Als „Verschickungskinder“ werden umgangssprachlich Kinder bezeichnet, die zur Erholung mehrere Wochen in Kur- und Erholungsheimen verbrachten.

Meine Leseempfehlung ist angeregt durch das Buch „Heimweh. Verschickungskinder erzählen“ von Anja Röhl, in dem die Interviews mit sogenannten „Verschickungskindern“ aufgenommen sind. In den letzten beiden Jahren wurden zahlreiche Artikel, Bücher, Filme und Untersuchungsberichte zum „Thema: Verschickungskinder“ veröffentlicht. Da ich selbst 2 × „verschickt“ wurde, war mein Interesse geweckt.

Bei meiner ersten Verschickung war ich 4 Jahre alt, Nonnen waren die Erzieherinnen und einige Erfahrungen kann ich teilen. Die zweite Verschickung war freundlicher, davon existiert ein Gruppenbild; ich erinnere mich an fröhliche Feste und Schwimmen in der Nordsee – aber sonst? Durch die Interviewsammlung von A. Röhl wurde ich wieder sehr erinnert. Eine erschütternde Sammlung von schlimmen, traumatisierenden Erlebnissen, schöne Erfahrungen sind kaum auffindbar. Sicherlich ist es an manchen Orten anders und freundlicher gewesen. Trotzdem ist allen gemeinsam, dass Millionen von kleinen Kindern zwischen 2 und 10 Jahren verschickt wurden. Eine Trennung aus den Familien, dem gewohnten Umfeld und zum Teil unzumutbaren Zuständen. Für viele bedeuteten die Erfahrungen den Verlust von Zugehörigkeits- und Schutzgefühlen. Die Eltern haben ihre Kinder oft aus Unkenntnis oder der eigenen Furcht vor Ärzten oder Behörden diesem System anvertraut. Ging es doch primär darum, erkrankten oder geschwächten Kindern Erholung anzubieten. Doch ein Großteil war vermutlich nicht krank. Vielmehr gab vermutlich für Verbände, die Kirchen, die Bahn und Betreiber*innen solcher Erholungsheime finanzielle Interessen.

Zudem weist auch dieses Kapitel wieder darauf hin, wie sehr die Erziehung durch restriktive und autoritäre Methoden geprägt war. Die Erziehungsmethoden des Nationalsozialismus wurden, wie in vielen pädagogischen Einrichtungen, einfach weitergeführt.

In der Zeit von 1950 bis 1990 wurden die Kinder in die Obhut von Kirchen und Sozialverbänden gegeben. Es gab schon früh Hinweise und Vorwürfe von Misshandlungen. Wie bei den Missbrauchsskandalen versagten auch hier wichtige Kontrollsysteme. Die Aufarbeitung ist erst am Anfang, sicherlich melden sich noch viele zu Wort.

Zur Zahl der betroffenen Kinder hält der im Auftrag des NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales fest: „Um die Gesamtzahl der verschickten Kinder in der Bundesrepublik zu ermitteln, legt Röhl die für 1963 amtlich genannte Kapazität von 56.608 Plätzen für Kurkinder zugrunde.
Ausgehend von einer Belegung von fünf bis sieben Kureinheiten pro Einrichtung im Jahr schätzt Röhl die Anzahl der verschickten Kinder auf 300.000 bis 400.000 Kinder pro Jahr, für den Zeitraum von 20 Jahren von 1960 bis 1979 damit auf sechs bis acht Millionen. Dies sei jedoch eine konservative Schätzung, während die Publikation von Folberth auf eine höhere Zahl um 12 Millionen Kinder schließen lasse“. (S. 6)

Mich beschäftigt heute, welche der gemachten Erfahrungen das Leben geprägt haben und was davon als verdeckte Themen in Supervisionen mit Teams und Gruppen und/oder gruppendynamischen Settings auftaucht. Von großen Anpassungsleistungen wird berichtet, „unterhalb des Radars zu leben“. Oder der Zwang, andere zu demütigen und das Mittun, um der eigenen Bestrafung zu entgehen oder auch im Wissen, dass man vielleicht der oder die nächste ist. Die Gefühle, nie dazuzugehören, als prägend für die weitere Entwicklung.

Sicherlich werde ich zukünftig bei manchen Supervisand*innen aufmerksam auf frühere Gruppenerfahrungen achten und auch konkret nachfragen. Es könnte ein Schlüssel für manche Themen in Gruppen und Teams sein und dem Erleben, nicht dazuzugehören.

  • Anja Röhl, Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Gießen 2021
  • Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach 1945 – Organisation, quantitative Befunde und Forschungsfragen
    Auftraggeber: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Autor: Prof. Dr. Marc von Miquel, sv:dok, Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger, 11. Januar 2022; Abrufbar unter: https://www.sv-dok.de/downloads/Studie_Verschickungskinder_NRW_2022.pdf

Monika Maaßen

Anja Röhl: Heimweh. Verschickungskinder erzählen, Gießen 2021