Supervision, Coaching & Beratung findet seit März 2020 zunehmend auch im digitalen Raum statt. Manche Leser:innen erleben das inzwischen selbstverständlich als ein zusätzliches Format, in dem Beratungsleistungen angeboten werden können. Andere machen digitale Supervision, virtuelle Supervision oder OnlineSupervision weiterhin zu einem „Notfallverfahren“, dessen Anwendung von der aktuellen Inzidenzlage abhängt. Das „Original“ bleibt dabei immer noch das Arbeiten in Präsenz, in Wirklichkeit.
Ich möchte in diesem Artikel erneut meine Erfahrungen, die Vor- und Nachteile, verknüpft mit Empfehlungen für supervisorische Praxis unter diesen zusätzlichen digitalen Anforderungen zum Thema machen und berichten. Ich lade zu einem inneren Diskurs ein, sich mit den Gedanken zu beschäftigen und eine eigene Haltung dazu zu entwickeln.
Was spricht dafür, eine digitale Kompetenz als Supervisor:in zu entwickeln und am Markt zu vertreten?
Wer digital Supervision auch über Zoom, Clickdoc (Datenschutzkonform) oder Microsoft TEAMS anbietet, arbeitet unabhängiger von der Dynamik der Pandemie. Das ist ein Vorteil. Sitzungen müssen pandemiebedingt nicht mehr zwingend abgesagt werden. Prozesse werden dadurch fortgeführt und verlässlich, und Supervisand:innen haben zusätzlich zum realen Ort (die Praxis des:r Supervisor:in) einen virtuellen Ort (bei sich selbst im eigenen Laptop), der zur Reflexion beruflichen Tuns zur Verfügung steht.
Dieser virtuelle Ort ist frei von pandemischer Angst und kann sogar ohne Impfung und Maske besucht werden (siehe Fotostrecke oben). Die Brille beschlägt nicht und man spart die manchmal beschwerlichen An- und Abfahrtszeiten, die u.U. sogar bedeuten, sich in eine volle S-Bahn zu quetschen oder im Feierabendverkehr festzustecken. Parkgebühren entfallen bei der Einzelsupervision für die Supervisand:innen ebenso wie Anfahrtspauschalen oder Kilometerpauschalen für den/die Supervisor:in bei der eher aufsuchenden Teamsupervision. Digitale Supervision ist also preisgünstiger für alle Parteien.
Gleichzeitig wird durch das Angebot der virtuellen Supervision die Supervisionssitzung in Präsenz automatisch aufgewertet. Ich habe Supervisand:innen, die über das Jahr verteilt, immer mal wieder digitale Sitzungen angefragt haben. Jetzt neigt sich 2021 dem Ende und es stehen Prozessauswertungen, Zwischenauswertungen und Abschlüsse von Prozessen an. Da höre ich oft: „Ich würde die gemeinsame Zwischenauswertung gerne persönlich und in Präsenz bei Ihnen in der Praxis machen. Das ist dem Anlass angemessen und wäre bisschen blöd digital.“ Schon aus dem Marketing ist bekannt, dass ein Produkt sich dadurch aufwerten lässt, dass man ein alternatives Produkt im Markt einführt, welches aber hinter dem Original gewissermaßen zurücksteht. Dadurch wird das Original noch wertvoller. So ist es auch mit Supervision.
Schließlich erweitert die digitale Perspektive natürlich das Einzugsgebiet der potentiellen Supervisanden erheblich. Ich arbeite in der Einzelsupervision überwiegend mit Führungskräften, die alle 2–3 Jahre den Arbeitsort wechseln, für einige Monate oder Jahre ins Ausland gehen oder innerhalb Deutschlands umziehen, weil sie Aufgaben in einer anderen Niederlassung der eigenen Organisation übernehmen. In der Vergangenheit habe ich diese Prozesse meist beendet (vor allem bei Auslandsentsendungen) und ggf. nach Rückkehr fortgesetzt. Heute erlebe ich eine selbstverständliche Fortsetzung der Beratungsprozesse, dann eben aus dem Ausland über Zeit- und Landesgrenzen hinweg per Zoom.
Und was ist in einer digitalen Sitzung möglich und in Präsenz nicht? Der/die Supervisor:in kann den realen Ort der Supervision an den eigenen Termin- oder Reiseplan anpassen und virtuell trotzdem „in der eigenen Praxis“ sein (siehe Fotostrecke oben). Der/die Supervisor:in kann Inhalte virtuell teilen. Man kann gemeinsam einen Lebenslauf lesen und verändern oder ein Arbeitsergebnis eine:r Supervisand:in in der Sitzung im Internet besichtigen und besprechen (z.B. zeigte mir eine Kommunikationsstrategin durch „Bildschirm-teilen“ die von ihr entwickelte Kampagne, die das Ergebnis komplexer Teamdynamiken und Abstimmungen war und in den Sitzungen zuvor intensiv mit mir bearbeitet worden ist). Es ist möglich, während der Sitzung in den eigenen digitalen Notizen zu blättern, wenn man als Supervisor:in z.B. einen Aspekt aus einer vorherigen Sitzung erinnert, aber der entsprechende Name einem nicht mehr einfällt. Auch kann man/frau während der Sitzung Notizen machen. Beides – die eigenen Aufzeichnungen zu Rate ziehen und selbst Notizen machen – geschieht digital deutlich störungsfreier, als wenn man in einer Präsenzsitzung das Notizbuch herausholt und darin blättert. Die Interventionsstärke und damit Störung der Erzählung der/des Supervisan:in ist digital geringer und muss natürlich trotzdem transparent gemacht werden.
Was ist ein Problem in digitalen Supervisionssitzungen bzw. braucht eine klare Haltung, um damit umgehen zu können?
Wird die Supervision in den digitalen Raum verlegt, verändert das die Beziehungsgestaltung fundamental.
Wie die Fotostrecke oben zeigt, können Raum und Zeit virtuell manipuliert werden. Der/die Supervisand:in muss drauf vertrauen, dass die Supervisionssitzung eben NICHT aus dem ICE der Deutschen Bahn, sondern in einem störungsfreien und vertraulichen Raum abgehalten wird.
Während der reale Praxisraum bekannt und konstant ist, muss für jede digitale Sitzung ein Link erstellt und verschickt werden. Das erzeugt eine Abhängigkeit in beide Richtungen:
Verschickt der/die Supervisor:in den Link, landet der/die Supervisand:in zunächst im „Warteraum“ und muss „hineingelassen“ werden, damit die Sitzung real wird. In den Praxisräumlichkeiten meiner Altbauwohnung in Wiesbaden gibt es auch einen Wartebereich, aber der supervisorische Prozess beginnt regelmäßig schon lange vorher: Wie nähert sich jemand der Praxis? Laut telefonierend auf der Straße vor der Praxis, dann klingelnd, hereingelassen werdend, noch mal die Toilette besuchend, Jacke ablegend, sich die Hände desinfizierend usw. oder ganz anders? All dies fehlt in der digitalen Sitzung und kann durch ein „Sie befinden sich im Warteraum. Der Gastgeber der Sitzung lässt Sie in Kürze ein“ eben nicht ersetzt werden.
Verschickt der/die Supervisand:in den Link, dann ist es umgekehrt: Der/die Supervisor:in wird eines Teils seiner/ihrer Settingverantwortlichkeit beraubt. Man/frau ist dann genötigt, eine neue Konferenzsoftware herunterzuladen, sich dort einen Account anzulegen, vorab einen Einwahlversuch zur Erprobung von Kamera- und Mikrophonfunktionalität zu unternehmen, um schließlich im digitalen „Nirgendwo“ auf Einlass durch den/die Supervisand:in zu warten. Verkehrte Welt, aber trotzdem manchmal zu überlegen, wenn z.B. Companypolicies nur die Verwendung einer spezifischen Software für Videokonferenzen zulassen.
Je nach digitaler Kompetenz führt das digitale Format zu einem höheren Maß an Strukturierung und macht ein neues Thema in der Sitzung auf, das unterschiedlich viel Raum nehmen kann und Zeit abzieht von anderen Themen. Hier einige Beispiele für typische und häufige Aussagen in digitalen Teamsupervisionen:
- „Du bist noch stumm geschaltet.“ => „Ah – danke – jetzt – sorry“.
- Lippenbewegungen auf Video, die erahnen lassen: „Könnt Ihr mich hören?“ => Kopfschütteln
- „Herr Meyer – Ihre Kamera ist noch aus.“ => „Ja – entschuldigen Sie, aber dieser alte Laptop hat gar keine. Geht es auch so, heute?“
- „Seht Ihr mich eigentlich alle, weil ich seh’ nur mich?“ => „Ja – du musst auf ‚Galerie‘ schalten – dann siehst Du uns auch. Ich seh’ alle.“ => „Ich auch.“ => „Ich nicht.“
- „Ich lasse die Kamera lieber aus, weil mein Internet so langsam ist“ … (Bild ruckelt) … (Bild friert ein) … (Teilnehmer:in hat gerade einen sehr unvorteilhaften Grimassengesichtsausdruck) … (Lachen der Anderen) …. (Bild ruckelt wieder) „Habt Ihr mich gerade gehört?“ => „Nö“
- (Störgeräusche … Störgeräusche) „Wir sitzen heute zu dritt im Büro … mit Abstand natürlich … weil wir nur einen Laptop haben“ (Störgeräusche)
- (Kleinkind wurschtelt sich auf den Schoß der Leitung einer Flüchtlingseinrichtung. Es ist das eigene Kleinkind) … (Kind nimmt 70 % der Bildfläche ein) … (Kind hat Kopfhörer auf) … „Sag mal Ute, hört Deine ‚süße‘ Tochter bei unserer Supervision mit?“ => „Nein, Emilia hört ‚Bibi und Tina‘-Hörspiel“
Mit diesen und anderen Szenen muss ein eigener Umgang gefunden werden, wenn man/frau digitale Supervision anbietet. Zwangsläufig. Das Digitale erwächst zu einer eigenen Dimension, die Raum nimmt und Möglichkeiten bietet, zu denen wir uns als Supervisor:innen verhalten müssen. Ähnlich wie bei der Nutzung von Microsoft Powerpoint, bieten die Videokonferenzplattformen auch unendliche Möglichkeiten digitaler Kooperation: Inhalte teilen (siehe oben), „abgespacete“ Bildhintergründe nutzen (siehe Fotostrecke), Gruppe in Kleingruppen in virtuelle Räume schicken (vgl. BreakOut-Rooms-Funktion), Sitzungen auf Video aufnehmen, öffentlichen Chat nutzen, privaten Chat nutzen (nur zwei Teilnehmer:innen einer Teamsupervision schreiben sich ‚private‘ Nachrichten. Der Rest der Gruppe weiß das nicht, ist aber Gegenstand der Unterhaltung), bei größeren Gruppen: unbemerktes Ein- oder Ausklinken in oder aus der Sitzung, was manchmal erst später bemerkt wird. Wer digital arbeitet, muss all diese Elemente verstehen, lenken, strukturieren und regeln. Deshalb ist digitale Supervision immer höher strukturiert als Supervision in Präsenz.
Und schließlich: Die Wirksamkeit in einer Gruppe kann digital aktiv beeinflusst werden und zwar unter „Einstellungen“ in der Videokonferenzsoftware. Was meine ich damit? In einer Präsenzsitzung gibt es Teilnehmer:innen die sich leichter und andere, die sich schwerer das Gehör der Gruppe verschaffen. Manche unterbrechen häufiger und die Gruppe wendet sich Ihnen zu. Andere wollen etwas sagen, gehen aber im Gemenge der Gruppe mit ihrer Wortmeldung unter. Digital ist das anders: Auf den meisten Plattformen werden „Nebengeräusche“ digital heruntergeregelt, um den aktuellen Sprecher akustisch und visuell ins Zentrum zu rücken. Je nach Einstellung wird z.B. nur das Video desjenigen angezeigt, der gerade spricht. Ebenso wird die Stimme eines:r unterbrechenden Redners:in manchmal nicht oder nur zeitverzögert übertragen, wenn der/die aktuelle Sprecher:in ohne größere Pausen in seiner/ihrer Rede fortfährt. Das macht gruppendynamisch einen Unterschied in Teamsupervisionen. Gleichzeitig hängt die digitale Wirkung in einer Gruppe mit einigen banalen und z.T. individuell in der Software einstellbaren Faktoren zusammen:
- Kameraqualität und Übertragungsrate: Manche Kameras liefern dunkle oder verschwommene Bilder. Andere verzögern Ton und Bild, so dass der „Auftritt“ nicht mehr lippensynchron ist. Teilnehmer:innen, die klar, hell und scharf zu sehen sind und lippensynchron sprechen können werden nach meiner Erfahrung als wirksamer in der digitalen Gruppe erlebt und haben mehr Einfluss.
- Lautstärke des Eingangspegels des eigenen Mikrofons: Es lässt sich einstellen, wie laut meine Stimme von meinem Mikrofon an die Gruppe übertragen werden soll. Wer hier einen zu niedrigen Eingangspegel eingestellt hat (manchmal ohne es zu wissen), kann zwar real in seinem Büro laut und deutlich sprechen, fällt aber in der digitalen Sitzung hinter denen in seiner/ihrer Wirkung zurück, die ihre eigene Stimme auf „maximal laut“ eingestellt haben. Obwohl man/frau laut spricht, überträgt die Software eine eher leise, schüchtern-vorsichtig wirkende Stimme.
- Aktive Blickführung: Personen, die beim Sprechen (und gelegentlich auch beim Zuhören) IN die Kamera, statt auf den Bildschirm zu den anderen Teilnehmer:innen, schauen, werden als wirksamer, präsenter und greifbarer erlebt. Personen, die beim Sprechen „in die Runde“ bzw. „in die Gesichter der Gruppe auf dem Bildschirm gucken“ werden weniger präsent, wirksam und „in Beziehung“ erlebt. Dieser banale Zusammenhang ist ein mächtiges Tool für alle Supervisor:innen, nicht nur für die Teilnehmer:innen. Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass sich die Sitzung für den/die Supervisand:in „lauwarm“, „unecht“, „künstlich“ anfühlt, wenn der/die Supervisor:in das „in-die-Kamera-schauen“ überwiegend vermeidet. Das kann fatale Wirkungen für das Prozesserleben und die weitere Zusammenarbeit haben.
Soweit ein erneuter Diskursanstoß zum Thema digitale Supervision. Im Fazit bleibt es komplex, im Graubereich operierend und auf jeden Fall ein herausfordernder Auftrag für alle Supervisor:innen, eine eigene Haltung, eigene Standards und einen Umgang damit zu finden, wie man/frau sich im Feld der digitalen Beratung positionieren möchte.
Dr. Lutz Lyding
Wiesbaden, Ausbildung zum Hotelfachmann, Studium der Organisationspsychologie, Promotion über Komplexitätsmanagement. 2000–2013 interner Referent bei der Deutschen Lufthansa AG. Seit 2004 parallel als freiberuflicher Trainer und Berater für das Auswärtige Amt, das Deutsche Rote Kreuz, Aldi Süd u.a. tätig. Lehrtätigkeit an der Cologne Business School (CBS) im Fach Business Psychology. Seit 2015 eigene Praxis für Supervision & Coaching im Wiesbadener Westend. Leitet mit LydingTraining seit mehreren Jahren eine Trainerkooperation und ist Trainer für Gruppendynamik unter Supervision (DGGO). — lyding@lyding-supervision.de — www.lyding-supervision.de