Habitusentwicklung in der Lehrsupervision

1. Ausgangslagen

„In der Supervisionsausbildung werden alle Teppiche gegen den Strich gebürstet und die jeweiligen Webfehler sichtbar!“.

Die Ausgangslagen, die biographischen Prägungen, die bisher bereits entwickelten für die supervisorische Praxis relevanten Schlüssel- und anderen Kompetenzen sind bei den Lehrsupervisand*innen individuell sehr unterschiedlich. Auch die jeweiligen Grenzen, Defizite, blinde Flecken und Kompetenzlücken – also das, was während der Ausbildung in den Blick genommen und bearbeitet werden will, unterscheidet sich bei den einzelnen Ausbildungskandidat*innen. Dementsprechend sind die jeweiligen Entwicklungs- und Professionalisierungsprozesse, die dazu führen, dass eine Ausbildungskandidat*in Supervisor*in wird, verschieden.

Die Lehrsupervision ist der Ort, an dem dieser individuelle Entwicklungsprozess kontinuierlich reflektiert wird. Die Lehrsupervisand*in setzt sich mit ihren Ausbildungserfahrungen in den unterschiedlichen Settings der Ausbildung auseinander und wird dadurch und dabei zur Supervisor*in mit einem unverwechselbaren eigenen Profil.

An einigen Ausbildungsthemen und -phasen wollen wie exemplarisch aufzeigen, wie sich Habitusbildung gestalten und zeigen kann.

2. Erfahrungen mit und in der Akquisition

„Ich bin noch nicht, ich werde erst Supervisor*in!“

Bevor sich die Ausbildungskandidat*innen das „Handwerk der Supervision“ aneignen konnten, sind sie bereits darin gefordert, Supervisionsprozesse zu akquirieren. In Akquisitionsgesprächen und Kontraktverhandlungen müssen sie die Supervision und sich als Supervisor*in anbieten und für sich werben. In den Lehrsupervisionen sind die Reflektionen dieser ersten Hürde intensiv und bisweilen lange das Thema, das – gefühlt – scheinbar alle mitgebrachten Selbstzweifel der Lehrsupervisand*innen nach oben spült. Wie kann ich das „i. A.“ angemessen kommunizieren? Was bringe ich bereits mit für die neue Rolle? Worauf kann ich „zur Not“ zurückgreifen? Wie – z. B. durch die Lehrsupervision oder ein geringeres Honorar – werden meine mangelnden Erfahrungen kompensiert? Wie kann ich die Kommunikation und Begegnungen so gestalten, dass ich weder „blendend“ meine Unsicherheiten überspiele, noch „zu Kreuze krieche“ und mich klein mache?

In dem Maße, in dem es gelingt, mit dieser Anforderung angemessen, aufrichtig und authentisch umzugehen, wächst supervisorischer Habitus.

3. „Rollensuche beim Trockenschwimmen“

In Ausbildungskontexten erfolgreich zu akquirieren, wird zunehmend mühsam und schwierig. Dies hat zur Folge, dass Lehrsupervisand*innen bisweilen viel Mühe und Anstrengung aufwenden müssen, bis es zu Kontraktgesprächen kommt. Nicht selten führen die ersten Kontraktgespräche dann noch nicht zum Erfolg. Hier reift die „Supervisor*innenpersönlichkeit“ dadurch heran, dass der fehlende Erfolg, das Scheitern, das Abgelehntwerden in der Lehrsupervision reflektiert und „verdaut“ werden kann. Wesentlich dabei ist es, zu lernen, die eigenen und fremden Anteile an dem Akquisitionsprozess differenziert zu betrachten und dabei die Perspektiven der an dieser Szene Beteiligten einzunehmen, um das Selbst- und Fremdverstehen weiterzuentwickeln. Die verständlicherweise zu diesem Zeitpunkt bisweilen großen Selbstzweifel wollen verstanden und gebändigt werden.

4. Sich professionell bewegen im Dreieckskontrakt

Der Abschluss eines Dreieckskontraktes zu Beginn eines Supervisionsprozesses ist mittlerweile klar formalisiert: entweder formuliert die Supervisor*in einen Vertrag mit den üblichen Bedingungen oder die auftraggebende Institution. Dies ist meistens die einfachste Übung. Viel schwieriger werden für die Lehrsupervisand*in die informellen Begegnungen und Kontakte – insbesondere mit dem Auftraggeber. Szenen, in denen man auf dem Flur angesprochen wird, wie es denn in der Supervision so geht, wie sich der Supervisand macht, dass er doch diese oder jene Schwierigkeiten hat etc. stellen die Lehrsupervisand*in vor ein komplexes Problem:

Sie muss die Schweigepflicht wahren und dabei den Auftraggeber nicht brüskieren. Sie sollte einen guten Kontakt/Beziehung aufrechterhalten, damit ein Auswertungsgespräch und evtl. Impulse für den Auftraggeber annehmbar sind. Bei einer konflikthaften Beziehung zum Auftraggeber ist dies kaum wahrscheinlich. Und sie muss entscheiden, ob und wie die Begegnung und die latenten Informationen in den Supervisionsprozess einfließen müssen.

Wir verstehen dies als eine Triangulierung und als eine zentrale supervisorische Kompetenz. In den beschriebenen oder ähnlichen Situationen kann man nicht lange nachdenken, sondern man reagiert spontan, eigentlich vorbewusst. Wenn man also die supervisorischen Standards des Dreieckskontrakt und der Schweigepflicht spontan in ein gelingendes persönliches Verhalten integrieren kann, wäre das als supervisorischer Habitus zu werten.

5. „Die ersten Gehversuche als Supervisor*in“ – Eigene Affekte als Verstehenszugang zum supervisorischen Geschehen nutzen lernen.

Zu Beginn der ersten Supervisionsprozesse hat die Lehrsupervisand*in häufig die Neigung, das Geschehen in der Supervision primär auf sich zu beziehen und entsprechend emotional darauf zu reagieren.

Häufige Affekte sind Unsicherheit und Angst davor, etwa nicht gemocht zu werden oder zu versagen. Aber auch Empörung, Wut und Ärger können sich einstellen. Diese Ich-zentrierte Wahrnehmung des supervisorischen Geschehens hat mit der anfänglichen Berufsrollenunsicherheit zu tun.

Eine größere Rollensicherheit kann die Lehrsupervisor*in sehen, wenn die Lehrsupervisand*in

  1. sich von ihren/seinen Affekten nicht überschwemmen lässt und sie als Verstehenszugang nutzen lernt,
  2. ihre/seine Wahrnehmung auf die Klienten ausrichten und auf die weiteren situativen und institutionellen Bedingungen erweitern kann und
  3. in eine Diagnose der Supervisionssituation münden lässt.

Unerheblich ist dabei, ob die Diagnose von der Lehrsupervisor*in geteilt wird, wichtig ist der beschriebene Reflexionsprozess.

Löst die Supervisionsausbildung bei der Supervisand*in eine persönliche Wachstumskrise aus, geht mit deren Reflektion und Bearbeitung die Professionalisierung und Entwicklung einer neuen Rolle einher. Bisweilen nutzen Supervisand*innen begleitend zur Ausbildung auch therapeutische Unterstützung bei der Nachreifung und Heilung behindernder Persönlichkeitsaspekte. Dies kann dabei hilfreich sein, dass das lehrsupervisorische Setting seinen Fokus einhalten kann und nicht „zu“ therapeutisch wird.

6. Auftragsorientierung halten

In der Regel ist der Auftrag an die Supervision, rollen- und aufgabenbezogene Beratung zur Verbesserung der Arbeit zu machen. Es ist das Wesen aller Supervisionsprozesse, dass in ihnen eine Vielzahl von Themen „stecken“ in denen man sich „verlaufen“ kann. Insbesondere Einzelsupervisionen bewegen sich thematisch recht häufig zwischen beruflichen Anforderungen und privaten Lebensumständen und anfänglich besteht immer mal wieder die „Gefahr“, in eine Lebensberatung zu wechseln. Das Angebot des Klienten an Intimität und Nähe kann den Blick auf die rollen- und aufgabenbezogenen Konflikte in der Arbeit verstellen.

Insbesondere, wenn die Supervisand*innen als Grundberuf therapeutisch oder anders beraterisch arbeiten, besteht eine Verführung darin, sich vor der neuen, noch unvertrauten potentiell überfordernden Rolle dadurch zu schützen, dass man auf mitgebrachte Rollenanteile und Kompetenzen zurückgreift.

Gelingt es der Lehrsupervisand*in hier ihren eigentlichen Beratungsfokus nicht zu verlassen bzw. immer wieder auf diesen zurückzuführen, hat sie einen wesentlichen Teilhabitus erlangt. Die Lehrsupervisor*in ist hier bestenfalls Modell und Vorbild; indem sie den Fokus auf das Setting der Lehrsupervision richtet und Abweichungen gemeinsam mit der Lehrsupervisand*in kritisch reflektiert. Dies stellt auch für die Lehrsupervisor*in immer dann eine Herausforderung dar, wenn die Lehrsupervisand*in z. B. aufgrund von Lebenskrisen nicht dazu kommt zu akquirieren, wenn ihr die Akquisition aufgrund von eigenen Blockierungen dauerhaft nicht gelingt und sie somit keine oder nur wenige Erfahrungen als Supervisorin sammelt, die in der Lehrsupervision reflektiert werden könnten und müssten.

7. Abschließendes

Auch wenn wir von sehr individuellen unterschiedlichen Ausgangspositionen in der Ausbildung supervisorischer Kompetenzen ausgehen, sind wir der Meinung, dass es Kernbereiche der Habitusbildung gibt (z. B. Fähigkeit zur Triangulierung), an denen sich die Lehrsupervisor*innen orientieren müssen. Wir haben hier exemplarisch einige Bereiche aufgezeigt, die uns wichtig sind, erheben aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Insgesamt halten wir aber die Diskussion für sehr notwendig, nicht nur für die Habitusbildung, sondern auch für die Lehrsupervision. Wir können uns vorstellen, dass es auch für die Lehrsupervisor*innen ein Gewinn ist, wenn sich ihre Arbeit in einem durch einen kollegialen Diskurs entwickeltem Konzept wiederfindet.

Und für neue Lehrsupervisor*innen wäre es eine gute Orientierung!

„Ich bin noch nicht, ich werde erst Supervisor*in!“

Gabriele Streitbürger

Dipl. Päd., Trainerin für Gruppendynamik (DGGO), Supervisorin DGSv, Balintgruppenleiterin i.A. — Berufliche Tätigkeit in der Jugend- und Erwachsenenbildung, Suchttherapie und Psychiatrie, seit 1991 freiberuflich tätig als Supervisorin und Trainerin in den Bereichen Soziales und Wirtschaft. — Langjährige Erfahrungen in der Leitung gruppendynamisch orientierter Fortbildungen, aktuell Co-Leitung in der Supervisionsausbildung beim FiS. — Vielfaches ehrenamtliches Engagement in der DGSv in unterschiedlichen Funktionen und Gremien. Kontakt: gabriele-streitbuerger@t-online.de

„Ich bin noch nicht, ich werde erst Supervisor*in!“

Hildegard Weigand

Diplom Pädagogin, Supervisorin (DGSV), Lehrsupervisorin, Fortbildnerin — Langjährige Berufserfahrung in psychiatrischen Hilfesystemen, u. a. als Organisationsberaterin und Qualitätsentwicklerin — Kontakt: h.weigand@outlook.de

„Ich bin noch nicht, ich werde erst Supervisor*in!“