Psychosozial-Verlag Gießen 2024

262 Seiten, ISBN Print: 978-3-8379-3281-2, 32,90 EUR

Hintergrund

Gemessen am Kreis der Berater:innen, die sich auf die angewandte Psychoanalyse berufen, nehmen systemische und kognitionspsychologische Methoden und Konzepte auf dem Beratungsmarkt quantitativ eine Vorrangstellung ein. Psychodynamische Beratungsmethoden finden sich in Vielfalt und Komplexität als (Groß-) Gruppensupervision, Team- und Organisationsentwicklung oder Führungskräftecoaching.

In dem vorliegenden Reader stellen 11 Autor:innen unterschiedliche thematische Bezüge zur systemisch-psychodynamischen Tradition des Tavistock-Modells vor. Dessen Entstehung und Geburtsstunde datiert in die 1920er Jahre. Die Arbeit mit Gruppen und das Group-Relations-Konzept werden als Wurzel der dem systemisch-psychodynamischen Konzept sich verpflichtet sehenden Autor:innen genannt. Namentlich unter Bezug auf W. Bion und zusätzlich S.H. Foulkes und K. Lewin. Alle drei haben den Menschen immer als in vernetzten Bezügen eingebunden gesehen und beschrieben. Die Autor:innen wollen mit dem vorliegenden Buch die Aktualität und Nützlichkeit des Konzeptes für verschiedene Bereiche der Wirtschaft, des Bildungssektors und der psychosozialen Arbeit herausstellen.
Der Reader liefert Elaborate zu zentralen Konzeptelementen des psychodynamischen Ansatzes, wie die Idee des assoziativen Unbewussten, die Projektive Identifikation, die psychosoziale Angstabwehr, das Containment oder die „Organisation-in-the-mind“ – die „Organisation-im-Kopf“. Eine vergleichbare Übersicht gab es im deutschsprachigen Raum bislang nicht, international erst seit Kurzem (Sher & Lawlor 2021, 2023). Erstmals also in Deutschland werden hier die zugrunde liegenden Theorien und Konzepte systematisch und zusammenhängend dargestellt. Dazu der Umschlagtext: „Die systemisch-psychodynamische Organisationsberatung bietet hochrelevante Konzepte und Anwendungen für die heutige Arbeitswelt. Der hier vorgestellte Ansatz integriert systemische, psychodynamische und gruppenanalytische Perspektiven und fokussiert auf unbewusstes Gruppengeschehen.“

Herausgeber:innen:

Martin Lüdemann, Dr., Organisationspsychologe und seit Jahrzehnten als Psychologe und Supervisor tätig. Er arbeitet mit Gruppen und Einzelpersonen hauptsächlich in Organisationen der Wirtschaft sowie im Non-Profit Bereich, er verfügt über Weiterbildungen in Supervision, Coaching, Gruppenanalyse, systemische Beratung u.a.; Markus G. Feil, Dr., ist Psychologe, Sexualwissenschaftler, Psychoanalytiker. Er absolvierte Ausbildungen zum systemisch-psychodynamischen Business-Coach und psychodynamischen Organisationsberater. Arbeitsschwerpunkte sind Forensik und der Aufbau einer psychotherapeutischen Fachambulanz für Gewalt- und Sexualstraftäter; Celina Rodriguez Drescher, Dr., ist Diplompsychologin und Romanistin M.A., hat einen Master in Organisationsberatung (Univ. East London und Tavistock Institute), ist Business Coach und systemisch-psychodynamische Beraterin. Sie berät, supervidiert und coacht im Profit- wie im Non-Profit Bereich.

Zu den Herausgeber:innen und den weiteren Autor:innen finden sich im Buch ausführliche biografische Notizen.

Geleitworte schreiben namhafte Vertreter:innen psychoanalytisch basierter Beratung: Bugge, Khaleelee, Möller, Obholzer. Nach einer Einführung der drei Herausgeber:innen folgen zehn Kapitel, die übersichtlich strukturiert und fast durchweg mit ausführlich beschriebenen Fallvignetten aus der Beratungspraxis des jeweiligen Autors, der jeweiligen Autorin, angereichert sind.

Im ersten Kapitel, „Die Wurzeln und die Entwicklung des systemisch-psychodynamischen Ansatzes“ entfaltet Martin Lüdemann auf der Grundlage seiner subjektiven Erfahrungen und eigener Tavistock-Learning Experiences Essentielles zur Entstehungshistorie des Ansatzes. Es erfolgt eine Annäherung an eine Definition der systemisch-psychodynamischen Beratung, wobei ein historischer Forschungsanspruch hier nicht erhoben werde. Von der ursprünglich starken Betonung der Interdisziplinarität schlägt sich ein Bogen zum Vorhandensein einer „Vielfalt“ von Tavistock-Ansätzen im Heute. Lüdemann konzentriert sich dann auf die Anwendung psychodynamischer Beratung, auf Supervision, Coaching und Organisationsberatung. Sowohl Foulkes Konzept der Gruppenmatrix wie auch Lewins Feldtheorie werden ausführlicher erläutert. Zum Prozess einer „permanenten Übertragung“ in menschlichen Beziehungen im Hier und Jetzt werden innere Objektbeziehungen (M. Klein) sozusagen nach außen gebracht. Dies ist zu verstehen aus „der inneren Attribuierung eigener innerer Objekte“, was wiederum zu „Attribuierung und Verzerrung“ im Aktuellen führt (H. Lohmer, 2015). Zu diesem Prozess gesellen sich u.a. Abwehrmechanismen wie Spaltung und Projektive Identifikation.

Der Tavistock-Ansatz wird im Vergleich zu neueren Systemtheorien als „einfaches Prozessmodell“ ausformuliert, das den Blick des Beraters über die Gruppe hinaus auf das System lenkt. Lüdemann beschreibt das Systemdenken des Tavistock-Ansatzes, wie es sich auf Austauschprozesse in der Organisation bezieht. „Systemisch“ bezieht sich demgemäß also nicht nur auf das Denken nach den neueren Systemtheorien, sondern auf den gesamten Organismus, also auf das System als Ganzes. Der Autor: „Es ist die Verbindung der Gefühle der beteiligten Personen mit der Organisation und den Aufgaben und die Wirkung der unbewussten Kräfte, die den systemisch-psychodynamischen Ansatz ausmachen.“

In „Beratung aus systemisch-psychodynamischer Perspektive“ stellt Celina Rodriguez-Drescher deren charakteristische Schlüsselkonzepte vor. Sie nennt und beschreibt die spezifischen Kompetenzen der Beratungsperson und die Phasen des Beratungsprozesses. Es folgen Ausführungen zu psychoanalytischen Termini, die im Unbewussten wirksam werden, wie Übertragung, Gegenübertragung, Projektive Identifikation. Eine Fallvignette enthält die Beschreibung von Übertragungen, die entsprechende Gegenübertragungsanalyse und die Beschreibung von projektiver Identifikation sowie ihrer Wirkphänomene. Eingegangen wird auf Konzepte wie Containment und Abwehrmechanismen.

Das Thema „Organisations-Rollenanalyse“ leitet Ullrich Beumer von deren Entwicklungs-Historie und den Theoriebildungen der Tavistock-Tradition seit den 50er Jahren her. Er bezieht sich dann auf das „Managing-oneself-in-role“ von Gordon Lawrence 1998. Der Begriff der Rolle wird als Schnittstelle von Person und Organisation und unter dem Aspekt psychosozialer Dynamik in Organisationen ausformuliert. Ausführlich geht Beumer auf die praktische Anwendung und damit auch den Nutzen der Rollenanalyse für Person und Organisation ein: Rollogramm, Anlässe, Anwendungsformen werden vorgestellt.

„Führung aus systemisch-psychodynamischer Perspektive“ – Markus G. Feil führt deren Grundzüge, die auf Führung entsprechend bezogene Haltung, das Konzept und Aspekte zum praktischen Handeln aus. In einem „theoretisierten Erfahrungsbericht“ liefert er Einblicke zur Bedeutung von Emotionen und Abwehrmechanismen, den Stellenwert psychischer Konflikte. Führungshandeln besteht in erster Linie aus Containment, das Container-Contained-Modell (Bion) wird ausführlicher beschrieben. Die Aufgabe von Führung ist dabei, die Voraussetzungen für Containing in der Organisation bereit zu stellen.

„Die Gruppe als Ganzes“ ist das Thema von Martin Ringer. „Neulich in einer Organisation“, so leitet er eine Anekdote aus seiner Beratungspraxis ein, anhand derer veranschaulicht wird, dass in Gruppen und Teams Situationen aufkommen, in denen deutlich wird, dass es etwas wie ein über „mich“ als Einzelperson Hinausgehendes gibt. Ausgeführt werden die Aspekte des zum Begriff Gruppe als Ganzes hinzugehörigen Blickwinkel oder: Was eine Gruppe ausmacht. Gruppen leben demnach in ihrer eigenen Realität und leben positive Elemente der Gruppe, was für das Phänomen Gruppe als Ganzes empirisch belegt sei, hierzu werden entsprechende Quellen geliefert. Auf den Zusammenhang des Wirkens unbewusster Prozesse, die typischen Verhaltensmustern in Gruppen zugrunde liegen, geht Ringer näher ein.

Zum „Sozialen Unbewussten“ erläutert Susan Long Grundlegendes zum Thema und weist insbesondere auf zwei Denkströmungen zum Sozialen im Unbewussten hin: Die des Vorhandenseins und der Zwänge sozialer, kommunikativer und kultureller Arrangements gegenüber der traditionellen psychoanalytischen Vorstellung des Unbewussten als der Ebene des einzelnen Subjekts. Im Beitrag geht es um das assoziative Unbewusste sowie die Bedeutung des Sozialen Unbewussten für das menschliche Handeln.

„Praxeologie gruppenanalytischer Großgruppen in Organisationen“ – Für Rudolf Heltzel ist es der Leitungsstil, der für den Charakter und den Verlauf der Großgruppe maßgeblich ist. Dies in Unterscheidung zur analytischen Großgruppe Foulkes`cher Prägung und auch zu Großgruppen, wie es sie als Bestandteil von Group-Relation-Konferenzen nach Tavistock gibt. Gemeint sind eher Großgruppensupervisionen in Organisationen, bei denen es interessant ist, auf welche Art und Weise die Leitung zur freien Gruppenkommunikation beitragen kann. Den Ausführungen dazu, dass begrenztes Chaos durchaus von Nutzen sein kann, schließt sich eine entsprechende Fallvignette aus einer Großgruppensupervision an. In Bezug darauf und weiterer konzeptioneller Ausführungen, beispielsweise zu W. Bion, beantwortet Heltzel die Frage, ob Gruppenanalyse Organisationsberatung kann, mit seinem klaren „Ja“.

In der Organisationsberatung ist nach Christopher Scanlon eine Unterscheidung zwischen systemisch-psychodynamischer und gruppenanalytischer Tradition nicht sinnvoll möglich. Ausgehend von der gruppenanalytischen Grundannahme, dass „alle sozialen Konfigurationen – einschließlich der Organisation der Arbeitswelt – von soziopolitischen Systemen durchdrungen sind“, schreibt er von „traumatisierten Organisationen“: Die „traumatised-organisation-in-the-mind“ bietet und erfordert „Räume für schwierige Dialoge“. Das Kapitel beschreibt die Art und Weise reflektierender Praxis, wie Sicherheit, die Fähigkeit zur Reflexion und kollektive Widerstandsfähigkeiten vor allem in forensischen Organisationen errungen werden können.

„Geburt und Trauer, Blut und Tränen“ – unter dieser Überschrift geht Vega Zagler Roberts den emotionalen Auswirkungen organisatorischen Wandels nach. Anhand einer Fallbeschreibung führt sie aus, wie Veränderungen als Bedrohung der Identität einer Organisation Trauer, Verachtung und Widerstand gegen diese hervorrufen. Tiefgreifende Veränderungen können starke Verlustgefühle hervorrufen, die sich auf Aspekte wie Sicherheit und Kontrolle beziehen. Aus der Ambivalenz gegenüber dem verlorenen Objekt entstehen psychische Wunden, die wiederum über die Re-Aktivierung der depressiven Position (M. Klein) innere Konflikte evozieren können. Schließlich wird das (neue) Objekt, also das, was durch Veränderung entstanden ist, (libidinös) angenommen.

In einem sozialen Raum mit Träumen zu arbeiten, zielt darauf ab, gewohnte Denkmuster zu durchbrechen, Einfallsreichtum zu fördern und ansonsten schwer zugängliche Informationen zu befördern. Moritz Senarclens de Grancy und Nicola Wreford-Howard stellen das psychodynamische Konzept des „Social Dreaming in der Organisationsentwicklung“ vor. Der Fokus liegt dabei auf den Träumen selbst, was der Auseinandersetzung mit dem Unbewussten dient. Zurückgehend auf G. Lawrence Begriff der „Sozialen Traummatrix“ geht es darum, dass sich eine Form des kollegialen systemischen Denkens entwickelt, die ohne Vorannahmen, Interpretationen und Ziele auskommt.

Für Berater:innen, Supervisor:innen, Organisationsberater:innen liefern die Texte vielfältige, mehrperspektivische, hochinteressante Einblicke und Kenntnis-Vertiefungen. Dies in Bezug auf Entstehungsgeschichte, aber auch die Aktualität des systemisch-psychodynamischen Ansatzes. Neben den sehr gut ausgearbeiteten Themen liefern die vielen Praxisbeispiele vertiefende Einsichten. Ein roter Faden: Das Übertragungs- und Gegenübertragungskonzept z.B. im Kontext kollektiver Abwehrmechanismen, des Aufnehmens und Erkennens von Widerstandsphänomenen oder Projektiver Identifikation.

Der Großteil der Literaturangaben stammt naturgemäß aus dem englischsprachigen Raum.

Zur Diskussion darüber, „ob Gruppenanalyse Organisationsberatung kann“ hat bereits Wolfgang Dinger 2012 wertvolle Diskussionsbeiträge geliefert. Dies, indem er die Auseinandersetzung führt, dass sich Gruppenanalyse als Verfahren „lernfähig“ zeigt und „in der Lage ist, sich zu institutionellen Realitäten zu verhalten.“

Das Erscheinen des Buches lässt auch den Schluss zu, dass sich im Feld von Beratung und Berater:innen-Qualifikationen das Konzept der systemisch-psychodynamischen Beratung offensichtlich wachsender Beliebtheit erfreut.

Qualifizierte Beratung jenseits von Tools und schnellen Lösungsversprechen ruft nach Theorie. Für den Rezensenten sind Konzept- und Theoriebezüge unabdingbar und wertvoll für beraterisches Tun wie Supervision, Coaching, Arbeit mit Gruppen, ja, auch Balintgruppenarbeit. Aus der distanzierten Perspektive des „Nicht-Tavistockers“, der eine objektive Betrachtung dieses Buches subjektiv versucht hat, möchte ich angesichts der Lesefreundlichkeit, des inhaltlichen Gehalts und der „Mitnehmbarkeit“ in die eigene Beratungs- und Supervisionspraxis eine klare Lese-Empfehlung geben.

Uwe Kowalzik, Supervisor & Coach (DGSv), Balintgruppenleiter, Organisationsberater, Fortbildner, Freiburg im Breisgau, Oktober 2024.

Systemisch-psychodynamische Organisationsberatung – Konzepte und Anwendungen
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