Alles wird besser,
aber nichts wird gut.
Silly, 1989
Wir leben inmitten von Polykrisen. Durch die Erderwärmung erleben wir Hitzewellen, Überschwemmungen und Dürren und ihre schlimmen Folgen. Die Covid-19-Pandemie zeigt noch immer negative gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Wirkungen. Kriege und geopolitische Spannungen konfrontieren uns mit unsäglichem menschlichem Leid, führen zu Versorgungsunsicherheiten und höheren Lebenshaltungskosten. Abnehmendes Vertrauen in das politische System gefährden die demokratische Verfasstheit unseres und anderer Staaten. Manche dieser Entwicklungen, sollten sie sich als irreversibel erweisen, sind eher Zusammenbrüche als vorübergehende Krisen.
In dieser Situation arbeiten wir als Supervisor*innen und Coaches. Wie die von der DGSv durchgeführten Mitgliederbefragungen (2009, 2020, 2023) zeigen, vor allem in den Feldern der Sozialen Arbeit, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen, in kirchlichen Feldern, in der Öffentlichen Verwaltung. Zwar deutlich weniger, aber auch in Industrie, Handwerk, Handel und Landwirtschaft.
Was wird aus den Berufen dieser Branchen in Situationen, in denen mehrere Krisen, kritische Entwicklungen, Katastrophen gleichzeitig auftreten und sich gegenseitig beeinflussen? Was wird aus Supervision und Coaching?
Angesichts der katastrophalen Veränderungen unseres Erdklimas gibt es einen vom Umweltbundesamt herausgegebenen und von Bernardt, Wolter, Rausch-Berhie (2024) verfassten Teilbericht „Auswirkungen von Klimaanpassung auf den Arbeitsmarkt“. Ihre Annahmen eines Klimaanpassungsszenario (Kapitel 3, S. 22f) enthalten 4 Gruppen von Maßnahmen:
- Klimaanpassung in urbanen Räumen (z.B. Dach- und Fassadenbegrünung),
- in der Arbeitswelt (z.B. hitzebedingte Arbeitsausfälle, Aufbau von Klimaanpassungsexpertise),
- in der primären Produktion (z.B. Umbau Forst- und Landwirtschaft) und
- in der Vorsorge und Gesundheit (z.B. Katastrophenvorsorge, Gesundheitsvorsorge für vulnerable Gruppen, Gebäudesanierungen).
Es werden mit Hilfe einer Modellierung Berufe identifiziert, bei denen die Maßnahmen zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels zu einem Mehrbedarf an Fachkräften führen und die auch veränderte Kompetenzanforderungen haben werden, um eine Klimaanpassungsexpertise aufzubauen, was wiederum neu zu konzipierende Weiterbildungen erfordert. Als „relevanteste Berufsgruppen im Klimaanpassungsszenario“ (S. 49) stehen die der oben genannten Felder in der Gruppe 4 ganz vorn.
Von den Autor*innen des Teilberichts werden diese Anpassungsmaßnahmen als „vorsorgendes Programm zu Schadensvermeidung“ eingestuft, um das „Schadenspotential für Gesundheit und Wirtschaft zu verringern“ (S. 11).
Umgesetzt werden kann das allerdings nur, wenn unsere Wirtschaftspolitik stärker darauf ausgerichtet wird. Das ist gar nicht abwegig, denn das modellierte Szenario hätte durch zusätzliche Ausgaben und Investitionen eine Steigerung der Wirtschaftsleistung zu Folge, wie die Autor*innen nachweisen. Das kollidiert dann aber mit einem zu geringen Angebot an Arbeitskräften. Auch ist Schadensvermeidung nicht mit Produktivitätssteigerung gleichzusetzen, d.h. es ist kein Wachstumsprogramm.
Es müsste von politischen Entscheidungsträgern akzeptiert werden, dass zumindest teilweise der Erhalt des Status quo durch Vermeidung von Verlusten oder Abmilderung von Verlusten und nicht Wachstum und Fortschritt auf der politischen Agenda stehen.
Damit sieht es nach wie vor schlecht aus. Neuere soziologische Gegenwartsbeschreibungen helfen, das zu verstehen. Illouz (2024, 11) weist darauf hin, dass Normen, Regeln, soziale Strukturen, kulturelle Leitlinien der Moderne zu Gefühlen verschmelzen, die Interaktionen in Gruppen und Kulturen anheizen können. Ihr neuestes Buch heißt interessanterweise „Explosive Moderne“. Als einen „potenziellen Sprengsatz“ bezeichnet Reckwitz in „Verluste. Ein Grundproblem der Moderne“ (2024, S. 413f) den „Widerspruch zwischen Fortschrittsversprechen und Verlusterfahrung“. Verluste, so Reckwitz, gab es immer, Fortschritt produziert diese mit, trägt die Verlustseite in sich. Fortschritte haben die Lebens- und Arbeitsqualität stark verbessert. Nur ist das die eine Seite, die andere sind damit einhergehende Problematiken. In der Moderne wurden diese als Verluste innerhalb eines Fortschrittsimperativs als nebensächlich, Kollateralschäden, kurzfristig und reparabel gedeutet und schnell unsichtbar gemacht. Das ist immer weniger möglich, da Verluste inzwischen unübersehbar sind. Jedoch bleibt, so Reckwitz, auch in der gesellschaftlichen Krise, der Fortschrittsglaube auf der Ebene individueller Biografien intakt und sorgt für eine hohe Enttäuschungsanfälligkeit, denn es wird individuell Fortschritt erwartet, der in der Postmoderne gesellschaftlich längst fraglich erscheint. Unsere Gegenwart, so Illouz (2024, 104) kennzeichnet, dass sie „mit der Aufforderung verbunden ist, unzufrieden mit unserem Leben zu sein, mehr von ihm zu wollen und Erfahrungen zu erwarten, die über ein gewöhnliches Leben hinausgehen“. Nicht nur Enttäuschung, auch Hoffnung wird so „zum festen Bestandteil der Struktur des modernen Lebens“. „Selbst der – für die Wirtschaft wie für die Politik zentrale – Begriff der `Krise` impliziert die Erwartung, dass eine solche Krise gelöst werden kann …“. (Illouz, 2014, 73) Hinweise, dass das nicht möglich sein könnte, lassen Enttäuschungen in Wut und Zorn aufgehen.
Das sind mögliche Erklärungen, warum, wenn es um Verlust und damit auch um Verzicht geht, schnell eine aufgeheizte Stimmung entsteht und Anpassungsszenarien und -programme eher ein stilles Hintergrundrauschen bleiben.
Reckwitz (2024, 415f) verweist auf drei Möglichkeiten, wie sich die Zukunft gestalten könnte.
Erstens die „Weiterführung der Moderne“, in der Krisen dank innovativer Lösungen vorübergehen, zweitens der „Zusammenbruch der Moderne“ und die Entstehung „nachmoderner Gesellschaftsformationen“ sowie drittens eine „Reparatur der Moderne“, die mit Verlusterfahrungen konstruktiv umgehen kann. Er hält alle drei Möglichkeiten für wahrscheinlich.
Um damit in Hinblick auf eine „nächste Gesellschaft“ umgehen zu können, so Staab (2022), braucht es „Anpassung als Leitmotiv“. Auf individueller Ebene hieße das, weniger Programme der „Selbstentfaltung“ als Programme der „Selbsterhaltung“ in der sozialen Praxis zu leben.
Die Shell-Studien seit 2002 interpretiert Staab so (S. 74ff), dass ungefähr die Hälfte der befragten Jugendlichen sich von einer Fortschritts- und Zukunftsorientierung weg und hin zu einer Sinn- und Gegenwartsorientierung bewegt haben. In der Bereitschaft, sich politisch einzubringen, sieht Staab die Absicht, die „Gegenwart zukunftsfähig“ zu machen. Er nennt „Abmilderung“ (Mitigation) als eine konkrete Praxis „reflexiver Resilienz“ (S. 86f). Man kann die Gegenwart stabilisieren, indem man Schlimmeres zu verhindern versucht. Man versucht so viel Gegenwart wie möglich in eine nähere Zukunft hinüberzuretten.
Die oben erwähnte Studie zu Berufen bei Klimaanpassungsmaßnahmen lässt sich in diese Praxis einordnen.
Als Supervisor*innen und Coaches sind wir teilweise in Feldern tätig, die seit langem Verlusterfahrungen haben und Verluste bewältigen. Damit meine ich nicht nur die Berufsgruppen, die mit Altern, Krankheit, Sterben umgehen. Wir arbeiten in Organisationen, in denen zunehmend Fachkräfte fehlen, sich Arbeitsbedingungen verschlechtern, psychische und physische Belastungen zugenommen haben.
Oft haben Supervisand*innen, Coachees ihre Belastungsgrenzen erreicht, auch überschritten. Die von Staab (2022) beschriebene Abmilderung ist zum Beispiel im Sozial- und Gesundheitswesen gängige Praxis.
Für Supervisor*innen und Coaches kann es eine Möglichkeit sein, wahrzunehmen, ob auf verschiedenen Ebenen einer Organisation am Fortschrittsimperativ kollektiv und/oder individuell festgehalten wird oder ob eine Bewusstheit für die mit jedem Fortschritt einhergehenden Verluste existiert. Der „Fortschrittsimperativ“ kann sich in Organisationen als zusätzliche Belastung für deren Mitglieder erweisen, denn er legt nahe, dass unter schwierigen Arbeitsbedingungen, Fortschritt nicht nur möglich, sondern obligatorisch ist.
Der Versuch, das zu thematisieren, wird auf Abwehr stoßen. Anpassung als positiven Wert zu verstehen, wäre eine veränderte Sichtweise, ein Umdenken. Das ist notwendig, denn die Abmilderung (Mitigation) vorauszusehender Schäden erfordert eine bewusste Auseinandersetzung mit zukünftigen Entwicklungen und planvolles Handeln. Aufscheinende Risiken müssten ins Gespräch, ohne Resignation hervorzurufen. Der Plan A und B und auch C für eine mögliche Abmilderung verschiedener kalkulierter Folgen sollte existieren. Am Ende ist es eine (noch) funktionierende Infrastruktur, die den völligen Zusammenbruch verhindert.
Hier sind wir als Supervisor*innen gefragt. Ich meine, wir haben diesbezüglich in den letzten 20 Jahren viel in unseren Supervisionen und Coachings lernen können. Wir wiederum könnten reflexive Resilienz in Team-, Gruppen- und Einzelsupervisionen fragend befördern:
Was braucht eine bestimmte Infrastruktur an Minimalem, um sich zu erhalten? Welche Möglichkeiten und welche Risiken werden von Supervisand*innen, Coachees gesehen, als wie wahrscheinlich werden sie beurteilt, lässt sich vorbeugen? Was sollte geschehen, wenn ein Kipppunkt überschritten ist? Kann man sogar kreativ werden, um Risiken zu vermindern?
Wird diese Art von Wachsamkeit und Gestaltungswillen zu einer neuen Routine, wäre bei uns, mit uns, durch unsere Supervision, unser Coaching, eine Art erweiterte und bewusst eingesetzte Anpassungskompetenz entstanden.
Auch bei uns: Als Supervisior*innen und Coaches arbeiten und leben wir inmitten der beschriebenen Gefühlswelten und teilen diese. Wir erleben die „Explosive Moderne“ (Illouz, 2024) und „die Visibilisierung der zuvor latent gehaltenen Krisen“ (Nassehi, 2024, S. 34ff), wenn wir arbeiten und in unserem Lebensalltag. Es gibt, wie Nassehi es nennt, „Wahrnehmungsroutinen“, „immunisierende Narrative“ und die Hoffnung einer Bewältigung durch eine „große Transformation“. Ich habe die letzten zwei Jahre gebraucht, um mich davon zu lösen. Es begann damit, mich des Themas eines möglichen Zusammenbruchs anzunehmen und zu entdecken, dass dieser nicht das Ende sein muss, sondern ein Anfang sein kann, dass Mitigation eine Praxis ist, die mir sogar vertraut ist. Der Gewinn war für mich, „reflexive Resilienz“ (Staab, 2022) in mein Supervisionskonzept aufzunehmen.
30.11.2024
Literatur
Bernardt, F., Wolter, M.I. & Rausch-Berhie, F. (2024). Auswirkungen von Klimaanpassung auf den Arbeitsmarkt. Eine Modellierung des zukünftigen maßnahmeninduzierten Arbeitskräftebedarfs. CLIMATE CHANGE 12/2024. Umweltbundesamt. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/11850/publikationen/12_2024_cc_auswirkungen_klimaanpassung_arbeitsmarkt.pdf
Illouz, E. (2024). Explosive Moderne. Suhrkamp.
Nassehi, A. (2024). Kritik der großen Geste. C.H. Beck.
Reckwitz, A. (2024). Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp.
Staab, Ph. (2022). Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft. edition suhrkamp.
Dr. Annette Mulkau
Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e.V. (DGSv) Diplom-Psychologin, Supervisorin (DGSv)