Woran erkannt man, dass aus Ausbildungskanditat*innen Supervisor*innen werden? – aus der Sicht einer Baltintgruppenleiterin

„Trägst Du wieder Deinen Supervisorinnen-Ring?“ So sprach mich ein Kollege vor etlichen Jahren an.

Er erklärte mir, dass man eine Supervisorin erkennt an ihren großen Fingerringen, an ihrer leger geschnittenen Kleidung aus edlen Stoffen, an den teuren, bequemen Schuhen, an edlen Ledertaschen. Daran, dass sie häufig öffentliche Verkehrsmittel benutzt und sich weitgehend biologisch ernährt … Ein Klischee …? Oder der Ausdruck von Habitus? … wahrscheinlich ohnehin längst überholt. Sind die Taschen der Supervisor*innen heute eher vegan, die Kleidung eher sportlich und die Fesseln tätowiert? Woran erkennt man eine Supervisorin und wann wird aus einem Ausbildungskandidaten ein Supervisor?

Ich leite eine der Balintgruppen für Ausbildungskandidat*innen beim FiS. Ich müsste es also beobachten können, wie aus Sozialpädagog*innen, Theolog*innen und Betriebswirt*innen Supervisor*innen werden …, wie vertraute Haltungen überdacht werden, in den Hintergrund rücken und neue Erfahrungen integriert werden und sich in Verhalten äußern.

Der Wandel vollzieht sich fast unbemerkt. Man merkt es erst hinterher. Ich stelle fest: Sie sprechen anders als noch vor einem Jahr, die „jungen“ Kolleg*innen. Sie haben eine andere Ausstrahlung, sitzen anders.

Was hat sich geändert?

Mit diesen Zeilen werde ich mich sicher an keine umfassende Darstellung von Identitätswandel und Habitusänderung heranwagen. Bestimmt ist das Supervisor*in-werden unter vielen Blickwinkeln zu betrachten. Die Lernsettings wirken zusammen: Kursgeschehen, Lehrsupervision und Balintgruppe. Die psychoanalytisch orientierte Balintarbeit ist nur ein Baustein der umfassenden Ausbildung.

Ich werde drei miteinander verknüpfte Aspekte benennen, die ich bei den jungen Kolleg*innen wahrnehme, die mich berühren und mich auch stolz sein lassen (… so mir ein solches Gefühl zusteht).

Sie können schweigen, das Schweigen besser aushalten.

Wenn etwa bei einer Fallbesprechung etwas im Raum steht, das schwer zu benennen ist, wenn Unsicherheit und Hilflosigkeit entstehen, wenn es Sinnlücken gibt, … können sie warten, die jungen Kolleg*innen. Sie sitzen nicht mehr so häufig vorne auf der Stuhlkante, bleiben öfter zurückgelehnt. Sie müssen das Ungefähre nicht mehr sofort zudecken mit schnellen Einordnungen, in „richtig“ und „falsch“, müssen keine schnellen Lösungen und Hilfsangebote produzieren, wie sie es aus ihren Herkunftsberufen gewohnt sind. Eine ganze Gruppe kann schweigen, bis die eine oder der andere sich herantastet an die passenden Worte, … bis ein Zugang entsteht, den man vielleicht nicht so gern spüren wollte, der aber Verstehen ermöglicht.

Meist geht es um Gefühle wie Wut, Ekel, Scham, um Missbräuchliches, Erotik …

Einmal gefühlt, angedeutet, für möglich gehalten, kommen die passenden Interventionen von allein. Der Kollege/ die Kollegin wird sich für die nächsten Schritte und Sitzungen freier fühlen.

Manchmal ist die Frage wichtiger als die Antwort.

Jede Frage ist ein Einfall, regt die soziale Fantasie an. Einmal ausgesprochen, steht eine Möglichkeit im Raum.

Die Kolleg*innen verstehen im Laufe ihrer Ausbildung zunehmend, dass nicht alles beantwortet werden muss – weder in der kollegialen Arbeit in der Balintgruppe noch im Umgang mit den Supervisand*innen.

Die etwa in einer Fallvorstellung beschriebene Supervisandin wird möglicherweise leugnen, dass die Depression ihrer Tochter sich auf ihre eigene berufliche Karriere auswirken könnte. Die Supervisorin aber hat die Frage danach gestellt. Ein Zusammenhang ist denkbar und einfühlbar. Das Thema kann wieder auftauchen, … oder auch nicht.

Supervisorin sein, heißt in diesem Fall möglicherweise, auf die Wirksamkeit der gestellten Frage zu vertrauen, auch wenn es eine abwehrende Antwort gibt.

Die jungen Kolleg*innen in der Balintgruppe fragen viel seltener als am Anfang ihrer Ausbildung nach der „richtigen“ Antwort auf eine auftauchende Frage. Sie verstehen – auch emotional – welch starke Intervention schon eine Frage sein kann.

Gefühle benennen – nicht agieren.

Eine Ausbildungskandidatin mit dem Grundberuf der Soziologin sagt am Ende einer Sitzung: „Ich möchte Gefühle nicht nur denken, sondern auch fühlen.“

… Aber dann?

Wie kann ich verhindern, dass meine eigenen Gefühle mich überfluten, dass ich sie agiere, dass ich die Supervisand*innen aus dem Blick verliere? Wie passen die abstinente Haltung und das Arbeiten in der Beziehung zusammen? Wie kann ich Gefühle zur Verfügung stellen, ohne die professionelle Distanz zu verlieren?

Ich bin berührt von den Fragen nach dem Umgang mit den eigenen Gefühlen. Das Reflektieren eigener Emotionen, das Erforschen von Übertragung und Gegenübertragung und das Nutzbar-machen für die Diagnose, machen deutlich: Jetzt habe ich Kolleg*innen vor mir. Sie sind Supervisor*innen … und werden es doch noch immer weiter werden.

Die ersten stellen sich in ihrem Umfeld nicht mehr mit dem Satz vor: „Ich mache eine Supervisionsausbildung.“, sondern mit dem Satz. „Ich bin Supervisor:in“.

Die mitgebrachte Tasche mag aus Leder oder vegan sein, die Hände beringt oder unberingt: Ich spüre: Da sitzt ein/e Kolleg*in.

Von Fingerringen und dem Umgang mit Gegenübertragungsgefühlen

Mechthild von Prondzinski

Supervisorin (DGSv) und Balintgruppenleiterin (FiS) in eigener Praxis Münster — www.mvp-supervision-muenster.de

Von Fingerringen und dem Umgang mit Gegenübertragungsgefühlen