Ein augenzwinkernder Zwischenruf

In diesem Jahr ist unser Grundgesetz, über das wir mit Recht sehr glücklich sein können, 75 Jahre alt geworden. Das Bewusstsein darüber, welche Bedeutung es hat, welche grundlegenden Rechte es sichert und dass wir es schützen müssen, wurde nicht zuletzt noch im Mai dieses Jahres deutlich angesichts des Demokratiefestes zum 23. Mai 1949. Das Grundgesetz ist unsere „Verfassung“.

Ich möchte an dieser Stelle einmal auf den großen „Bedeutungshof“ des Wortes Verfassung hinweisen, denn der Wert einer „Verfassung“ kann auch in anderen als nur in einem politischen Kontext bedeutsam sein.

Wir wenden das Wort z. B. auch auf unsere persönliche, vielleicht körperliche, vielleicht psychische „Konstitution“ an. In welcher „Verfassung“ sind wir? Wie können wir etwas aufnehmen, verkraften? Angesichts von Unrecht und Leid werden wir nicht selten fassungslos. Wir sprechen auch davon, dass jemand in einer schwierigen emotionalen Lage die Fassung verloren hat oder jemand anderer eine schlechte Nachricht gefasst aufgenommen hat. Wenn wir über unsere persönliche Verfassung sprechen, meinen wir eine Kompetenz zum Standhalten, zum Aushalten, zum Widerstehen. Das kann gelernt sein, das kann einer grundlegenden Resilienz entsprechen. Und uns ist bewusst, dass wir Atempausen brauchen, um auch überraschenden und unangenehmen Erfahrungen standzuhalten, dass wir für unsere persönliche Konstitution etwas tun müssen und uns nicht dauerhaft überfordern dürfen.

Genauso könnten wir auch von der „Verfassung“ unserer Organisationen sprechen. Als Supervisor*innen müssen wir da gar nicht weit gehen. Wir spüren aktuell: Es ist anstrengender geworden, nicht nur die persönlichen, auch die organisatorischen Herausforderungen in der Supervision werden sichtbarer. Die Klientel der Einrichtungen wird schwieriger, die Krisen sind multidimensional: Es geht nicht mehr nur um soziale Konflikte, es sind immer häufiger auch gleichzeitig psychische Störungen. Die Jugendhilfeeinrichtungen z. B. haben es nicht mehr nur mit den alltäglichen Verwahrlosungen von sozial belasteten Familien zu tun, mit multiethnischen Jugendlichen kommen die Kriegstraumata hinzu. Gleichzeitig fehlt oft das Personal, das diesem mit Zeit und Ruhe, mit Umsicht und Ausgeglichenheit, mit konzeptioneller Arbeit und Reflexion begegnen kann. Quereinsteiger und Quereinsteigerinnen folgen mit großem Engagement ihren spontanen und gut gemeinten Helferimpulsen, es mangelt aber nicht selten an ihrer professionellen Ausbildung. „Wir sind am Limit“; „Es ist mal wieder viel“; „Ich bin erschöpft“ …  Der Song vom „Atemlos durch die Nacht“ bekommt in einer anforderungsreichen Nacht- oder Spätschicht einen ganz neuen – eher zynischen – Beigeschmack …

Wir wissen: Leben braucht Formen, klare Settings geben Sicherheit. Wenn Einrichtungen aber ihre Strukturen vernachlässigen und – auch dem Personalmangel geschuldet – wichtige Kooperationsfragen nur „zwischen Tür und Angel“ ansprechen, dann beginnt die Sicherheit zu erodieren. Wenn wichtige Aspekte dieser Zusammenarbeit, die alle Mitarbeitenden eines Teams betreffen, aus Zeitgründen nur bilateral besprochen werden – dann wird die informelle Ebene verstärkt, Gerüchte können sich bilden und ihr Unwesen treiben, denn: „Was nicht mehr wahrgenommen wird, verwahrlost.“  Das heißt: wenn wichtige Verfahren und Abläufe vernachlässigt werden oder im Ungefähren bleiben, wenn Führungskräfte die Probleme an der Basis nicht mehr wirklich zur Kenntnis nehmen wollen, wenn kein „Containment“ mehr geleistet wird, dann kommt es zu psychischer Erschöpfung, Sinnlosigkeitsverdacht und nicht selten zu Gleichgültigkeit. „Zwischen Tür und Angel“ ist man auf dem Sprung, man wird in einer Zielrichtung gebremst, unterbrochen, aufgehalten und soll schnell und effektiv reagieren, wo doch gerade etwas anderes auf einen wartet.

Das Sitzen im Kreis dagegen ist face to face. Jeder und jede kann in Ruhe ausreden, man kann Perspektiven wechseln und einen Fall von verschiedenen Seiten sehen – das schafft hier „Atempausen“, man kann zu sich selbst kommen. Man kann aufregende und belastende Vorgänge bei den anderen Kolleg*innen überhaupt wahrnehmen, man kann den Blick schärfen für Unordnung und Unklarheit.

So gesehen sind regelmäßige Dienstbesprechungen unverzichtbare „Verfassungsorgane“ einer guten Einrichtung, einer guten Organisation. Sie können nicht nur die wichtigen Verfahren der Organisation auf ihre Angemessenheit und Funktionsfähigkeit hin überprüfen. Die gelebte Präsenz entlastet uns Menschen, wir wollen uns fühlen und sehen und verstehen. Dann können wir auch wieder besser die schweren Alltagsprobleme bewältigen.

Supervision könnte – um mit diesem Wort weiter zu spielen ­­­­­– helfen, diese hier „Verfassungsorgane“ genannten Strukturen einer Organisation zu schützen. Denn nicht selten gerät Sand ins Getriebe der Maschinerie alltäglicher organisatorischer Abläufe. Man braucht mit Abstand Zeit und Raum für Nachdenken und kompetente Reflexion. Supervisor*innen sind mit inneren Landkarten ausgestattet, sie wissen, wie und wo man sich im Dickicht der Kooperation in einer Einrichtung verlaufen, verirren und vielleicht auch verbeißen kann. Die kreisenden Bewegungen in meinen Supervisionssitzungen erlebe ich oft wie das mühsame Geschäft von Archäologen, die manchen Sand erstmal beiseiteschaffen müssen, ehe die Artefakte einer verborgenen Wahrheit ans Licht kommen. Wenn diese Archäologen nicht wissen würden, wonach sie suchen, wenn sie nicht mit Spürnasen ausgestattet wären, würden sie nicht fündig.

Und wenn man es richtig angestellt hat, dann suchen auch alle anderen Teilnehmenden in der Supervision mit. Wir brauchen nicht nur im Staat, wir brauchen auch in den Einrichtungen regelmäßige „Sozialhygiene“ für die Verfassung der Organisationen, um immer wieder sicherzustellen, dass man sich hier aufeinander verlassen kann, dass die gemeinsame Richtung wieder gefunden wird und Räume zum Nachdenken und Verstehen vorhanden sind, sollte man vielleicht im Eifer des Gefechtes die Fassung verloren haben …

In diesem Zusammenhang grundlegend weiterführende und bemerkenswerte Gedanken fand ich in den letzten Tagen, als ich zufällig bei Freunden die letzte Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ in die Hände bekam. Andreas Reckwitz, der kürzlich mit seinem neuen Buch „Verluste“ eine interessante Zeitdiagnose herausgebracht hat, geht von einer „beschädigten Moderne“ aus, deren Reparatur zunehmend eine gesellschaftliche Aufgabe geworden sei. Gerne zitiere ich hier am Ende dieses Essays einen etwas umfangreicheren Auszug aus seinem Artikel (mit Hervorhebungen von mir, BG).

„Die moderne Gesellschaft ist klassischerweise vom Ideal einer umfassenden Optimierung der Welt in allen ihren Facetten geleitet. Der selbstreflexive Blick der reparierten Moderne würde dem gegenüber klar von der basalen Verletzlichkeit und damit Verlustaffinität dieser Welt ausgehen, die der Fortschrittsimperativ tendenziell verdeckt hat. Der Schutz des Vulnerablen verwandelt sich somit in eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Dies gilt für die verletzlichen menschlichen Subjekte und die prekären intersubjektiven auch emotionalen Abhängigkeiten, in denen sie sich zwangsläufig befinden, ebenso wie für die fragilen sozialen Einheiten – von der Familie über die Organisationen und technischen Infrastrukturen bis hin zur liberalen Demokratie, der globalen Ökonomie oder den Verhältnissen zwischen den Nationen. Und es gilt auch und nicht zuletzt für die Erde als ein ökologisches System, die sich im Anthropozän als äußerst vulnerabel herausstellt.“ (Reckwitz 2024, S. 54)

Im November 2024

Literaturverzeichnis

Reckwitz, Andreas (2024): Die reparierte Moderne. Wie die Verlusterfahrung das Fortschrittsparadigma überwindet. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 69 (12), S. 45–56.

Dr. Bernadette Grawe

Bernadette Grawe, (*1951) aufgewachsen in Gütersloh, lebt in Warburg. Berufliche Stationen: nach einem Ausflug in die Pharmazie, Studium der Katholischen Theologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften, langjährige Tätigkeiten in verschiedenen Feldern der Jugendverbandsarbeit, freiberufliche Praxis als Supervisorin DGSV (seit 1992), Trainerin für Gruppendynamik (seit 2001), Promotion zum Dr. phil. (2002), Professorin für das Lehrgebiet „Sozialmanagement“ an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn (2005–2017), seither Praxis für Supervision und Beratung. www.grawe-netz.de Bernadette.grawe@t-online.de

„Verfassungsorgane“ in Organisationen?
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