Veränderungen zeigen sich oftmals in der Konjunktur von Begriffen an. Begriffe sind nicht einfach Wörter für korrespondierende Sachverhalte. Ganz abgesehen davon, dass das Verhältnis von Begriff und Sachverhalt letztlich paradox ist, weil uns die meisten Sachverhalte vor allem begrifflich zugänglich sind. Sachverhalte liegen nicht einfach vor. Sie sind auf eine begriffliche Darstellung angewiesen, deren Plausibilität nicht nur eine präzise und konzise Abbild- oder Protokollfunktion hat. Begriffe haben auch eine Anmutung, eine Ästhetik, sie überzeugen kontext- und milieuabhängig, sie transportieren mehr, als sie eigentlich ausdrücken. In der Linguistik spricht man vom illokutionären Gehalt eines Begriffs bzw. eines Sprechakts. Das Illokutionäre wäre das nicht direkt Ausgesprochene, das, was über die unmittelbare Bedeutung hinausweist.
Die Konjunktur des Disruptiven
Eine besondere Konjunktur muss man gegenwärtig dem Begriff der Disruption zuschreiben – das kann man schon daran sehen, dass er in ganz unterschiedlichen Kontexten verwendet wird. In der Ökologie- und Klimaschutzdebatte werden ebenso disruptive Ereignisse diagnostiziert, wie demgemäß disruptive Maßnahmen angemahnt werden. In der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Debatte wird Disruption als Strategie empfohlen, um endlich die ökonomische Katastrophe abzuwenden, die sich (angeblich) breit macht. Gerne wird dabei auf den Kettensägenwahlkampf des amtierenden argentinischen Präsidenten verwiesen. Aber auch als Tool der Erneuerung von Organisationen wird gerne Disruptives vorgeschlagen, von politischen Themen wie etwa Migration ganz zu schweigen. Oft übrigens korreliert die Forderung nach Disruption mit eher einfachen Lösungen, besser: einfach erscheinenden Lösungen.
Der Hinweis auf Disruption als Veränderungsgenerator macht Veränderung leichter beschreibbar: Man beschreibt einen Ist-Zustand und imaginiert einen Soll-Zustand, zu dem hin sich die Dinge disruptiv verändern sollen. Disruptionskonzepte jedenfalls können weitgehend darauf verzichten, dem Prozess vom Ausgangszustand hin zu einem Soll- oder Zielzustand besondere Aufmerksamkeit zu schenken, weil ein disruptives Konzept davon ausgehen muss, dass die Disruption schon selbst nachhaltige Lösungen erzeugt bzw. eine dauerhafte Neuordnung von Zuständen hervorbringt.
Aber das ist selten der Fall. Disruptionen als unerwartete, plötzliche Ereignisse kommen durchaus vor, aber sie haben nicht unbedingt nachhaltige Wirkungen. Wir kennen dies nicht nur in gesellschaftlichen Umbrüchen, sondern auch in persönlichen Situationen. Eine beliebte Disruption ist, sich unmittelbar vorzunehmen, etwas völlig anders zu tun: anders arbeiten, mehr Sport machen, gesünder zu essen, sich mehr um sich selbst oder andere zu kümmern usw. Oftmals kommt es hier zu richtig radikalen Verhaltensänderungen, die sich aber nicht durchsetzen. Man hält das veränderte Verhalten eine Zeit lang durch und fällt dann doch wieder in gewohnte Routinen zurück.
In der Sprache der Evolutionstheorie würde man sagen: Abweichungen oder Variationen müssen sich stabilisieren, um zu nachhaltigen Veränderungen zu führen. Aus der Evolutionsforschung jedenfalls kann man wissen, dass disruptive Selektion eher die Ausnahme ist – und gerade die soziokulturelle Evolution zeichnet sich dadurch aus, dass Veränderungen auf die Trägheit und Stabilität von Routinen, Strukturen und bewährten Verhaltensweisen treffen. Deshalb sind auch bezüglich persönlicher Veränderungsprozesse Erfahrungen wahrscheinlich, dass sich bewährtes Verhalten als stabiler darstellt als eine als besser erkannte Alternative.
Praxis der Bewährung
Die Erkenntnis klingt fast demütigend: Bewährtes Verhalten, Routinen, Stereotype sind oft wirkmächtiger als das beste Argument, die deutliche Einsicht oder ein eher kognitiv wirksamer Wille. Gerade in Organisationen wie Unternehmen, Universitäten, Verbänden oder Vereinen lässt sich beobachten, wie tröge Strukturen sein können und wie sehr die eigene Praxis von Strukturen bestimmt ist, die den handelnden Personen oftmals nicht einmal bewusst sein müssen. Soziologisch würde man Organisations- oder Unternehmenskultur all das nennen, worüber nicht explizit entschieden wurde – und wer schon einmal versucht hat, einen Kulturwandel in Organisationen hervorzubringen, wird feststellen, wie schwierig hier eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen ist. Genau genommen sind es sehr selten die auf Hochglanzpapier festgehaltenen Texte einer neuen „Unternehmensphilosophie“ oder eine Aufzählung von „Werten“ oder Willensvereinbarungen. Einen Kulturwandel wird man nur bewerkstelligen können, wenn sich Praktiken und Routinen neu ordnen, wenn also Bedingungen so verändert werden, dass sich anderes Verhalten bewähren kann.
Bis an diese Stelle hörte sich die Argumentation so an, als sei die Trägheit der Verhältnisse, als sei Stabilität und die Widerständigkeit gegen radikale Veränderung ein Störfaktor, gar negativ zu bewerten. Das freilich wäre eine Fehlinterpretation, denn operative Systeme sind stets träger als ihre Umwelt. Das gilt für organische Systeme ebenso wie für psychische Bewusstseinssysteme, für soziale wie für kulturelle Systeme. So muss ein Organismus sich in internen Regelkreisen gegen disruptive Änderungen, etwa Temperaturänderungen stabilisieren und damit Trägheit aktiv herstellen. Ein Bewusstsein braucht stabile Bilder über die Welt, um sich in ihr zu bewähren, braucht Typisierungen und Hypothesen, sogar Stereotype und manchmal auch Vorurteile, um mit der Mannigfaltigkeit der Welt umzugehen. Soziale Systeme bilden stabile Erwartungen aus, die Handlungskoordination unter Fremden erst möglich macht. Man stelle sich vor, man könne sich nicht auf ganz banale Erwartungen von Mitmenschen oder sozialen Institutionen verlassen – etwa dass der andere auch die Rechts-vor-links-Regel kennt (und anwendet) oder dass die U-Bahn aus dem dunklen Tunnel wieder herausfährt. Und kulturelle Bedeutungen müssen träge sein, sonst könnten wir Sprache nicht verstehen oder uns nicht auf Werte verlassen.
Lob der Trägheit?
Man muss kein Lob der Trägheit singen, aber sollte sich eine Welt vorstellen, in der solche Trägheiten nicht gelten oder nicht gelingen. Die Komplexität würde enorm steigen – man könnte sich buchstäblich auf nichts verlassen. Und ausgerechnet in Veränderungs-, in Transformationsprozessen sind Trägheiten, Gewohnheiten und Bewährtes nicht nur ein Störfaktor, sondern auch die Basis, die die Potentiale der Veränderung bereitstellen. Veränderungen sind keine creatio ex nihilo, keine Erschaffung aus dem Nichts, sondern sie fangen in konkreten Situationen an – wahrscheinlich bergen diese konkreten Situationen mit ihren Trägheiten sogar die Potentiale, die es braucht, um überhaupt nachhaltige Veränderungen vorzunehmen.
Oft wird vergessen, dass diejenigen, die von Transformationsprozessen betroffen sind, Veränderungen in ihre Kategorien, in ihren Alltag, in ihre Routinen einordnen können müssen. Das hört sich oft so an, als sei das eine Bremse oder als schließe das Veränderungen aus – aber das Gegenteil ist der Fall. Bezieht man das etwa auf gesellschaftliche Transformation, etwa in der Klimafrage, so wird sehr deutlich, dass Forderungen nach disruptiven Veränderungen und radikalen, schnellen Verhaltensänderungen Reaktanz verursachen, demokratisch kaum mehr als wählbar akzeptiert werden und zugleich zur Delegitimierung von Klimazielen beitragen – zum Teil deutlich gegen die Intentionen der handelnden Personen. Man muss disruptiv denken, sich erhebliche Veränderungen vorstellen können, der reale Veränderungsmodus freilich ist eher evolutionär und in konkreten Schritten vorstellbar. Wer wirklich etwas verändern will, muss dies in der Spannung dieser beiden Denkungsarten tun.
Armin Nassehi
geb. 1960, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaft, Mitglied des Deutschen Ethikrates und Herausgeber der politischen Kulturzeitschrift Kursbuch. Jüngste Buchveröffentlichungen: Kritik der großen Geste. Anders über Transformation nachdenken (München 2024); Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede (München 2023); Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft (München 2021). (Porträt: © Hans-Günther Kaufmann)