Neulich bekam ich aus meinen Buchbeständen zufällig ein Buch in die Hand, dessen Verfasser mich reizte, wieder etwas von ihm zu lesen. Die Lektüre nach ungefähr 15 Jahren packte mich. Ich konnte mich nur vage an den Inhalt erinnern, jetzt berührte mich das Buch.

Der Roman beginnt in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts und endet in den 90ern.

In sieben Kapiteln erzählt Mario Vargas Llosa die Geschichte des Peruaners Ricardo Somocurcio und seiner Beziehung zu einer Frau, die er in seiner Schulzeit kennengelernt hatte, in die er sich sehnsüchtig-unsterblich verliebte und der er immer wieder in seinem Leben begegnet.

Die sieben Kapitel könnten auch sieben verschiedene Erzählungen sein, die vom gleichen Ich erzählt werden. Denn jedes Kapitel spielt sich in verschiedenen Weltgegenden und Städten ab. Neben Lima und Paris als längeren Wohnorten bilden noch viele andere Städte den Rahmen, weil der Erzähler als Übersetzer viel herumkommt. Und jedes hat eine andere Zeitepoche der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Hintergrund: die Freiheitsbewegungen in Peru und anderswo, das sozialistische Kuba, die Hippiebewegung, das nachkolonialistische Afrika u.a.m.

Obendrein bestimmen in jedem Kapitel andere Personen die Szene. Und in jedem Kapitel ist die geliebte Frau, „das böse Mädchen“, eine „andere“ – anderer Name, anderer Wohnsitz, andere Lebensumstände. Durchgehend gleich ist der Ich-Erzähler.

Die Liebe zu seinem geliebten „bösen Mädchen“ und die Geschichte dieser Liebe ist die Klammer, die die unterschiedlichen Geschichten zusammenhält.

Und diese Liebesgeschichte fesselt, wie die Beziehung selbst die beiden aneinander fesselt – betörend sinnlich und erotisch, unglücklich, verzweifelt, hoffnungsvoll perspektivlos, im Augenblick erfüllend und erfüllt. Am Schluss gehen die Liebe und der Roman trostlos getröstet zu Ende.

Irritiert und fasziniert hat mich die „Heldin“ des Romans, die Frau, fast immer nur als „das böse Mädchen“ angesprochen. Erst am Ende bekommt sie ihren „wahren“ Namen, eine Herkunft und eine Familie. Sonst hat sie nur Rollennamen: die Chilenin Lily, Mme. Arnoux usw. Der Zugang, sie zu verstehen, erschließt sich nur ganz langsam, psychologisch und soziologisch durchaus stimmig. Da ist sie nicht mehr „das böse Mädchen“ – so ekelhaft und gemein sie sein kann –, sondern eine Frau, geboren mit Nöten und Wünschen. Es wird erzählt von ihren Versuchen, diese Wünsche wirklich werden zu lassen, von ihren Überlebensstrategien, ihren Zwischenerfolgen, ihrem Scheitern, ihrem Tod.

Der Roman kann mit jeder griechischen Tragödie mithalten. Ganz großes Drama!

Das Drama dieser Frau und ihres Dolmetschergeliebten kommt fast wie ein zeitloses Märchen daher, vollzieht sich aber in der realen Welt des 20. Jahrhunderts; spiegelt die Spannungen und Kämpfe wider zwischen Freiheit und Unterwerfung, Individuum und Gemeinschaft, Frieden und Gewalt, Kolonialismus und Freiheit, Kapitalismus und Sozialismus, Armut und Reichtum …

Der Roman hat mich gefesselt. Er ließ mich spüren und ins Gefühl bekommen, was der Verstand wohl weiß: wie jeder Mensch verwoben ist mit seiner Geschichte, den Ereignissen und Moden unserer Welt, wie eine Beziehung immer besser auf dem möglichst breit erfassten Hintergrund zu verstehen ist. Ich bekam ein Gespür dafür, wie Empathie gelingen kann, auch wenn alles sich dagegen wehrt.

Der Roman ist eine gute Übung darin, in Zusammenhängen, systemisch zu denken.

Bruno Gittinger

Mario Vargas Llosa: Das böse Mädchen (Suhrkamp)
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