Wittenberger, Gerhard: Aufstieg und Scheitern des Militärpsychologen Max Simoneit im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland – Psychodynamisch-biografische Studie, Frankfurt a.M. (Brandes & Apsel Verlag) 2022

Ein „Nebenaspekt“, eine Randerscheinung tauchte im Blickfeld des Autors auf und verführt ihn zu näherem Hinschauen. Dass „die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus“ (so der Buchtitel von Ulfried Geuter, 1984) enormen Auftrieb erhalten hatte, ist zumindest der interessierten Öffentlichkeit bereits länger bekannt. Dass britische und amerikanische Psychoanalytiker, die mit militärischer Personalauslese in ihren Ländern zeitweise beschäftigt waren, sich für die Veröffentlichungen des Chef-Psychologen der Wehrmacht Dr. Max Simoneit interessierten, hatte Überraschung ausgelöst. Simoneit empfahl einen eigenwilligen, intuitiven und kreativen Umgang mit Testmaterialien, die am individuellen Einzelfall variiert eingesetzt werden und zur Eignungsdiagnostik von Offiziersanwärtern herangezogen werden. Er spielt auch „im Rahmen der modernen Betriebspsychologie noch heute eine gewisse Rolle“ (S. 8). Simoneit, „einer von jenen Mitläufern, die in der Nachkriegszeit dem Vergessen anheimgefallen sind“ (S. 8) hat Wittenberger zu einem umfangreichen und aufwändigen Rechercheabenteuer verführt, das nun abgeschlossen vorliegt. Eigene noch „bestehende Zweifel“ äußert Wittenberger im Vorwort, wohl auch, weil das Quellenmaterial zu dünn, für eine „Biografie“ nicht ausreichend ist und nur für „eine Studie“ reicht. Aber er hält die Zweifel für nicht „so groß, dass ich auf den Aufklärungsgewinn – nach mehr als drei Jahrzehnten – verzichten wollte, auch wenn er nicht sehr viel höher einzuschätzen ist als vor 30 Jahren“ (ebd). Der Aufklärungsbedarf besteht, weil auch heute noch „im modrigen Untergrund der deutschen Geschichte eine Art Büchse der Pandora wabert“, die zwar „eingeschlossen“ aber immer noch vorhanden ist“ (S. 9). Die „Verstrickung“ oder „Verwicklung“ eines einzelnen Individuums in die Gesellschaftsgeschichte lässt sich nur mit Aufklärungsgewinn rekonstruieren, wenn beiläufig Mitgeteiltes minutiös, wie unter dem Mikroskop, möglichst konkret auf der Folie historischer Ereignisse und gesellschaftlicher Gegebenheiten betrachtet wird.

Wer ist Dr. Max Simoneit?

Geboren am 17.10.1896 und aufgewachsen in Ostpreußen als ältester Sohn von 8 Kindern in einer Postbeamten-Familie, beginnt der begabte Max eine Volksschullehrerausbildung, die er unterbricht, weil er freiwillig als Soldat „zur Verteidigung der Heimat“ in den 1. Weltkrieg ziehen will. Er wird verwundet und erhält Tapferkeitsmedaillen. Anschließend wird er Lehrer und studiert gleichzeitig weiter Geisteswissenschaften und besonders Psychologie, in der er auch promoviert. Seit 1927 tätig in einer Abteilung der deutschen Wehrmacht als „Heerespsychologe“ und mit der Einstellung und Laufbahn von Offiziersanwärtern eignungsdiagnostisch beschäftigt, übernimmt er 1930 den Chefposten dieser stetig wachsenden Abteilung. 1937 wird sie umbenannt in „Hauptstelle der Wehrmacht für Psychologie und Rassenkunde“ mit mehreren Hundert beamteten Psychologen und im Laufe des Jahres 1942 aufgelöst. Die Entlassung aller ist auch ein persönlicher Niederschlag in der Karriere von Simoneit. Er meldet sich unverzüglich erneut freiwillig „ins Feld“ und kehrt mit einer schweren Beinverletzung und mit Ritterkreuz-Orden ausgezeichnet zurück. Im November 1945 bis Frühjahr 1946 wird Simoneit verhaftet und im einstigen KZ Neuengamme interniert. In „seinem“ laufenden Entnazifizierungsverfahren kann er auf eine große Anzahl mehr oder weniger prominenter Personen zurückgreifen, welche ihm entlastende „Persilscheine“ auszustellen bereit sind. Er gilt als nicht belastet und kann mit Vorbehalt zunächst zurück in den Schuldienst. Im Neuaufbau der Bundeswehr, wofür er sich gerne verwendet sähe, findet Simoneit allerdings keine Berücksichtigung mehr. Trotz eigener Bemühungen, Publikationen und Rundfunkvorträgen findet er auch keinen Platz in der Universitätslandschaft, – in der etliche seiner einstigen Mitarbeiter aus der „Hauptstelle“ inzwischen als Hochschullehrer für Psychologie reüssieren. Er tritt der SPD bei, – es gibt zunächst auch Widerstände gegen die Aufnahme. Während er 1954 pensioniert wird, betreibt er längst ein „psychologisches Institut“, in dem er als selbständiger Gutachter arbeitet und sich im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) beteiligt. Simoneit engagiert sich auch ehrenamtlich etwa beim Kinderschutzbund und ackert sozusagen auch in den Untiefen der entstehenden bundesdeutschen Zivilgesellschaft. Ungewöhnlich ist sein privates Arrangement mit Ehefrau und zwei Töchtern, beide Mitte der 20er Jahre geboren. Nach aktivem Kriegsdienst und Internierungsentlassung kehrt der Vater Simoneit niemals mehr zu ihnen nach Berlin zurück, hält nur Kontakt aus der Ferne von Hamburg und Köln aus. „Wenn das, was Du an uns praktiziert hast, Psychologie ist, dann will ich davon nichts wissen“, teilt Simoneit in einem persönlichem Gespräch Bönner einmal mit (zitiert S. 73). Simoneit vereinsamt zunehmend in den letzten Jahren, so ebenfalls Bönner, und stirbt am 2.2.1962 im Alkoholdelir in der Wachstation der Kölner Psychiatrischen Universitätsklinik.

Was konstituiert den exemplarischen „Fall“ Siemoneit?

„Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“, Wittenberger zitiert Max Frischs Romanfigur „Gantenbein“ und erörtert in einleitenden Kapiteln seine methodischen und theoretischen Grundüberlegungen, wie sich die Puzzleteile in einen Rahmen fügen und wie sich der gesellschaftliche Ereignis-Kontext zu biografischen Stationen und Mitteilungen verhält. Zu den oben gerafften „Eckdaten“ geben erst viele und intensive Archivrecherchen „Butter bei die Fische“: Dokumente, Briefe, Aufzeichnungen und Zeugnisse vieler Beteiligter, Befragungen (soweit noch möglich) von Zeitzeugen und Nachfragen bei Institutionen, Verbänden und bsp. SPD-Ortsvereinen. Eine kurze (im Internet nachlesbare) Skizze des „Lebens von Dr. phil. Max Simoneit“ (1986) veröffentlichte Prof. Dr. Karl-Heinz Bönner (1932–2017), der „Sonderpädagogische Psychologie“ am Erziehungswissenschaftlichen Institut der Philipps-Universität Marburg lehrte: er hatte als Student Simoneit in seinen letzten 6 Lebensjahren kennengelernt und blieb ihm quasi an Sohnes statt persönlich verbunden. Auch deshalb kann Bönners „Skizze“ als originaler Quellentext zum Verständnis herangezogen werden. Eine außergewöhnliche Rolle spielen die bisher unveröffentlichten, geradezu literarisch zu nennenden Texte des lebenslang schreibfreudigen Dr. Max Simoneit. Sie werden teilweise vollständig abgedruckt und kommentiert – obwohl, wie Wittenberger trocken feststellt, sie „für heutige Leser eine Zumutung“ (S. 27) darstellen: „Exemplarische Denkfiguren (…), die es ermöglichen unglaublichen Un-Sinn für geistvolle Wahrheiten zu halten“ (S. 27). – „Schwülstig emphatisch bis idyllisch verkitscht“, wäre meine Beschreibung. Aber sie laden eben als Spiegelfläche von persönlich formulierten Gedanken Simoneits dazu ein, seine innere (unbewusste) Welt in einen bisher unerschlossenen Sinnzusammenhang zu stellen.
Der psychodynamisch geschulte Blick auf den Zusammenhang von Innen- und Außenwelt ermöglicht die Textur des „individuellen Lebens“ in der gesellschaftlichen Realität deutlicher hervortreten zu lassen und zu entschlüsseln, also in ihren Verstrickungen auf verschiedenen Ebenen verstehbar zu machen. Verstrickungen in die gesellschaftliche „Realität“ stellen meist Kompromisse widerständiger Um- und Auswege und Anpassungsleistungen dar, die nicht immer „gerade“ und „glücklich“ zu nennen, aber als Lösungsversuche rekonstruierbar sind. Die „Erfindung der Geschichte“, die Simoneit „für sein Leben“ halten könnte, und wie sie aus den Quellen ablesbar ist, hebt erst nach 1945 an. Sie dreht sich wenig um seine Beteiligung und Einlassung in den hierarchischen nationalsozialistischen Machtapparat, dafür geht es umso mehr um Rechtfertigung und lässt jegliches Eingeständnis vermissen. Es dominiert die Verklärung der eigenen Distanz und Ambivalenz während des Nationalsozialismus, so dass nachträglich der „Anti-Nationalsozialist“ und geradezu „Widerständler“ Simoneit hervortritt. Das gesellschaftliche Narrativ von verführten Opfern, sauberer Wehrmacht, und auch die politischer „Schlussstrich“-Forderung – das FDP-Plakat von 1949 abgelichtet auf der Buchfrontseite – sind im Detail des Einzelfalls spannend nachzulesen. Unvermeidlich lesen sich einzelne Dokumente erhellend, weil als nachgeborener Deutscher mit Parallelen im eigenen Familiennarrativ bei gleichzeitig spärlichen familiengeschichtlich dokumentierten Auskünften, allein die dokumentierten „Persilscheine“ zur Krimilektüre werden können, weil „exemplarisch“ die Situation der Individuen „damals“ vorgeführt wird. Die opulente Ausbreitung des minutiös recherchierten Quellenmaterials, mit kleinteiliger Verschachtelung und Ausschweifung in abgelegene Details lässt den Leser gelegentlich den Überblick verlieren, unmittelbar erfährt er etwas über die Mühe der Aufbereitung und Auswahl der Quellenrecherche.

Worin besteht „der Fall“?

Die etwa 1896 geborenen und 1962 gestorbenen, männlichen Deutschen gab es vielfach, – auch mein Großvater mütterlicherseits teilte darüber hinaus – eine ähnliche gesellschaftliche Lage und Entwicklung: Teilnahme am I. Weltkrieg + „Auszeichnung“, humanistisches Abitur, Studium und solider bürgerlicher Aufstieg, reputierliche Leitungsfunktion im Betrieb, mit mehr oder minder halbherziger bzw. angeblich „ohne“ NSDAP-Parteimitgliedschaft, mit Mitte 40 Teilnahme an Weltkrieg II + „Auszeichnung“ mit Glück ohne Verwundung, anschließend Internierung im Lager der Alliierten und – mehr oder weniger ramponierte bis „gebrochene Rückkehr“ ins Zivilleben und relativ frühes Ableben.

In dieser Kohorte von Simoneits Altersgenossen war das jugendliche Kriegserleben im I. Weltkrieg das zentrale sehr individuelle Bindeglied für die „Entscheidung“ in höherem Lebensalter, „erneut in den Krieg zu ziehen“. Teilweise freiwilliger militärischer Dienst, Überleben der Fronterfahrungen unter Kameraden, begründete eine adoleszente Soldatenidentität mit Stolz, Selbstbewusstsein und Gefühlen der Dazugehörigkeit. Eine früh verfestigte Identität, die auch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter mit inzwischen eigener Familienbindung den II. Weltkrieg, im Moment als er verloren zu gehen drohte, als erneute Gelegenheit zu betrachten, „wenn alles erreicht ist“ sich selbst noch einmal aktiv „einzubringen“, mitzumischen und „die Heimat gegen den übermächtigen Feind zu verteidigen und zu retten“, – gewiss eine Illusion, aber eben auch ein Traum des individuell-privaten gesettelten bürgerlichen Lebens, das ohne „die Gelegenheit“ Krieg nicht „umgesetzt“ hätte werden können.

Wittenberger weist überzeugend für Max Simoneit nach, wie die preußische soldatische Identität parallel zur seiner sekundären und tertiären Sozialisation im Beruf als Volksschullehrer die tragende Säule und Hauptkomponente schlechthin auch für seine lebensgeschichtliche Zukunft ist. Sie verfestigt sich bereits 1927, als er eine Stelle als Heerespsychologe antritt. Beschäftigt mit Eignungsdiagnostik in Theorie und Praxis kann er seine eigene militärischen Praxiserfahrungen ins Spiel bringen, und kann sich den mutmaßlichen Vorwürfen entgegenstellen, doch nur dem Elfenbeinturm der Wissenschaft entsprungen zu sein. Auch war der Beruf des Psychologen längst noch nicht „verschult“ durchstrukturiert und etabliert, der „Diplom-Studiengang“ wurde erst entwickelt und, wenn man so will, war die Wissenschaft bedingt offen für Kreativität und im wahrsten Sinne des Worte experimentierfreudige Neugierde. Der „spielerische“ Aspekt in der Heerespsychologie wurde 1942 abrupt durch die politische Entscheidung von oben beendet – einmal, weil der steigende Offiziersbedarf im verlustreichen dritten Kriegsjahr kaum mehr der „Eignungsdiagnostik“ bedurfte und außerdem die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Ärzten und Psychologen das aufstrebende Fach, zumindest vorläufig bremsten. Institutionelle Vorbehalte gegenüber Dr. Max Simoneit in Apparat und Partei bestanden schon seit Jahren, – „schützende Hände“ gab es ebenfalls, aber nicht zu allen Zeiten fanden sie Gehör. Es ist nicht schwer vorstellbar, dass Simoneit immer schon eine gewisse Distanz zur NS-Führung und bestimmten Vertretern des Establishments pflegte, was er später zum „Widerstand“ kultivierte, als es opportun war. Im Moment unterschätzte er aber die institutionellen Bezüge, in denen er arbeitete und Karriere gemacht hatte: Rollenübernahme in der Institution ist Identifikationsanforderung, führt Wittenberger ins Feld. Für Simoneit stellte es sich alles ganz anders dar (S. 233), er spielte die Karte des traditionsbewussten Soldaten und übersah, dass er damit ebenso wenig ernst genommen wurde wie in seiner Rolle als Wissenschaftler. Für Simoneit war die Rückkehr in den soldatischen Auftrag ein selbstverständlicher Schritt, auf den er nicht verzichten wollte – mehr noch nicht verzichten konnte: Seiner „wahren“ Berufung zum „guten Soldaten“ war er treu ergeben, – und, könnte man sagen, damit war er vor der (inneren) Wahrnehmung seiner realen Krise, gescheitert zu sein, bewahrt.

Die nachfolgenden „Krisen des Scheiterns“, so von Wittenberger im Buchtitel festgehalten, – wiederholen sich nach 1945: Internierung, Entnazifizierung und anschließend erfolglose Versuche, am einst erreichten Status eines Chefs der Heerespsychologen anzuknüpfen. Sie sind erneut ideologisch aufgeladen, weil auch gesellschaftlich ausgetragen, in Auseinandersetzungen und Selbstrechtfertigungen. Nicht einem „Wertewandel“ (Bönners Interpretation) ist Simoneits neuer Lebensabschnitt zu verdanken, sondern, wie Wittenberger nachweist, es ist der Kontinuität des durchgehaltenen, identitätsstabilisierenden Soldatentums geschuldet. „Anpassung“ ist kein passives Anlehnen, sondern eine aktive „Aneignung“ der „neuen Verhältnisse“, – Simoneit hat diesen Schritt in den 50er Jahren auf vielfältige Weise unternommen, mit weniger öffentlicher Anerkennung bis hin zu offener Ablehnung von Seiten einstiger Kollegen und Distanz in dem erneut sich formierenden Verteidigungsministerium. Simoneit entfaltet Aktivitäten im „zivilen“ Bereich, macht sich selbständig mit einer Praxis – zu dieser Zeit gewiss eher eine Seltenheit. Er probiert es also an der Stelle aus, wo die neue Psychologie mit Rückenstärkung des sich entfaltenden Wohlfahrtsstaats, kaum zufällig nach dem verheerenden Krieg, sich zunächst langsam und wenige Jahre später beschleunigt etablieren konnte: in den Feldern der Lebens- und Berufsberatung und Psychotherapie.

„Aufklärungsgewinn“ des „Falles Siemoneit“

Spannend an der Studie ist die Aufdröselung der Textur eines einzelnen Lebens (soweit es dokumentiert ist), seine konkrete Verwicklung in die „herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse“. In Parallelität zum schon erwähnten eigenen Großvater lese ich die Untersuchung auch als exemplarischen Fall von persönlichem Aufstieg in ein „bildungsbürgerliches Milieu“, dessen gesellschaftliche Bedeutung im Nationalsozialismus eine „größere Breite“ als je zuvor erreichte. Die Gedankenwelten, die häufig „vergeistigt“ in die Höhe abgehoben und mit „Kultur und Bildung“ verbunden ein schichtspezifisches Selbstbild dieser Mittelschicht darstellen sollten, sind eine deutsche Besonderheit. Mir haben Wittenbergers Ausführungen noch einmal vor Augen geführt anders ausgedrückt: mein Vorurteil bestärkt), dass diese Selbststilisierung „höhere-Kultur-und-Bildung“, die ja der kollektiven Distanzierung gegenüber anderen Schichten und Klassen dient, dass diese der Verblendungszusammenhang selbst ist, der jegliche selbstkritische Einsicht und eigene Gefühlswahrnehmung abschneidet, ausschließt, einmauert und wegblendet. „Selbstreflexion“ nicht im Sinne von Rechtfertigung, sondern des Selbst-Verstehens wurde mit dieser Ideologie von „Akademikern mit Universitätsabschluss“ systematisch verhindert. Wittenberger schreibt in seinem „Nachwort und Fazit“ darüber:

„Es ist nicht auszuschließen, dass seine (Simoneits, t.k.) Rede von ,Geist‘ eine Art innere Haltung bedeutet, die letztlich aber ,Hypertrophie des Denkens‘ (pers. Mitt. R. Zwiebel) darstellt. Abgekoppelt von der jeweiligen Realität erscheint ,Geist‘ als etwas ,Erhabenes‘, das die dunklen Seiten der menschlichen Realität überwinden soll. Statt das ,menschlich allzu Menschliche‘ als zugehörig zur eigenen Existenz zu rechnen, entpuppt sich bei Simoneit ,Geist‘ als ein pervertiertes Denken, das sich wie ein Karzinom ausbreite und das Denken zerstört (…).“ (S. 297)

Es komme einem „intellektuellen Salto mortale“ gleich, schreibt Wittenberger, wenn Simoneit zum Sprung vom romantisierten Soldatentum zum „Pädagogen“ folgendermaßen ansetzt: Als Pädagoge versuche er, Simoneit, „aktive Kräfte und Werte des Soldatentums für die kultivierte friedliche Lebensgestaltung auszunutzen“ (ebd.) Geschraubt, verdreht und geradezu verkehrt, aber im Dienste der Identitätserhaltung mit aller verfügbaren Kraft der Gedanken.

Simoneit ist gewiss ein begabter und gescheiter und gleichzeitig exemplarisch doch ein konventioneller Vertreter des damaligen bildungsbürgerlichen Milieus, das Bildung und Kultur als Besitz verstand und in allen Lebenslagen einzusetzen wusste. Die Schilderungen aus dem Internierungslager des ehemaligen KZ Neuengamme, wie die Inhaftierten ihr Kulturprogramm zur gehobenen Unterhaltung und Zeitvertreib (S. 158 ff), also zur Selbstbestätigung ihre Ideale des „Schönen, Wahren, Guten“ feierten, liefern eindrückliche Belege davon.

Unverständlich bleibt dem Leser der Studie, wieso von Antisemitismus bei Simoneit gar keine Rede ist. Antisemitismus ist sonst die wesentliche und häufig anzutreffende ideologischen „Brücke“ zwischen (altem) „Militarismus“ und (späterer) bildungsbürgerlicher Existenz im Nationalsozialismus. Konnte und wollte Simoneit ihn „ausklammern“, oder hat er keinerlei Äußerungen hinterlassen. Was mein eigenes „Familiennarrativ“ diesbezüglich mitteilt, ist, dass der antisemitische „O-Ton“ des Vaters meiner 1927 geborenen Mutter sich erst in den 90er Jahre „offenbarte“, als sie ein Buch über Antisemitismus las. Wenn ich es also nicht überlesen habe, wünschte ich einen Blick auf die Schriften vor 1945 von Simoneit. Sofern denn Dissertation und Habilitation und weitere wissenschaftliche Publikationen in den Bibliotheken zugänglich geblieben sind, und nicht wie in anderen Fällen, vorher geräuschlos entsorgt wurden.
Der „gescheite“ Simoneit scheiterte wesentlich mehr an seinen Ansprüchen, erneut an alten Erfolgen anknüpfen zu können und weiterhin Karriere-Schritte zu machen. Dieser Surplus war ihm verwehrt, neidvoll blickte er auf einige einstige Kollegen, denen da etwas gelang. Aber auch er ließ sich zumindest zunächst doch „nicht unterkriegen“, folgte dem Ruf des Stehaufmännchens der 50er Jahre und versuchte nach Kräften neue Wirkungsfelder zu „erobern“. Mit „diesem Geist“ versuchte er „mitzuhalten“, scheiterte nur bedingt. Er sicherte sich darüber einen ebenfalls wichtigen Teil seiner Identität, als Pädagoge und Wissenschaftler. Der „Abschied vom Soldatentum“ misslang, in seinen Innenwelten rumorten Melancholie und Larmoyanz unaufhaltsam weiter, die er zunehmend im Alkohol zu ertränken versuchte. „Umkehr“ und psychotherapeutisches Gespräch war nun mal nicht sein Ding: Noch eine tiefsitzende seelische Kontinuität aus früher Sozialisation, sein Erleben in der Herkunftsfamilie hat keinen Niederschlag gefunden und sich so der Studie – leider – entzogen.


Thomas Kuchinke, Hanau, 01.08.2022


 

Gerhard Wittenberger: Aufstieg und Scheitern des Militärpsychologen Max Simoneit im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 2022