Eine Annäherung1
Vermutlich war es für viele Kollegen und Kolleginnen so: Die Pandemie hat uns die online-Supervision „aufgenötigt“. Der Bedarf an Beratung und professioneller Reflexion forderte geradezu das Angebot einer virtuellen Kommunikation. Und mit Erleichterung sprachen Kollegen und Kolleginnen nach erstem Zögern und dann mutigen weiteren Initiativen davon, dass doch manches gehe, dass man überrascht gewesen sei, weil einem in einer online-Supervision zwischendurch ganz entfallen war, dass das alles ja gerade virtuell ablief.
Und ich kann bestätigen: für kurze Momente war ich in einer Einzelsupervision am Bildschirm ganz introspektiv gewesen – mit dem sicheren Gefühl, der Frau, mit der ich im Gespräch war, sei es gerade genauso gegangen. Ein Wort klang nach, blieb zwischen uns stehen – ein Schweigemoment, eine Stille des gemeinsamen Nachdenkens. Und es schien, als sei eine Art sozialer Gemeinschaft entstanden, ein „Wir-hier-gemeinsam-denken-über einen-Vorgang nach“, und das Gemeinsame war, dass es in Jetzt-Zeit geschah, gleichzeitig, und wir voneinander wussten, dass wir ein gemeinsames Gesprächsthema hatten.
Der leicht summende Ventilator des Computers holte mich dann in die andere Wirklichkeit zurück, ich blickte auf und fragte mich: Wohin hat die Supervisandin denn gerade gesehen? Was kann ich in ihrem Gesicht lesen? Ich sah ihre Augen nicht, ich spürte und hörte ihre Bewegungen nicht, ich fiel fast in ein „Im-Raum-Alleinsein“ zurück und fragte sie darum: Woran haben Sie gerade gedacht? Damit konnte dann ins Wort kommen, was sich in den Gefühlen und Gedanken abgespielt hatte … das Wort, die Reflexion der Stille war die Brücke.
Internet-Kommunikation …
Mein erster und noch ziemlich uninformierter Blick in wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema von „Wir-Erfahrungen“ online („we-experiences, togetherness“ oder „empathy online“, so Osler (2020) oder Osler (2021)) verdeutlicht, dass es sowohl eher pessimistische, wie optimistische Positionen zu der Frage gibt, inwieweit online Kommunikation Gemeinschaftserfahrungen ermöglicht, auch wenn keine körperliche face-to-face Situation gegeben ist.
Die eher begeisterten Positionen verweisen – so Osler (2020, S. 571) vor allem auf neue ungeahnte Freiheits- und Beziehungserfahrungen online, neue Gruppen- und Kontaktformen seien möglich und eröffneten völlig neue Erfahrungen von Aspekten der eigenen Persönlichkeit. Und tatsächlich wissen wir aus eigenen Kenntnissen oder Medienberichten: Das Internet ist inzwischen eine große Kontaktbörse, Dating-Portale vermitteln intime Beziehungen, ein breites Spektrum von Interessensgruppen trifft sich online, ganze Kunstprojekte entstehen in online-Formaten und viele Menschen halten über Skype lange Zeit ihre persönlichen Beziehungen aufrecht.
Die eher skeptische Position fürchtet, dass das Internet soziales Leben eher erodieren lässt und fragt, ob die face-to-face – Kommunikation, die offline und in Präsenz stattfinde, nicht etwas ganz anderes sei, als die online-Kommunikation. Online wird hier mit „virtuell“ und offline mit „real“ konnotiert (vergl. Osler 2020, S. 572) und damit vielleicht auch als „real“ gegen „künstlich“ bewertet.
Tatsächlich werden seit Beginn die vielfältigsten Aspekte von Internet-Kommunikation auch wissenschaftlich in den Blick genommen. Hier kann nur auf einige interessante Veröffentlichungen hingewiesen werden, die auf den ersten Blick auch zur Kenntnisnahme von Supervisor*innen von Interesse erscheinen.
Schon früh entstand im Kontext von international operierenden Unternehmen ein Nachdenken über die Führung von virtuellen Teams, etwa Herrmann u.a. (2006). Seit Hochschulen Blended Learning eingeführt haben, gilt der reflektierende Blick von Medien- und Bildungsforscher*innen den Bildungsprozessen online, so etwa Groß (2008) oder Grieshop u.a. (2017); philosophische Reflexionen betrachten das Subjekt im Internet, etwa Gentzel u.a. (2019) und Emotionen und Körperinszenierungen werden von Medienkulturforscher*innen untersucht, wie z.B. Hahn (2014) oder Hahn und Stempfhuber (2014). Zur Online-Supervision sind die Untersuchungen eher marginal, online-Coaching dagegen ist bei diesem kursorischen Blick bereits mit einer bemerkenswerten Veröffentlichung vertreten: Berninger-Schäfer (2018).
… und worum es hier gehen soll
Wenn ich mich an dieser Stelle nun mit dem Thema online-Supervision befasse, so beruht mein Nachdenken auf wenigen – doch eher spärlichen – Erfahrungen damit. Es kann im Folgenden also nur darum gehen, das, was ich erfahren und erlebt habe, zu überdenken und mit den Kategorien oder Theoremen zu befragen, die sich ausgehend von meinem Begriff von Supervision und Beratung nahelegen. Darum werde ich im Folgenden die Chancen und die Grenzen ausloten, die sich mir zeigen und gehe zurück zu meiner Einzelsupervision, die während der Hauptphase der Pandemie stattfand.
Tatsächlich waren wir uns schon aus einigen Sitzungen Supervision vor der Pandemie vertraut. Die Konflikte, in die sie geraten war, waren mir bekannt, wir hatten auch schon einige Muster herausgefunden, typische Interaktionsfallen, in die sie immer wieder geriet. Nun aber trafen wir uns online.
Leerstellen
Der Moment, den ich oben beschrieb, machte mir klar: Wir waren beide in einem Gespräch, aber es fehlte etwas. Es fehlten Präsenz und Raumgefühl, wir teilten die Zeit, aber nicht den Raum. Das „Hier und Jetzt“ war begrenzt, es war nur ein „Jetzt“ und nur technisch vermittelt ein „Hier“. Da war so etwas wie eine „Leerstelle“. Und gleichzeitig war etwas anderes zusätzlich da: Der vermittelnde Computer, das Gerät deutlich in seiner Anwesenheit durch das leise Geräusch des Ventilators.
Ich frage mich heute: Ist nicht auch in der direkten Kommunikation vieles, wenn nicht gar das Meiste Projektion, Annahme, Vermutung, Konstruktion? Leben wir nicht in der Supervision immer damit, unsere Einfälle auszusprechen, sie mitzuteilen, so dass der Andere sie überprüfen, sich davon ansprechen lassen, darüber nachdenken kann? Lebt nicht jede Interaktion von Initiative und sozialer Kontrolle der Reaktion des Anderen darauf? Befinden wir uns in einer solchen Interaktion nicht immer in einem gemeinsamen Rollenspiel, das ja, wie schon Goffman beschrieb, immer eine Vorder- und eine Hinterbühne hat (Goffman 1976), also etwas, was sich sichtbar abspielt, und etwas, was verdeckt bleibt an Motiven und Interessen?
Diese Interaktionen sind auf den ersten Blick durchaus auch virtuell möglich, wir sehen den anderen, hören einander zu, verstehen den Inhalt und hören den Klang der Worte, die Satzstellung, die Bildsprache, die Intonation – alle diese nonverbalen Mittel der Beziehungsgestaltung und Reflexion, der Angebote, mitzuschwingen: Das alles ist doch auch online vorhanden!? Wir können auch online empathisch sein – unser Ohr nimmt viele Gefühle wahr. Empathie hängt, wie die Phänomenologie festhält, an der Ausdrucksseite unserer Kommunikation (Osler 2021), und auch online können wir die Expressivität des anderen erkennen und uns einfühlen.
Aber etwas ist auf eine eigentümliche Art und Weise anders. Wir kennen uns möglicherweise schon aus Zeiten in Präsenz und wissen, wie wir den anderen wahrnehmen, wir kennen seine Art zu sprechen, sich zu verbergen, vorsichtig Offenheit zuzulassen oder abzuwehren. Und wir kennen unsere eigenen Resonanzen auf ihn.
Allerdings – beim Sprechen schaut der Andere ja nicht mich an, sondern die Kamera. Es ist kein gegenseitiges Anschauen, bei dem ich im Gesicht des Anderen das Mienenspiel, die Mikromimik lesen und deuten kann und selbst mehr oder minder bewusst darauf reagiere.
Und wenn er nicht in die Kamera schaut, sondern vielleicht auf mein Bild, so wie ich auf der anderen Seite vielleicht auch nicht in die Kamera schaue, sondern auf ihn, oder besser: Auf das Bild, das sich gerade von ihm auf meinem Bildschirm zeigt? Wir können dabei beide tatsächlich etwas von der Mikromimik des anderen sehen, aber es fehlt die Direktheit, Gegenseitigkeit ist nicht da. Wir wissen nicht wirklich, was der je andere gerade in den Blick nimmt und was in seiner Mikromimik da gerade ausgedrückt wird. Was hat es mit mir und meinem Reden zu tun? Was mit dem, worüber wir gerade sprechen? Könnte sein Lächeln auch durch den Blick auf sein Handy ausgelöst sein, auf dem gerade die Nachricht einer Freundin erscheint?
Die virtuelle Welt, der virtuelle Raum ist technisch konstruiert, mein Bild wird von der Kamera aufgezeichnet und virtuell an den anderen weitergegeben. Ich kann den anderen nicht direkt anblicken. Dabei sieht er mich und fühlt sich von mir vielleicht angeblickt, das geht, aber es ist nicht mein Blick auf ihn, den er da sieht, denn ich schaue in eine Kamera. Und wenn er auch in die Kamera blickt, habe ich zwar den Eindruck von Angeblickt-werden, aber er schaut nur auf das Gerät, die Kamera.
Täuschungen
Das bedeutet, dieser Eindruck von Angeblickt-werden ist eine Täuschung, das Bild, was ich sehe, ist eine Abbildung. Mimik und Gestik, die ich beim Blick in die Kamera zeige, sind vielleicht eine Resonanz auf das, was der andere sagt, aber nicht auf seinen Blick.
Nicht selten verweilt zudem beim Sprechen mein Auge auf mir selbst: Wie sehe ich denn gerade aus, welche Stimmung zeigt da mein Gesicht? Das ist ganz besonders dann der Fall, wenn man zwei Monitore hat und die Kamera dazwischen platziert ist. So ist es im Moment bei mir – Ich sehe mich gelegentlich meinen eigenen Gesichtsausdruck kontrollieren, während ich rede – das ist ungewöhnlich für normale Kommunikation. Und diese Selbstkontrolle kann mich an mir selbst festhalten, sie ist in der online-Kommunikation etwas Zusätzliches – ich kann durch meine eigene Mikromimik abgelenkt werden. Was dagegen offline möglich ist: Ich sehe den anderen und er sieht mich – und während dieses gegenseitigen Anschauens (und wieder Wegblickens), können wir innerlich reflektieren, was wir sehen und gesehen haben und sind in Präsenz und Gegenwart einander zugetan, wir blicken nicht auf uns selbst, sondern den anderen an.
Halten wir fest: Die Bilder, die bei einer online-Supervision durch die technischen Rahmenbedingungen der beiden Kameras entstehen, verzerren den Interaktionsvorgang. Er ist „begrenzt“, um nicht zu sagen „amputiert“ – auch wenn da viel anderes ist durch den Klang der Worte, durch das Gespräch, das entsteht. Im Hören auf den anderen ist durchaus eine Unmittelbarkeit möglich. Was an Worten gesprochen wird, was an Worten ausgelassen wird, wo gestoppt, wo gezögert, wo zu schnell gesprochen wird – das alles kann einen semantischen Raum entstehen lassen. Das alles ist – wie auch sonst in unseren Gesprächen – deutbar, reflektierbar, löst Gefühle und Bilder aus – Resonanzen …
Allerdings darf nicht übersehen werden: Die nonverbalen Kommunikationsbegleiter sind auch beim Sprechen digital anders. Die Digitalisierung eliminiert Frequenzbereiche, das Timbre ist nicht so ausgewogen, auch wenn die Mikros inzwischen schon sehr gut sind. Klang braucht Raum – wir merken das schon, wenn wir in einem Raum erleben, dass jemand sich einem anderen zuwendet und spricht – wir hören seine Worte schon anders, als derjenige, dem er sich zuwendet.
In einer Video-Konferenz muss in der Supervision von beiden so etwas wie ein „Beziehungsraum“ fiktional aufgebaut werden. Man kann vielleicht anknüpfen an Erfahrungen aus der offline-Begegnung, dieser Raum besteht zunächst aber im Wesentlichen in unserer jeweils durch das Bild und den Ton angeregten Phantasie. Wahrscheinlich kann er aber durch gemeinsames Reflektieren und gegenseitige Offenheit über das jeweilige Erleben an Qualität gewinnen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich durch systematische Reflexion und Selbstreflexion dieser neuen Wirklichkeit andere „Realitäten“ entwickeln … Es bleibt eine ungeklärte Frage, ob sich auch nur annäherungsweise ein Beziehungsraum entwickeln lässt, wie er im ganzheitlichen Resonanzerleben als Raum, als „bipersonales“ Feld (Ferro 2003) in Präsenz möglich ist?
Stellvertretende Krisenbewältigung
Supervision als stellvertretende Krisenbewältigung hat es mit Anliegen z.B. einer Supervisandin zu tun. Diese hat die Autonomie ihrer beruflichen Praxis verloren, sie dreht sich mit ihrem Handeln vielleicht im Kreis und sucht – aus welchem Anlass immer – nach besserem Verstehen ihrer beruflichen Rolle oder nach einer Veränderung. Die professionelle Begleitung lebt davon, dass ein Arbeitsbündnis zwischen Supervisorin und Supervisandin entsteht, sozusagen eine „gemeinsame Praxis der Stellvertretung“, ein Beziehungsraum im „Hier und Jetzt“, in dem die Themen von „Dort und Dann“ aufkommen können, beiderseitig betrachtet und bedacht werden und neue Wahrnehmungsebenen entstehen. Aus diesem Praxisraum heraus entstehen neue Lösungen, die vielleicht in ihren möglichen Folgen abgeschätzt und nach gemeinsamer Prüfung für eine neuerliche „Dort- und Dann“-Praxis der Supervisandin als tauglich befunden werden.
Der fremde supervisorische Blick auf das eigene Verhalten entbehrt in der Regel nicht der Aufregung. Eine Supervisandin stellt sich hier ihren (möglicherweise tiefgreifenden) Handlungsproblemen und genau das bedarf einer achtsamen und behutsamen Begleitung, um eine damit ggf. verbundene Abwehr oder auch Schamgefühle beruhigen zu können. Die Paradoxien des supervisorischen Arbeitsbündnisses, wie sie z.B. Aguado (2019) herausgearbeitet hat, erfordern eine tragfähige Vertrauensbeziehung. Diese ist sicherlich auch online herstellbar. Die Erfahrung zeigt, dass die üblichen Interventionen, die resonanzgebenden Feedbacks, die öffnenden Fragen, das einfühlsame Verstehen auch online möglich sind. Supervisorische Haltungen können auch online gelebt und verstanden werden. Was wirklich fehlt, ist der gegenseitige Blick, die reale Gegenwart des anderen.
Die Bedeutung des gegenseitigen Anblickens
Der direkte Blick des Anderen öffnet uns, macht uns wach. Wir haben von früh auf gelernt, uns selbst im aktuellen Blick des anderen zu sehen und zu erkennen. Der Blick des anderen gibt eine innere Sicherheit und eine innere Beruhigung, weil diese Wahrnehmung durch den Anderen direkt an Tiefenerfahrungen aus unserer frühen Lebensgeschichte anknüpfen kann. Durch eine damit vielleicht verbundene Sicherheit können wir uns auf den Inhalt des Gesprächs und die Interaktionsvorgänge konzentrieren.
Der Blick des Anderen kann eine Krise, in der wir uns selbst vielleicht gerade befinden, mit aushalten, er spielt uns sein Containing zu, er ist sozusagen selbst der Ausdruck des Containing. Natürlich kann die direkte Face-to-Face Situation auch ängstigen, zu direkt sein. In Präsenz können wir jedoch damit spielen und immer wieder ausweichen, um uns wieder anzublicken.
Das kann ganz sicher auch die Resonanz durch ein gesprochenes Wort, aber zusammen mit dem Angeblickt-Werden, oder wenigstens der Chance dazu, kommt erfahrungsgemäß eine andere Intensität zustande. Was in der Offline-Welt in Anwesenheit möglich wird, was an blitzschnellen emotionalen Bewegungen im Blickkontakt von zwei Menschen geschieht, ist ein schnelles visuelles und sinnliches Abtasten der Emotionen des anderen, und auch eine blitzschnelle Reaktion oder ein blitzschnelles Verbergen entstandener Gefühle. Das Verbergen aber kann in einer Anwesenheitssituation trotzdem vom Anderen gefühlt oder wahrgenommen werden, weil er andere Gesten, Haltungen usw. sehen und erspüren kann. Ein Zucken der Hände, eine kleine Drehbewegung, ein schweres Atmen, ein fast zurückgehaltener Seufzer. Diese Gesten und sinnlich wahrgenommenen Verhaltensweisen werden von uns – das haben wir habituell gelernt – gedeutet und eingeordnet.
Bewusstheit – und Unbewusstes: Agieren und Inszenieren
In Präsenz sind unbewusste Inszenierungen leichter zu erkennen, oder wenigstens haben wir in der direkten Interaktion mehr Anzeichen zur Verfügung, die vermuten lassen, dass es hier in der Kommunikation etwas Verdecktes, Unbewusstes gibt. Diese Vermutungen sind stark gebunden an das Agieren, das Inszenieren, das aber online nicht so leicht zu erkennen ist – oder mindestens einer ganz anderen Aufmerksamkeit bedarf. Online haben wir nur das auf dem Monitor abgebildete Gesicht, wir sehen den Körper nicht.
Das Spiel zwischen Unbewusst und Bewusst, welches sich in Übertragungen und in Szenen zeigt und in Inszenierungen verstanden wird, braucht – und ich will eher vorsichtig sagen: vielleicht – mehr den Körper und den Raum. Der Raum, auch der konkrete Kontext ist dazu wichtig. Im Raum fließen die Ebenen von Körper, Sprache und Darstellung immer zusammen. Und die Interaktion, das gegenseitige Anblicken sowie die spontane körperliche Resonanz ist online auf die Wahrnehmung auch meistens nur eines Teils des Gesichtsausdrucks begrenzt.
An dieser Stelle muss man vielleicht zu Kenntnis nehmen, dass sich ja auch in einer Psychoanalyse, wenn sie unter Nutzung der Couch durchgeführt wird, beide Beteiligte nicht ansehen. Und tatsächlich spielt hier der Klang der gesprochenen Worte eine große Rolle. Aber die Körper sind anwesend, man kann spüren, dass da noch jemand ist, durch den die erlebten inneren Welten ganz präsent „beantwortet“ werden. „… das Sprechen selbst, das im Zentrum der analytischen Praxis steht, ist körperlich. Man hört mit dem Ohr, spricht mit dem Mund. Der Körper ist ja da in der Kur, gelagert auf der Couch. Der Entzug des Blickkontaktes setzt den Akzent auf die sprachliche Verbindung …“ (Wegener 2019, S. 180). Es ist ein gemeinsam geteilter Raum, in dem Anwesenheit, Gegenwart, Resonanz im bipersonalen Feld gespürt werden kann.
Der verzerrte Blickkontakt bei einer online-Supervision scheint demgegenüber eher störend, da er ablenken kann von dem, was man hören kann. Wenn man sich nur auf das Hören und den inneren Widerhall der gehörten Worte konzentriert, ist die Wahrnehmung zwar begrenzter, aber mit einer anderen Konzentration möglich – das ist jedenfalls meine Erfahrung. Diese hat auch dazu geführt, dass ich in der Zeit der Pandemie jedenfalls mehr Telefonate angeboten habe. Meine Erfahrung war, dass ich damit leichter Zugang zu meiner eigenen Introspektion hatte.
Fazit: Online-Supervision hat sich in Zeiten der Pandemie ausgeweitet und war für Supervisandinnen und Supervisorinnen wahrscheinlich gleichermaßen „notwendend“. Viele Kollegen und Kolleginnen sind allerdings mit einer gewissen Erleichterung überwiegend zu Supervision in Präsenz (wenn auch mit Abstand) zurückgekommen und nutzen online-Formate nur in Ausnahmen. Denn bei allen Grenzen, die oben skizziert wurden – die Chancen, die sich durch diese Formate für Supervision ergeben, sind nicht zu unterschätzen. Das bedeutet nicht, den kritischen Blick zu verlieren. Am Ende sei auf die sehr gute Beschreibung der Folgen für die „seelische Entwicklung“ von Kindern und Jugendlichen durch die Erweiterung der virtuellen Kommunikation und den Verlust von realen Lebens- und Beziehungswelten hingewiesen, wie sie Plassmann (2013) vorgelegt hat. Tatsächlich sind die Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen aktuell mehr damit beschäftigt, die klinischen Folgen dieser Umwälzungen für Kinder und Jugendliche zu bewältigen. Das muss uns nicht hindern, die Chancen von online-Supervision für Erwachsene weiter zu erforschen und zu analysieren. Es handelt sich ja um ein anderes Format als Therapie. Nicht zuletzt: auch Kommunikation in Präsenz ist sich nicht gleich. Es ist durchaus etwas anderes, ob wir ein belangloses Gespräch mit der Nachbarin führen oder die Krise einer Supervisandin begleiten. Am Ende scheinen mir zwei Aspekte zentral: Zum einen muss man die Kamera so platzieren, dass man selbst, während man fast in die Kamera schaut oder ein kleines bisschen daneben, das Gesicht des anderen und seine Mimik noch sehen kann. Dann kann – bei aller beschriebenen Begrenzung – vielleicht etwas mehr Unmittelbarkeit gefühlt werden. In der veröffentlichten Literatur geht man – zweitens – davon aus, dass die online-Kommunikation, soll sie mehr Intensität bekommen und Beziehungen entwickeln helfen, stärkere Meta-Kommunikation erfordert. Man muss dann in online-Beratungskontexten mehr darüber sprechen, wie man eine Situation gerade erlebt und wie man sich gegenseitig sieht. Das bedeutet, der Beziehungsraum, den ich für die Online-Beratung als „begrenzt“ oder sogar „amputiert“ beschrieben habe, muss viel systematischer ins Bewusstsein kommen. Ihn in den beschriebenen Grenzen weiterentwickeln zu können, erscheint allerdings lohnend.
Literaturverzeichnis
Aguado, Miquel (2019): Krisenbewältigung und Professionalität von Supervisoren. Eine empirische Untersuchung anhand narrativ-biographischer Interviews. Masterarbeit. Fachbereich 01 Humanwissenschaften, Universität Kassel.
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Ferro, Antonino (2003): Das bipersonale Feld. Konstruktivismus und Feldtheorie in der Kinderanalyse. Gießen: Psychosozial-Verl. (Bibliothek der Psychoanalyse).
Gentzel, Peter; Krotz, Friedrich; Wimmer, Jeffrey; Winter, Rainer (Hg.) (2019): Das vergessene Subjekt. Subjektkonstitutionen in mediatisierten Alltagswelten. Springer Fachmedien Wiesbaden. Wiesbaden, Heidelberg: Springer VS (Medien – Kultur – Kommunikation). Online verfügbar unter http://www.springer.com/.
Goffman, Erving (1976): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 3. Aufl., 8.–10. Tsd. München: Piper (Piper-Sozialwissenschaft Texte und Studien zur Soziologie, 20).
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Hahn, Kornelia; Stempfhuber, Martin (2014): Präsenzen 2.0. Körperinszenierung in Medienkulturen. 1. Aufl. s.l.: Springer VS (Medienkulturen im digitalen Zeitalter). Online verfügbar.
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Wegener, Mai (2019): Im Echoraum des Körpers. In: Ulrike Kadi und Gerhard Unterturner (Hg.): Macht – Knoten – Fleisch. Topographien des Körpers bei Foucault, Lacan und Merleau-Ponty. Wiesbaden: Springer Verlag GmbH Deutschland, S. 177–194.
Dr. Bernadette Grawe
Bernadette Grawe, (*1951) aufgewachsen in Gütersloh, lebt in Warburg. Berufliche Stationen: nach einem Ausflug in die Pharmazie, Studium der Katholischen Theologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften, langjährige Tätigkeiten in verschiedenen Feldern der Jugendverbandsarbeit, freiberufliche Praxis als Supervisorin DGSV (seit 1992), Trainerin für Gruppendynamik (seit 2001), Promotion zum Dr. phil. (2002), Professorin für das Lehrgebiet „Sozialmanagement“ an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn (2005–2017), seither Praxis für Supervision und Beratung. www.grawe-netz.de Bernadette.grawe@t-online.de