Eine Reflexion
Definition des Begriffs „Habitus“: Aus dem Lateinischen: Äußere Erscheinung, Gehaben, Auftreten oder Umgangsformen; die Gesamtheit ihrer Vorlieben und Gewohnheiten/Art des Sozialverhaltens
Elias und Bourdieu: Rang/Status einer Person in der Gesellschaft
Beim Lesen dieser Definitionen stellt sich mir die Frage, was sich durch die Weiterbildung zur Supervisorin verändert hat. Mein Musikgeschmack ist immer noch derselbe, das trifft auch auf Essgewohnheiten zu. Selbst das soziale Umfeld hat sich nicht signifikant verändert.
… und doch fühlt sich nach der Supervisions-Ausbildung einiges anders an. Teilweise schleichend, teilweise schmerzhaft konfrontierend wurden Denk- und Wahrnehmungsmuster, die zu Beginn im Kontext einer supervisorischen Haltung nicht passend waren, durch reflexive Auseinandersetzung verändert oder gar ersetzt. Neue Schemata haben sich entwickelt und in großen Teilen etabliert. An manchen Stellen ist es notwendig, weiterhin durch Kontrollinstanzen von außen draufschauen zu lassen und zu reflektieren, um den professionellen Habitus zu festigen und weiterzuentwickeln.
Zu Beginn der SV-Ausbildung konnte ich mir nicht vorstellen, welche zum Teil tiefgreifenden Veränderungen sich in Bezug auf Ansichten und Haltung entwickeln würden. So stieg ich nahezu blauäugig in die Ausbildung ein, in der Vorstellung, dass ich „nur eine weitere Beratungsmethode“ erlernen würde. Die reflexiven Fragen aus dem Vorgespräch stufte ich als Skepsis gegenüber meiner Vorgeschichte ein, doch schon im ersten Ausbildungsjahr bemerkte ich recht bald, dass meine Sicht darauf sehr reduziert war.
Schaut man auf die Zulassungsbedingungen, wird deutlich, dass kein/e Teilnehmer:in als „unbeschriebenes Blatt“ die SV-Ausbildung beginnt. Im Normalfall haben alle ein Studium erfolgreich abgeschlossen und ein Teil konnte schon in anderen Beratungsbereichen Erfahrungen sammeln. Ganz unterschiedliche Habitus (Pl.) haben sich herausgebildet und treffen in einer größeren Ausbildungs-Gruppe aufeinander. Eine Dynamik entsteht, die ich mitunter verwirrend oder verstörend erlebt habe, scheinbar unüberwindbare Differenzen zeigen sich und werden gruppendynamisch erlebt und bearbeitet. Der eigene Standpunkt wird durchaus grundlegend infrage gestellt und es kommt zu Verunsicherungen.
Fremdheits- oder Unsicherheitsgefühle entstehen gerade dort, wo der eigene Habitus nicht passend scheint. Die Auseinandersetzung mit eigenem und fremdem Widerstand ist teilweise schmerzhaft.
Schon hier wird deutlich, dass sich die Supervisions-Ausbildung nur schwer mit gängigen Weiterbildungen im Beratungsgenre vergleichen lässt.
Große Selbstzweifel, die entstanden sind, verhindern auf meinem Weg zunächst eine förderliche Lernumgebung und ich habe die Lehrsupervision im Vorfeld als zusätzliche Belastung empfunden. Meine Fantasie war, dort ausschließlich auf Fehler hingewiesen zu werden und mein „Nicht-Passen“ zu reflektieren.
Wie entlastend war daher die erste Sitzung, als mir die Lehrsupervisorin freundlich und zugewandt begegnete. Schon bald konnte ich ein neues Bild von der Lehrsupervision entwickeln: Hier ging der Blick auf mich als Lehrsupervisandin, meine Disposition/Habitus und das daraus resultierende Handeln. Das konkurrenzfreie Betrachten der eigenen Motivationen, Dispositionen und Entwicklungsmöglichkeiten ohne Bewertung machten das Setting der Lehrsupervision zu einem sehr stabilen Ort für die Entwicklung eines professionellen Habitus.
In vielen Ausbildungen werden Praktikumsphasen durch Mentoren begleitet, die Situationen und erlebte Handlungsschemata der Mentees reflektieren. Dies findet in der Supervisionsausbildung in der Art nicht statt. Die Lernsupervisionen/Prozesse werden von Anfang an selbständig akquiriert, kontraktiert und durchgeführt. Es ist daher unabdingbar, in den Lehrsupervisionen einen Raum zu finden, der das Erlebte/Nichterlebte begleitet und eine Offenheit zulässt, in der auch der Aspekt des Scheiterns eingebracht und für die eigene Weiterentwicklung genutzt werden kann. Wahrnehmungen, Denk- und Handlungsmuster der/des Lehrsupervisanden:in gilt es zu betrachten und zu reflektieren.
Die Lehrsupervision bietet dafür einen verlässlichen und geschützten Rahmen.
Im Rückblick war das Schaffen einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung durch die Lehrsupervisorin beispielhaft für meine eigenen späteren Supervisionsprozesse. Schon nach wenigen Sitzungen wurde mir deutlich, dass die Lehrsupervision einen Schutzraum für ganz unterschiedliche Belange darstellte.
Dieser von Vertrauen geprägte Raum ermöglichte es mir, Konflikthaftes ohne größere Bedenken anzusprechen. Denk- und Handlungsmuster, die durch Sozialisation und Lernen entstanden waren, einen Habitus kreiert hatten, erzeugten mitunter Konflikte, deren Ursprung mir zunächst nicht bewusst war. In verschiedenen Situationen wurde ich immer wieder mit diesen Konflikten konfrontiert, doch in der Lehrsupervision konnte ich erleben, dass meine Schemata nicht rundweg abgelehnt, sondern betrachtet wurden, wie ich es bislang noch nicht kannte. Ich war beispielsweise gewohnt, Recht und Unrecht zu unterscheiden und dementsprechend zu agieren. Auch nahm ich von anderen Menschen an, dass sie ebenso verfuhren. Im Rahmen der Lehrsupervision konnte dieses Verhalten aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und alternative Handlungsmöglichkeiten erarbeitet werden. Das Bemerkenswerte war, dass meine Lehrsupervisorin gleichermaßen mit Abstand und Zugewandtheit auf konflikthaftes Verhalten und Situationen blickte. Im (vor-)urteilsfreien Raum der Lehrsupervision konnte ich ihre Äußerungen immer mehr annehmen. Es ging dabei nicht um Ansagen, wie „so wird es gemacht“, sondern um das Vorleben einer supervisorischen Haltung im Sinne von: „Wie schaue ich auf die Szene?“ oder „Was ist mir jetzt möglich und welche Möglichkeiten gibt es noch?“ Die immerwährende Wertfreiheit machte es mir möglich, selbst in mir unangenehmen Phasen präsent und dabei zu bleiben, auch wenn es große Anstrengung und viel Zeit kostete.
Die Verlässlichkeit dieser Haltung bewirkte bei mir tatsächlich ein tieferes Verstehen einhergehend mit einer schleichenden Veränderung im Denken, Fühlen und Handeln. Erst nach und nach stellte ich dies selbst fest, wenn bspw. harte Urteile ausblieben oder ich sie hinterfragte; wenn es mir gelang, Möglichkeiten zu finden und Räume zu öffnen, um mit meinen Gegenübern im Gespräch und somit in Verbindung zu bleiben.
Widerstände, die sich in mir breit machten, wurden von der Lehrsupervisorin wahrgenommen und thematisiert, sodass ganz individuell an meinen hinderlichen Mustern gearbeitet werden und langsam ein professioneller Habitus entstehen konnte. Teilweise war es ein Ringen um Veränderung, wenn alte Muster oder Glaubenssätze nicht veränderbar, nahezu unantastbar schienen. Wie oft habe ich meine Lehrsupervisorin mit Geduld und Gleichmut erlebt, wenn Sie mein Denken und Handeln gespiegelt hat. Wie oft habe ich zunächst nicht verstanden, was sie mir mitteilen wollte, wenn habitualisierte Schemata Konflikte erzeugt hatten und ich mir dessen nicht bewusst gewesen war. Hatte ich doch so gehandelt, wie ich es kannte. Immer wieder war es wichtig, dass ich verstand, genau betrachtete, wie ich gedacht oder gehandelt hatte und darauf schaute, wo diese Muster ursprünglich beheimatet waren. In dem Moment, in dem ich verstand, gelang es mir, innerlich Abstand zu nehmen. Schritt für Schritt konnte ich damit dysfunktionale Schemata identifizieren und Stück für Stück verstehen und verändern, aus meiner Sicht ein wesentlicher Punkt in der Bildung meines professionellen Habitus. Der Aspekt des Verstehens zog sich durch die gesamte Zeit der Lehrsupervision und wird weiterhin in meiner Arbeit als Supervisorin bleiben.
Oftmals konnte ich wahrnehmen, dass ich emotional in meinen SV-Prozessen verstrickt war. Hier verhalf mir die unaufgeregte Gelassenheit, mit der meine Lehrsupervisorin selbst emotional aufgeladene Szenen von der Metaebene aus betrachtete, zum Durchatmen. Diese Vorgehensweise nahm viel von der erlebten Dramatik, löste empfundenen Druck. Indem ich mich immer wieder zu Gelassenheit und Abstand anhielt, gelang es mir nach und nach, eine distanziertere Haltung zu entwickeln, und in den Lehrsupervisions-Sitzungen konnte ich lernen, dass Distanziertheit nicht mit Empathielosigkeit gleichzusetzen ist. Mir wurde bewusst, wie wichtig eine adäquate Abstinenz für die supervisorische Arbeit ist, gerade wenn Emotionen Parteilichkeit und/oder Verwicklungen produzieren würden.
Sehr hilfreich für die Entwicklung des professionellen Habitus habe ich die Transparenz in den Deutungen der Lehrsupervisorin erlebt. Sie ermöglichte mir einerseits ein Verstehen auf kognitiver Ebene und andererseits eine Einfühlung in unterschiedliche Wahrnehmungs-, Denk- oder Handlungsmuster. Selbst große Differenzen und Unverständnis wurden durch Transparenz und Zugewandtheit zugänglich und verstehbar. Dadurch war mit der Zeit viel mehr vorstellbar. Der Blick ging vom „Entweder – Oder“ hin zum „Sowohl als auch“. In dem Zusammenhang erinnere ich mich gerne an das Bild der Supervisorin als „Brückenbauerin“.
Aus meiner Sicht bekommt der Habitus, den die Lehrsupervisorin in der gemeinsamen Arbeit vermittelt, eine Art Vorbildfunktion. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass es nicht das Ziel sein kann, dies komplett zu verwirklichen. In der Lehrsupervision begegnen sich zwei unterschiedliche Habitus (Pl.), die sich durch ihre jeweiligen Sozialisationen und Lebenserfahrungen herausgebildet haben. Es kann eine Annäherung geben in der Entwicklung eines vorbildhaften professionellen Habitus, doch geht es meines Erachtens in der Profession als Supervisorin auch darum, mit dem entsprechenden professionellen Habitus authentisch zu sein. Als Lehrsupervisandin kann ich daher das, was sich durch die Lehrsupervision hilfreich erweist, annehmen und habitualisieren.
Aus heutiger Sicht ist mir die Bildung eines professionellen Habitus gelungen und doch ist es im Rahmen der Qualitätssicherung für mich selbstverständlich, auch nach der SV-Ausbildung durch Kontrollinstanzen (Balintgruppe, Kontrollsupervision, Intervision etc.) weiterhin zu reflektieren, um die Aufrechterhaltung bzw. Weiterentwicklung des professionellen Habitus zu gewährleisten. Die Bildung bzw. Weiterentwicklung eines professionellen Habitus ist somit als eine langfristige Angelegenheit zu betrachten.
Beate Pihale
Pädagogin, Erwachsenenbildnerin, Supervisorin