Das Buch von Günter de Bruyn las ich 1996 direkt nach seinem Erscheinen mit großem Interesse und Spannung. Bücher von de Bruyn lese ich tatsächlich immer gern. Mich spricht seine Sprache, seine Ausdrucksweise an, die ich als uneitel, bisweilen lakonisch empfinde, das schätze ich. Damals in den ersten Jahren nach der Wende hatte ich Beratungsaufträge in den „neuen“ Bundesländern. Da kam dieses Buch wie gerufen und hat mir andere Perspektiven eröffnet, wie in und mit dem DDR-System gelebt worden war.

Auf der Suche nach altem, neuem Lesestoff, fiel vor einigen Wochen mein Blick auf „vierzig Jahre“, ich habe es wieder mit Gewinn gelesen.

„Vierzig Jahre“ schildert den autobiografisch geprägten Rückblick auf das Leben eines Mannes, der 1926 in Berlin geboren und in der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen war. De Bruyn nahm als siebzehnjähriger junger Mann als Soldat am zweiten Weltkrieg teil. Er wurde schwer verwundet, konnte auf abenteuerliche Weise nach Berlin zurückkehren und wurde als Lehrer ausgebildet. Er arbeitete drei Jahre in diesem Beruf. An diesem Zeitpunkt setzt der Lebensbericht an. Er wechselt den Beruf und wird von 1949 bis 1953 zum Bibliothekar ausgebildet, angetrieben von seiner Leidenschaft zur Literatur. Bis 1961 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Bibliothekswesen in Ost-Berlin. Seitdem arbeitete er als freier Schriftsteller, gehörte zum Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR, und er war Mitglied im Präsidium des PEN Zentrums der DDR. Gleichzeitig gerät de Bruyn auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Staatsapparat in Konflikt. De Bruyn wurde von der Staatssicherheit als IM angeworben. Ein erfolgloses Unterfangen, das dann eingestellt wurde. Anfang der 1980iger Jahre stand er selbst als Systemkritiker im Fokus des Ministeriums für Staatssicherheit.

Einige seiner Bücher wurden erst nach Korrekturen, die die Parteilinie vorgegeben hatte, gedruckt. Dennoch kann er als freier Schriftsteller leben, er erhält viele Auszeichnungen, einerseits um den Preis vieler Kompromisse. Andererseits versucht de Bruyn öffentlich Position zu beziehen, dazu zwei Beispiele: So äußerte sich de Bruyn bei einem Schriftstellerkongress 1981: „(Man) hat aber, wenn man die Zeitungen aufschlägt, ein ungutes Gefühl, wenn die DDR staatlicherseits den Antikriegskampf der Christen, Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer jenseits der Grenzen begrüßt, der Antikriegskampf der Christen, Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer innerhalb der eigenen Grenzen aber behindert wird.“ (Mitschnitt der Kongressreden, Deutsches Rundfunkarchiv. Und: Bericht von Henry Bernhard 1981 im Deutschlandfunk, Wikipedia) Im Oktober 1989 lehnte de Bruyn die Annahme des Nationalpreises der DDR ab. Als Begründung nannte er die „Starre, Intoleranz und Dialogunfähigkeit“ der Regierung. (Tilman Spreckelsen: Seid ihr nur laut, er ist gründlich. Redlich, sinnlich: Dieser Erzähler hat einen verblüffenden Altersstil entwickelt – zum neunzigsten Geburtstag des Schriftstellers Günter de Bruyn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. November 2016, S. 11.)

Das Buch endet mit dem Fall der Mauer 1989. Nach der Wende war de Bruyn Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und des Kuratoriums der Akademie für gesprochenes Wort in Stuttgart.

De Bruyn lebte in Berlin und ab 1967 die meiste Zeit bei Beeskow auf dem Lande. Günter de Bruyn starb im Oktober 2020 im Alter von 93 Jahren.

Der Erzähler schildert sich als reflektierenden, bisweilen grüblerischen Einzelgänger, der sich zwar immer wieder an Menschen freundschaftlich bindet, dennoch ein eher eremitisches Leben als freier Schriftsteller führt. Er erlebt den 17. Juni 1953 und den Mauerbau im August 1961, darf berufliche Reisen in die damalige Bundesrepublik unternehmen. Er lebt dennoch weiterhin in der DDR. Verhält sich so weit angepasst, versucht unter Radar zu fliegen und gibt trotzdem seine eigene, politische Position nicht auf. So versucht er als Gutachter und ganz junger Bibliothekar bei der politischen Einordnung von Literatur, nicht gegen die Parteilinie zu argumentieren, sondern über die Anpassung der Sprache eigene Ziele zu verfolgen. Er nutzt die Sprache als Tarnung, um möglichst viele Bücher im Kanon der sozialistischen Literatur zu erhalten. (Vierzig Jahre, S. 36, 2011)

Er setzt sich mit der Frage auseinander, ob ihn die Verhältnisse korrumpieren, ob er nicht deutlicher öffentlich Stellung beziehen müsse. In diesem Kontext entwickelt er großes Verständnis für die Menschen, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit dem System arrangieren, so wie er auch. Er beschreibt als Erzähler die Konflikte mit dem Staatsapparat und Kollegen, die innere Konflikte nach sich ziehen und nachdenklich werden lassen. „Gefängnis, Heimatverlust und Selbstaufgabe (sind) erspart geblieben, … Harmoniebedürfnis führte zu einer ausgedehnten Kompromissbereitschaft, bis an die Grenze des Erlaubten“. (ebenda S. 7, 2011)

Die Spannungen der Ambivalenzkonflikte, werden in ihrer oft großen Unerträglichkeit dargestellt und lassen sich nachempfinden. Manches kommt anekdotisch, leise selbstironisch daher, zeigt viel von der Fähigkeit, mit den Verhältnissen irgendwie fertig zu werden.

Der Schlussakkord, das Erleben des Falls der Berliner Mauer, bzw. der Grenzöffnungen wird von ihm auf sehr individuelle Weise mit einem freiheitlichen Spaziergang gefeiert. Der Erzähler besucht zu Fuß in Berlin Orte, die ihm vierzig Jahre verschlossen waren. Es war für ihn ein „Eindruck von Unwirklichem, der den ganzen Tag nicht wich. Es war als ob dem verstandesmäßigen Begreifen der neuen Lage das Gefühl und die Sinne noch nicht nachkommen wollten.“ (ebenda S. 260) Die Grenzöffnung beschreibt er als privaten Festtag: „ein Gefängnis, in dem Tore und Türe geöffnet werden, hört auf eines zu sein.“ Er sieht sich als Gewinner der Niederlage des Systems DDR. (ebenda S. 261)

Verhältnisse prägen, fordern Anpassung. Wieweit Anpassung passend ist, welche inneren und äußeren Konflikte entstehen, welche Lösungsstrategien entwickelt werden, sind zentrale Fragen des Buches. Ebenso wird anschaulich, wo Widerstand schwerfällt, wo Gewohnheiten klare Entscheidungen verhindern und wo Angst Lebensentscheidungen prägt.

Ich lebte und lebe, Gott sei Dank, nicht in diktatorischen Verhältnissen, sondern in einer funktionierenden, lebendigen Demokratie, deren Fragilität, Verletzlichkeit und Stärke gerade jetzt so sichtbar werden, sei es im Umgang mit der Pandemie oder mit dem Krieg in der Ukraine.

Diese kleinen und großen Fragen der Jetztzeit lassen sich sehr gut aus der Perspektive dieser Lektüre betrachten. Auch für meine Arbeit als Supervisorin werden Fragestellungen aufgeworfen, die es sich immer wieder lohnt mit kleinteiliger Genauigkeit zu betrachten: Wo passen sich Menschen betrieblichen und beruflichen Forderungen gegen ihre innere Überzeugung an? Welche Folgen zeigt dies? Wie zeigen sich innere und äußere Kompromisse? Wirkt diese Anpassung als Ich-Stärkung oder als schädlicher Ich-einschränkender Abwehrmechanismus? Hierbei sollen nun auf keinen Fall die Verhältnisse einer Diktatur mit Verhältnissen in Organisationen gleichgestellt werden, das wäre absolut unangemessen. Es geht vielmehr um die inneren Prozesse der Konfliktlösungen zwischen Anpassung und Aufbegehren.

Sabine Wengelski-Strock

Günter de Bruyn: Vierzig Jahre – Ein Lebensbericht, Frankfurt a. M. 1996