„Indem wir unsere Schmerzen und Ängste benennen, zähmen wir sie und wagen uns in ihre Nähe.

Das Unvermeidliche bleibt unvermeidlich, aber dank der Versprachlichung, dank des Aussprechens können wir Bitterkeit und Trauer zulassen.

Und Trauer, die kann ja auch hell sein, sie kann auf etwas verweisen, zum Beispiel darauf, dass nicht alles so schlecht ist … und dass es für alles eine Rechtfertigung oder doch zumindest eine Erklärung gibt.“

Serhij Zhadan, aus dem Ukrainischen *

Als ich die Anfrage zu diesem Artikel bekomme – Ende März –, bin ich sehr mit meiner eigenen Betroffenheit beschäftigt. Täglich kommen Hunderte Ukrainer:innen allein in unsere Stadt auf der Flucht vor Gewalt und Zerstörung. Das berührt, ängstigt, macht hilflos – auch wenn wir unterstützen, so gut es geht.

Wenn dieser Artikel erscheint, mag sich die Situation schon geändert haben. Nichts ist sicher.

Ich denke an meine Supervisionen und stelle fest:

Ja, der Krieg spielt eine Rolle in den Sitzungen …,

– aber doch noch viel mehr oder mindestens genauso ist das Corona-Virus mit seinen Auswirkungen auf die – meist soziale – Arbeit Thema.

Beiden Themen gemeinsam sind die Hilflosigkeit und die Ängste bei den Supervisand:innen und bei mir. Oft beende ich eine Sitzung mit dem Gefühl, nicht hilfreich gewesen zu sein. Und doch weiß ich oft nicht, wie ich es hätte besser machen können.

Ein Blick in eine Gruppensupervision mit Leitungskräften …

Ich wähle diese Sitzung, weil sie Erfahrungen widerspiegelt, die ich so ähnlich auch in anderen Gruppen und Settings mache:

Erste Runde: Ich rechne damit, dass das Thema Krieg auftauchen wird.

Der wird zunächst kurz erwähnt, dann geht es um die Belastung durch Corona.

Ich habe u.a. zwei erschöpfte Leiterinnen vor mir sitzen. Sie mussten ihre Mitarbeiter:innen, die ein positives Testergebnis und gleichzeitig wenig Symptome hatten, auf Grund von Sondergenehmigungen an den Arbeitsplatz zurückholen. Niemand sonst ist da, der die Arbeit tun könnte. Erkrankte Menschen mit Behinderung werden 14 Tage in ihren Zimmern isoliert. Die Leiterinnen selbst arbeiten mit im Schichtdienst, um das Nötigste abzudecken. Mitarbeiter:innen die gesund sind, leisten Überstunde um Überstunde, arbeiten Wochenende für Wochenende und sind am Ende ihrer Kräfte.

Ich sitze, höre zu, fühle mich hilflos, bin identifiziert und denke gleichzeitig an all die durchgestrichenen Termine in meinem Kalender, die wegen Corona ausgefallen sind. Irgendwann versuche ich den Dreh zur Fallarbeit zu bekommen.

Und dann kommt er doch: der Krieg.

Ein Leiter berichtet, dass er mit einer von ihm sehr geschätzten russischstämmigen Mitarbeiterin aneinandergeraten ist, weil diese die westliche Presse als Fake-Presse bezeichnet und die Bilder aus den bombardierten Städten für Fälschungen hält.

Es gelingt der Gruppe zunächst gut, an der Szene zu bleiben, sich mit beiden zu identifizieren, die Rollen zu beleuchten. Der Fallvorsteller wird ruhiger, bekommt Handlungsideen.

… und dann zerfleddert mir der Fall. Ehe ich ihn bündeln und beenden kann, teilen alle Teilnehmer:innen mit großer Betroffenheit ihre Sorgen und Ängste bezogen auf den Krieg. Es geht um die tiefe Angst, selbst irgendwann von Flucht, Waffendienst, Hunger betroffen zu sein, um Schlaflosigkeit angesichts der Bilder, um den Verlust von Sicherheitsgefühl, um Sorge um Kinder und Enkel:innen. Tränen fließen, werden wieder weggewischt, fließen erneut. Zweifel an der eigenen pazifistischen Einstellung werden benannt, rütteln an der Identität.

Ich höre zu, entscheide mich, nicht auf der Struktur zu beharren. Statt drei werden wir heute nur zwei Fälle besprechen können. Ich denke an meine Kindheit im kalten Krieg …, freue mich, wie die Gruppenteilnehmer:innen sich aufeinander beziehen … und versuche zu halten, was doch kaum zu halten ist. So groß sind die Verzweiflung und die Angst in der Runde.

Gerade, als ich nach einem passenden Moment für eine überleitende Intervention suche, kommt der ursprüngliche Fallvorsteller wieder auf den Fall zurück. Er betont noch mal, dass sich seine Affekte beruhigt haben und dass ihm vor allem der „Austausch“ gutgetan habe.

Pause

Es folgt noch ein Fall, bei dem sich wieder viel um Corona dreht. Die Stimmung ist unterschwellig traurig, die Teilnehmer:innen sind der Fallvorstellerin zugewandt. Eine gute Besprechung …

Ich bin am Ende der Sitzung erschöpft, traurig, fühle mich unzureichend und bin doch auch zu-„frieden“ zugleich.

Was gelungen ist in dieser Sitzung: Es ist Kontakt entstanden, die Angst und Hilflosigkeit sind ein bisschen handhabbarer geworden durch das Benennen.

Nicht viel mehr ist geschehen, aber auch nicht weniger.

„Indem wir unsere Schmerzen und Ängste benennen, zähmen wir sie und wagen uns in ihre Nähe“. (s.o.)

Dies begleiten zu können, kennzeichnet Supervisionen in dieser Zeit in besonderer Weise. Dafür Raum und Zeit zur Verfügung stellen zu können, ist für mich bei aller Hilflosigkeit eine sehr lohnende und manchmal sogar sehr schöne Aufgabe.

*Aus: Zhadan, Serhij (2020): Antenne, Gedichte (Seite 12). Berlin: Suhrkamp

Mechthild von Prondzinski

Supervisorin (DGSv) und Balintgruppenleiterin (FiS) in eigener Praxis Münster — www.mvp-supervision-muenster.de

Der Krieg, die Angst und das Sich-äußern