geschäfts- oder Betriebsaufgaben, über die Inanspruchnahme staatlicher Fördermittel und etwaige Erwartungen an die Stadt gehörten für mich zum Strauß der Kommunikationsmöglichkeiten und sollten zugleich signalisieren, dass die Situation der Betriebe gesehen und ernst genommen wird. Eine ähnliche Runde von vielen Einzelgesprächen habe ich im Februar 2021 mit einer Reihe von gastronomischen Betrieben wiederholt, die natürlich in besonderer Weise vom Lockdown betroffen sind.
Appelle verbrauchen sich oder verhallen, und so war es aus meiner Sicht immer wieder erforderlich, den richtigen Zeitpunkt für „die richtigen Botschaften“ zu finden. Dabei war und ist es mein Bestreben, durch derartige Appelle keine Erwartungen zu wecken, die nicht erfüllt werden können. Ein falsches „Erwartungsmanagement“ ist aus meiner Sicht einer der größten Fehler in der Kommunikation der Politik auf Bundes- und Landesebene. Auch wenn ich mir manchmal wie ein Spielverderber vorkam, lautete beispielsweise eine Passage in einer Veröffentlichung im Frühjahr 2020 wie folgt:
„… Aber wir stehen nach Einschätzung von Fachleuten noch am Anfang einer Entwicklung, in der sich das Virus mit ungeahnten Folgen weiter ausbreiten könnte. Und so gern wir unsere „Normalität“ des täglichen Lebens wiederhaben möchten: Wir haben es leider noch nicht geschafft.
Jetzt gilt es, unser Verhalten auch für die nächsten Wochen noch ganz darauf zu konzentrieren, Übertragung und Ansteckung mit dem Corona-Virus zu vermeiden. Auch wenn das Frühlingswetter lockt, auch wenn wir zu Ostern gern wieder mit Freunden und Familie zusammenkommen möchten: Jetzt ist die Zeit für Umsicht, Verantwortung und Konsequenz in der Beachtung der Verhaltens- und Hygieneregeln, die Zeit für Akzeptanz und aktive Unterstützung der vorsorglichen Maßnahmen.
Machen Sie mit, seien Sie Vorbild, nehmen Sie die Regeln zur Bekämpfung des Corona-Virus ernst. Es geht um unsere Gesundheit – Ihre eigene und die Ihrer Lieben. Und es geht darum, die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheits- und Pflegesystems im Umgang mit dem Virus nicht zu überfordern. (…)“
Zugleich hat die Entwicklung der Pandemie wie auch die offensive Kommunikation auch ganz viel an Solidarität, Hilfe, Unterstützung und gegenseitiger Achtsamkeit ausgelöst. Es war ermutigend wahrzunehmen, dass viele Menschen in Telgte sofort bereit waren, sich unter den Auflagen zur Kontaktreduzierung dennoch mit anderen und für andere zu engagieren. Das vielfältige Hilfs- und Unterstützungsangebot, das die Stadt gemeinsam mit Ehrenamtlichen auf die Beine gestellt hatte, wurde wahrgenommen und gelebt. Die Koordination und Vermittlung zwischen Helfenden und Hilfesuchenden übernahm die Stadtverwaltung.
Aus der Krise lernen?
Als wir im Frühjahr 2020 begannen, die Corona-Krise als eine echte Krise wahr- und ernst zu nehmen, gab es noch keine wirkliche Vorstellung davon, wie lange und wie tiefgreifend wir im Handlungs- und Gedankenmodus einer Krise bleiben würden. Die Erwartung ging eher dahin, dass der ganze „Spuk“ bis zum Spätsommer oder Frühherbst vorbei sein könnte. Eine Illusion, wie wir alle schnell begreifen mussten.
War oder ist es auch eine Illusion, dass wir aus der Krise tatsächlich etwas lernen können, dass die Erfahrung uns ein Rüstzeug sein könnte für die Bewältigung anderer Herausforderungen und Krisen? Im Mai 2020 – also gefühlt schon im monatelangen Krisenmodus, tatsächlich aber noch ziemlich am Anfang der Pandemie – habe ich in einem Beitrag für eine Zeitung folgendes geschrieben:
„ … so langsam kann man es ja fast nicht mehr hören: Seit Wochen Corona, Corona, Corona – und es ist ja noch kein Ende in Sicht. Und dann diese unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Informationen, die ständig neuen Regelungen und Maßnahmen, die Verordnungen und Erlasse, Beschränkungen und Kontaktverbote… Man könnte sich in Rage schreiben.
Nützt aber nichts. Die Situation ist wie sie ist, die Auswirkungen waren, sind und bleiben dramatisch und zugleich unklar. Aber die Corona-Krise hat meines Erachtens auch gezeigt, dass staatliche und kommunale Stellen, dass Bund, Länder und Kommunen in der Lage sind, strukturiert und effektiv mit einer solchen Krise umzugehen. Und das beruhigt mich.
Wenn es auch sonst genug zu kritisieren und zu bemängeln gibt, Deutschland geht alles in allem einen guten und vernünftigen Weg in der Corona-Krise, die Politik wirbt für Akzeptanz und Einhaltung der Regeln, und die meisten Menschen verhalten sich umsichtig und rücksichtsvoll, schützen sich und andere.
Es gibt auch durchaus Aspekte, die wir aus dieser schwierigen Phase lernen und hoffentlich mitnehmen können: Die Wichtigkeit von ärztlicher Versorgung und Pflege, die Wichtigkeit von Betreuung und Unterstützung Hilfebedürftiger, die enorme Bedeutung der Digitalisierung und die Notwendigkeit, ihre Potenziale zur Kommunikation und Ressourcenschonung konsequenter zu nutzen. Aber auch die Unwichtigkeit manch anderer Dinge und Errungenschaften, die plötzlich an Bedeutung verloren haben.
Und eine weitere Erkenntnis hat ganz viele von uns mit Wucht erreicht, vielleicht eher wie ein beklemmendes Gefühl statt einer klaren Erkenntnis: Unser Leben und Tun, unser Arbeiten und Wirtschaften, unser Lebensstandard – all das ist fragil, zerbrechlich und flüchtig, abhängig von vielen Faktoren und findet häufig auch auf Kosten anderer statt. Und so paradox es klingt: Die Corona-Pandemie hat binnen kürzester Zeit mehr zum Umwelt- und Klimaschutz beigetragen als viele Klimakonferenzen, Beschlüsse und Maßnahmepakete zuvor. Die Krise und ihre unübersehbaren Folgen zeigen uns ja nur zu deutlich, dass wir uns an einen Lebensstil und Lebensmodus gewöhnt haben, die uns und diesem Planten nicht guttun.
Vielleicht liegt gerade deshalb in dieser Krise auch die Chance auf einen neuen Start mit anderen Akzenten, zukunftsorientiert und nachhaltig, und einem anderen Verständnis unseres Umgangs miteinander und mit diesem Planeten.“
Ein Jahr später bin ich da etwas skeptischer. Noch immer sehe ich die Chance, aus der Krise und ihrer Bewältigung zu lernen. Das betrifft die Erfahrung hinsichtlich effizienter Abläufe und Strukturen, das kritische Hinterfragen eingespielter Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, den Lernprozess gemeinsamen Agierens in Krisenstäben, die Nutzung der digitalen Potenziale usw. Das betrifft aber auch Erfahrungen und Erkenntnisse je für sich: Eine stärkere Konzentration auf all das, was uns wichtig ist, Freude an den kleinen Dingen, und – auch wenn das altmodisch klingt – Dankbarkeit und ein bisschen Demut.
Und dann wieder zweifle ich daran, dass wir überhaupt irgendetwas lernen, wenn ich mitten in der Pandemie und bei steigenden Infektionszahlen Bilder von wilden Partys hunderter Leute in Brüssel und anderswo sehe, die fast panikartigen Urlaubsreisen nach Mallorca über Ostern oder die unsäglichen Demonstrationen von Corona-Leugnern, Querdenkern und Rechtspopulisten.
Aber vielleicht gehört genau das auch zu den Herausforderungen: Die Wünsche nach allem, was uns vor der Pandemie so wichtig war, zuzulassen und zu spüren, ohne ihnen in jedem Fall und in vollem Umfang nachzugeben. Und sich zugleich auf die Zeit zu freuen, wo Dinge wieder möglich sind, so wie früher, oder eben anders. Denn auch die Versagung oder der Aufschub von Wünschen kann ja Teil eines Lernprozesses sein.
Wolfgang Pieper
Wolfgang Pieper (59) hat nach Abitur und Zivildienst Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaft studiert. 1989–2010 Geschäftsführer der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Landschaftsverband Westfalen-Lippe; seit 1984 kommunalpolitisch im Rat der Stadt Telgte aktiv, davon 15 Jahre als Fraktionssprecher. Wurde im Mai 2010 zum hauptamtlichen Bürgermeister der Stadt Telgte gewählt, Wiederwahl 2016 und 2020.