Ein Kommentar zu: Christfried Tögel: Freud wider Gott – oder Die Stimme des Intellekts ist leise …

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Ist es vorstellbar, dass ein Referent im 21. Jahrhundert während seiner Ausführungen in einer Katholischen Akademie über „Die Bedeutung der Religion im Leben von Sigmund Freud“ das Gefühl bekommt, er „könne (einen) Leibwächter gebrauchen“?

Dabei hat der Referent Freuds Sarkasmus, dass man die Freiheitsstatue im Hafen von New York durch die eines Affen, der die Bibel hochhält, ersetzen könne (Brief an Ferenczi vom 27.8.25), vollkommen unerwähnt gelassen.

Den Stein des Anstoßes warf Chris Tögel mit seiner Darstellung, dass für den Begründer der Psychoanalyse Religion nicht ein Produkt von Erfahrung oder Resultat eines Denkprozesses ist, sondern die „Erfüllungen der ältesten, dringendsten Wünsche der Menschheit“. Das Geheimnis der Religion stecke in der Stärke infantiler Wünsche. Infolgedessen hält Freud religiöse Lehren für „Illusionen“.

Religion entspringt nach Freud mehreren Quellen: einer infantilen Vater-Sehnsucht, dem Bedürfnis vor den Gefahren des Lebens geschützt zu werden sowie dem Wunsch nach Gerechtigkeit in einer ungerechten Gesellschaft und letztlich dem Wunsch, die irdisch-endliche Existenz zu überwinden. 1907 erschien ein Artikel, in dem er sich erstmals öffentlich über die Religion äußert. Er beschreibt sie darin als „universelle Zwangsneurose“. Spätestens damit ist klar: Freud selbst lehnt Religion als Weltanschauung ab. Sie ist ein System von Lehren, mit der Vertreter religiöser Organisationen als Substitut eines „Vater-Gottes“ die unreifen, d. h. infantilen Wünsche der Massen zu lenken versuchen. Zugespitzt formuliert, ist das der ‚Kulturbeitrag‘ der Rollenträger religiöser Organisationen. Der Mensch wird nach Freud erst dann reif, wenn er sich der Realität stellt und sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt. Dies aber bedeutet Verzicht auf einen Glauben an einen „überhöhten Vater-Gott“.

Tögel verfolgt im vorliegenden Büchlein die Entwicklung von Freuds Atheismus, beginnend mit seinen ironischen Bemerkungen zur Religion aus seiner Schul- und Jugendzeit bis zur Fundamentalkritik in der „Zukunft einer Illusion“ von 1927 und seinem Alterswerk „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ aus dem Jahre 1939. Freuds Verständnis vom Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft führte zu seiner Überzeugung, dass man „konsequenter Weise […] alle irgendwie Gläubigen vom Besuch einer Universität ausschließen [müsste], wenn sie nicht gerade Theologie studieren wollen“.

In einem „Epilog“ setzt Tögel Freuds Aussagen zur Religionskritik in einen Bezug zum Attentat auf die französische Zeitschrift Charlie Hebdo, die Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlicht hatte und wenig später von einem Al-Quaida-Kommando überfallen wurde. Bei dem Attentat wurden 12 Menschen getötet. Unter ihnen die Psychoanalytikerin Elsa Cayat, als einzige Frau. Zwar sollen die islamistischen Attentäter laut Zeugenaussagen gerufen haben: „Wir erschießen keine Frauen!“ Aber eine Freundin der Getöteten vermutete in einem Interview, Elsa Cayat musste trotzdem sterben, weil sie Jüdin war.

Tögel kommt zu dem Schluss, dass „Freud wusste, dass im Namen aller großen Religionen Kriege geführt und Verbrechen begangen wurden. Er hätte es aber wohl nicht für möglich gehalten, dass im Namen einer Religion das World Trade Center vernichtet, die Führungsmannschaft einer Satirezeitschrift ermordet und ein französischer Mittelschullehrer enthauptet werden würde. Wäre Freud Zeuge dieser Entwicklung geworden, hätte er mit noch größerem Nachdruck die Verbannung jeglicher Religion aus dem öffentlichen Leben gefordert“.

Dem ist hinzuzufügen: In einem Land, in dem in öffentlichen Räumen Kreuze angebracht werden, ist es kaum vorstellbar, dass Freud nur den geringsten Erfolg haben würde. Friedrich Schiller schrieb, es sei der Geist, der sich den Körper baue (Wallenstein). Man könnte ihn paraphrasieren und feststellen, dass alle religiösen Konzepte sich die zu ihnen passenden institutionellen Rahmen schaffen. Und diese mit jenen Gesetzen ausstatten, die als Hilfskrücken der Anpassung fungieren, aber nie „Freund der Schwachen“ sein können (gegen Schiller, Braut von Messina). Schließlich sind es die Dogmen, Regeln und Gesetze derer, die die Macht haben.

Gerhard Wittenberger

Religion und Institutionskritik bei Freud
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