1. Vorbemerkung

Es besteht unter Supervisorinnen in weiten Teilen Übereinstimmung, dass Team-und Gruppensupervision nicht nur als angewandte Gruppenanalyse zu verstehen ist, so wenig wie Gruppenanalyse nur aus auf Gruppen angewandter Psychoanalyse besteht.

Supervision benötigt vielmehr Kenntnisse aus den angrenzenden Fachdisziplinen. (ähnlich Lippmann 2007) Bsp seitens der Gruppendynamik, zu deren Methoden ein zielgerichtetes, strukturiertes Feedback oder konkrete phänomenologische Rückmeldungen gehören. Oder aus der Pädagogik, die uns anregt, darüber nachzudenken, wie wir lernen und wie wir soziales Wissen vermitteln. Aus der Psychologie, die uns mit der Schwierigkeit konfrontiert, wie psychische, wünschenswerte Veränderungen eigentlich unterstützt werden können. Wir brauchen darüber hinaus die Neurowissenschaften, um uns zu vergewissern, welche unserer psychologischen und supervisorischen Konzeptionen durch hirnphysiologische Forschung abgesichert sind und welche eher nicht. Und: Wir brauchen aus der Perspektive des Verfassers die Psychoanalyse, liefert sie doch mit ihrem innerseelischen Konfliktmodell die zentrale Grundlage für das Verständnis des psychischen Funktionierens von Einzelnen und von Gruppen.

Aus der Soziologie schließlich werden in der Supervisionsszene nach meinem Eindruck vor allem zwei Richtungen interessiert aufgenommen: Der Diskurs von Habermas zum kommunikativ-rationalen Handeln (2011) bzw. zum Öffentlichen Raum (jetzt neu 2022); und die Systemtheorie von Luhmann (bsp 2005). Ich möchte diese Ansätze hier gerne um die soziologisch-empirische Forschung von Randall Collins ergänzen; seine „Mikrosoziologie“, die eigentlich Mikropsychologie ist, bereichert, wie ich zeigen möchte, das supervisorische Verständnis und bietet spannende Anknüpfungsmöglichkeiten an psychoanalytische Konzepte zur Gruppensupervision.

Ich beginne mit einer Skizze von Collins konflikttheoretischen Überlegungen.

2. Grundzüge der mikrosoziologischen Konflikttheorie von Collins

Den theoretischer Hintergrund bildet das Konzept der moralischen Solidarität bei Durkheim (1984), der kulturellen Werte bei Parsons (bsp 2009) und der Legitimität bei Weber (2015). Aus Collins sozialtheoretischer Perspektive haben Gesellschaften keine innere Kohäsionskraft; sie bestehen vielmehr aus ungleich machtvollen Gruppen und sind voll von Interessenskonflikten (Collins 1990).

Fangen wir mit Grundbegriffen von Collins an: Unser Leben besteht aus mikrosoziologischer Perspektive aus einer langen Reihe von Interaktionen. Interaktion heißt: Die gemeinsame Präsenz mehrerer Menschen, die zusammen einen Fokus haben – das kann eine Begegnung unter Freunden sein, eine berufliche Anordnung oder ein Streit in der Supervision. Für Collins sind das in der Regel Begegnungen mit physischer Präsenz, die offline stattfinden. Man sollte ergänzen, dass virtuelle Interaktion manchmal die Offenheit beim Schildern von Belastungen oder Traumata erleichtert (Rohr 2024).

Die für uns emotional relevante Interaktion ist wechselseitig koordiniert, d.h. wir beziehen uns aufeinander, meist automatisch, vielleicht auch bewusst; wir nehmen jeweils individuell eine wechselseitige Synchronisierung vor. Hier gibt es bereits Minikonflikte und deren Auflösung: Folgen wir der ruhigen Intonation des Gegenübers oder setzen wir mit unserer aufgedrehten oder hektischen Stimmung den szenischen Akzent? Geben wir dem Gegenüber inhaltlich Platz für sein Thema oder wollen wir vor allem über unser Anliegen sprechen? Wer häufig in der Kommunikation dominiert, zieht mehr positive Energie daraus. Je besser die wechselseitige Koordination gelingt, desto mehr entsteht eine gemeinsame und positiv aufgeladene Stimmung für die Beteiligten.Und es entsteht Intensität.

Diese Koordination kann inhaltlich sein. Wenn wir mit der Nachbarin über den Neueinzug in der zweiten Etage sprechen oder mit einem Bekannten über dieselbe Partei schimpfen oder dieselbe Urlaubsinsel gut finden, wird die Konversation am Laufen gehalten; sie gibt uns ein gutes Gefühl.

Noch häufiger ist die Koordination rhythmischnonverbal: eine zugewandte, freundliche Gestik, ein nonverbales Spiegeln, Gesprächspausen unter 0,5 sek (ab 1,5 Sek sprechen wir von peinlichem Schweigen); keine Konflikte ums Rederecht und eine Harmonisierung der Stimmfrequenzen – solche Interaktion erleben wir als angenehm; die Gesprächspartnerin wird als freundlicher Mensch erlebt, mit dem wir gerne Zeit verbringen.

Schon bei der Auswahl der Kommunikationspartnerin spielen Macht (Die Möglichkeit, eigene Ziele auch ohne Zustimmung, also auch gegen den Willen des Gegenübers durchsetzen zu können) und Status (freiwillig entgegengebrachte Sympathie und Wertschätzung) eine Rolle. Bei Menschen mit Macht lachen wir eher über schlechte Witze und hören wahrscheinlich interessiert zu, auch wenn es uns eigentlich langweilt; bei Kommunikation mit einem hohem Statusaspekt entwickeln alle Beteiligten positive Energie.

Der gemeinsame Fokus kann neben gemeinsamen Themen auch durch aktuell stattfindende Ereignisse gebildet werden: wir erleben ein Tor im Stadion oder feiern gemeinsam ein Popkonzert, sind Teilnehmer an einem Autounfall oder stellten im Urlaub zufällig fest, dass jemand aus der gleichen Gegend kommt wie wir selbst.

Beziehen wir diese Überlegungen in kurzen Zügen auf eine Organisation:

In einer Organisation wird Ressourcenverteilung durch die Wiederholung von Interaktionsprozessen unter einmal ausgehandelten Bedingungen gesichert. Kennzeichen einer Organisation sind bsp. unhinterfragte Routineprozesse, sich ordnungsgemäß wiederholende kommunikative Handlungen und gemeinsam geteilte Orientierungen.

Jede Organisation beinhaltet Macht: bestimmte Personen beeinflussen mit ihren Anweisungen das Verhalten anderer. Je höher der Machtanteil in der Interaktion, desto höher die emotionale Energie für die Vorgesetzten. Das mögliche Druckmittel der Mächtigen ist in der Regel der drohende Ausschluss aus der Organisation. Die Kette der Mikrorituale in einer Organisation entscheidet, ob Vorgesetzte im Laufe der Zeit an Einfluss gewinnen oder verlieren. Das intensive, gute Gefühl aus den meisten Interaktionen ist für diese oft identitätsstiftend: der Teil des Lebens, der ihnen am meisten das Gefühl gibt, eine Bedeutung zu haben (Eberhard 2005). Die Vorgesetzten identifizieren sich häufiger mit den Werten oder Symbolen ihrer Organisation, und der nachgeordneten Kollegin wird abverlangt, an bestimmten Stellen (meistens regelmäßige Sitzungen oder offizielle Außen-Termine) formale Zustimmung zu signalisieren. Die emotionale Energie verbraucht sich im Laufe der Zeit. Ohne erneute Interaktion mit den Mitarbeiterinnen der Organisation würde die Bedeutung der Organisation allmählich in den Hintergrund treten; ein Grund dafür, dass viele Teammeetings wöchentlich anberaumt werden. Die nachgeordnete Kollegenschaft hat meist ein ambivalenteres Gefühl zu den Werten der Organisation; sie ist deren Symbolen und Leitbildern oft entfremdet und macht sich vielleicht intern über die bunten Leitbild-Plakate und die Rhetorik der Chefs lustig. Hat ein Kollege kaum Raum sich zu distanzieren, entsteht der loyale Gefolgsmann, die dabei entstehenden Emotionen sind in der Regel gehemmt. (Collins 1990:134)

Im Zentrum der sozialen Interaktionen, sei sie organisatorisch-formal oder privat-informell, steht als dynamisches Element für Collins das Konzept der emotionalen Energie. Wenn es in einer Begegnung gut läuft, so Collins, entsteht eine affektiv getragene gemeinsame Stimmung. Was wir in einer Begegnung mit anderen Menschen suchen und – mal stärker, mal schwächer – finden, ist emotionale Intensität.

Collins benutzt für Interaktionen in Anlehnung an Durkheim den Begriff Ritual, da einige der Interaktionen – nämlich die, die uns am besten gefallen – eine kollektive Anhebung der emotionalen Energie auf ein höheres Niveau bewirken können, eine Art Energiespeicher für die Folge-Kommunikation. Dann gehen wir positiv aufgeladen in den weiteren Tag.

Wenn der Fokus der Aufmerksamkeit zunehmend besser abgestimmt ist, antizipieren die Teilnehmenden ihren gegenseitigen Rhythmus und werden von der Situationsdynamik mitgerissen. Im Verlauf einer würdevollen Beerdigung bsp. werden wir trauriger; bei einer guten Comedy-Veranstaltung immer ausgelassener; in einer rhythmisch abgestimmten Unterhaltung kommen wir in einen vertieften Gesprächs-Flow.

Intensive Emotionen, so macht Collins klar, sind die Antriebskraft und der gemeinsame Ausdruck dessen, was wir in Interaktionen anstreben. Wir versuchen Situationen so zu definieren und so zu gestalten, dass sie unsere emotionale Energie steigern.

Und: Wenn uns eine erfolgreiche emotionale Koordination gelingt, fühlen wir uns genau diesen Menschen und dieser Gruppe verbunden. Intensive Interaktion formt unsere Kognition. Entsprechend ändern sich unsere Wertvorstellungen auch nicht durch rationale Diskussionen. Die intensive Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Internalisierung von Wertvorstellungen sind der gleiche Prozess. So entsteht in der realen Welt auf lokaler Ebene – und für Collins nur dort – Solidarität. Wenn wir richtig begeistert an einer Gruppe teilnehmen, lassen wir uns von deren emotionaler Energie aufputschen und von den dort direkt oder indirekt vermittelten Werten beeinflussen und prägen. Wir bekommen ein Gefühl dafür, wer moralisch auf der guten Seite ist und wer falsch liegt. Nur ähnlich intensive Erfahrungen auf der „anderen“ Seite können unsere Einstellungen verändern.

Die intensive Zweisamkeit stellt eine stabile Loyalität her, die erst durch ähnlich intensive Enttäuschungen zerstört werden kann; das gemeinsame Singen im Rockkonzert kreiert Solidarität mit genau diesem Rockstar; das Gemeinschaftsgefühl mit Tausenden bei einer Demonstration stärkt unser inneres Bild von Gut und Böse und vom gemeinsamen Feind. So wird unser Denken durch unsere Interaktionsmuster geprägt. Wir verinnerlichen Wertvorstellungen da, wo wir emotionale positive Energie generieren. Wenn wir täglich mit denselben Menschen intensiv interagieren, entwickeln wir wenig Toleranz für andere Wertesysteme (Collins 1988).

3. Anregungen von Collins für eine gruppenanalytisch orientierte Supervision

Veranschaulichen wir uns zunächst eine erste wichtige Grundannahme des psychoanalytischen Verständnisses von Supervision, nämlich die konstitutionelle Konflikthaftigkeit des psychischen Geschehens. Wir reproduzieren und aktivieren Tag um Tag eine innere Gegenwelt, die die aktuell gewonnene Integration in die Realität nicht akzeptiert: das Unbewusste (Plänker 1995). Als Ergebnis der inneren Ambivalenz bilden wir in unserem Verhalten ständig Symptome heraus, die manchmal Krankheitswert nach ICD-11 haben, in jedem Fall aber einen Preis fordern, den wir somatisch, psychisch oder sozial zahlen. In der Supervision wollen wir das Verständnis für diese unsere blinden emotionalen Flecken im beruflichen Handeln, und für die Opfer, die wir dafür erbringen, verbessern (Eberhard 2023).

Wenn wir auf die Ansammlung von Einzelnen, also auf Gruppen, schauen, sehen wir eine komplexe Gesamtstruktur, die Gruppen-Matrix. Sie stellt sich, worauf Foulkes hinweist (Foulkes 1971/2015) schon vor dem physischen Zusammentreffen der Gruppe her. Aus der Supervision ist uns die Szene vertraut, dass schon vor Beginn der Sitzung Erwartungen, Wünsche und Befürchtungen der Beteiligten im Raum sind, die das Verhalten gleich beeinflussen werden. Die Supervisorin ist Teil der Matrix und versucht diese, die längst wirkt, zu erspüren. Wenn sie genügend Erfahrung – und Glück – hat, kann sie im Strudel des Gruppengeschehens den Kopf knapp „oberhalb des Wassers halten, um nach vorne zu schauen“. (Foulkes1948/1993:137). Die Gruppenmitglieder zeigen, so Foulkes, individuell in ihrem Verhalten in der Supervision das beste Funktionsniveau gegenüber ihren inneren Konflikten, das sie in ihrer bisherigen Geschichte entwickeln konnten (Foulkes 1948/1993:70).

Wir haben noch eine zweite Betrachtungsebene. In der Gruppe finden wir Konflikte nicht nur intraindividuell in jeder Teilnehmerin, sondern auch interpersonell. Die Gruppenmitglieder passen sich dabei einander an, was wir als gemeinsam hergestellte unbewusste Abwehrmechanismen (König 2008; Staats 2014) bezeichnen. Abwehrmechanismen bilden einen je spezifischen Kompromiss zwischen Kompetenz und Abwehr. Dies kann sich als gemeinsamer Glaubenssatz darstellen: „Die Chefetage tut sowieso nichts für uns.“ oder „Unser Team ist etwas Besonderes.“  oder „Wir versuchen uns die stressige Welt in unserer Abteilung gemeinsam angenehm zu gestalten.“ Oder als verbalisierter Konflikt, bsp. untereinander oder mit anderen Playern der Organisation.

Wir betrachten aus gruppenanalytischer Sicht dabei auch die nonverbale Ebene der gemeinsam hergestellten Abwehr. Hier liefert uns Collins aus der mikrosoziologischen Perspektive differenzierte Kategorien. Wie stellt sich der gemeinsame Fokus nonverbal-rhythmisch her? Wie intensiv ist gemeinsame Stimmung? Passen sich die Supervisandinnen mit ihrer Stimmlage aneinander an und gibt es Konflikte um das Rederecht? Hinter diesen normativen Anpassungsprozessen in der Gruppensupervision stehen Konflikte und Machtprozesse (an denen die Supervisorin mehr oder weniger beteiligt ist). Warum setzt sich ein bestimmtes Thema heute in der Supervision durch? In der Regel wird das jeweilige Thema von Kolleginnen vorgebracht, die Macht oder einen hohen Status innehaben. Ich habe mir angewöhnt, bei der Vorstellungsrunde nachzufragen, wie lange jemand schon im Team ist, um Hinweise auf seinen Status zu bekommen. Ich beobachte auch, wie der Einigungsprozess bei der Themenauswahl für die Sitzung abläuft; gab es Vor-Absprachen? Die Machtposition kann in verschiedenen Sitzungen wechseln, manchmal sogar innerhalb einer Sitzung. Wenn eine Teilnehmerin in einer Supervision emotional sehr berührt ist, bewirkt das eine gesteigerte Aufmerksamkeit bei den anderen – so baut sie Macht auf. Diejenigen in der Gruppe, die mehr Macht haben, präsentieren vielleicht am Anfang der Sitzung empört ein Problem, was besprochen werden soll. Da ist bsp. die Abteilungsleitung, die in einer Teamsupervision in der Regel mit dem eröffnet, was ihr nicht gefällt und was gut läuft. Und ich spüre, wie die Basis sich auf sie einschwingt – bis zu welchem Grad tut ihre Machtposition der Supervision gut? Gibt es Gedanken und Gefühle, deren Äußerung in der Supervision sie zu verhindern versucht? Menschen mit höherer Machtposition haben manchmal die Sorge, dass professionelle Standards verloren gehen; Unkenntnis oder Gefühle von Unsicherheit und Angst sollen dann möglichst nicht angesprochen werden. Ich versuche aber genau diese Verunsicherungen besprechbar zu machen, indem ich sie positiv hervorhebe und indem ich betone, dass wir hier offen miteinander kommunizieren können.

Was für die Gruppenanalyse kollektive Abwehr ist, nennt Collins Routinehandlungen – und die interessieren mich in der Supervision jetzt auf eine neue Weise. Ich frage bsp. nach, welche Handlungen, welche Aktionen im Arbeitsalltag als besonders wichtig erlebt werden. Tragen sie zur Stabilisierung bei, profitiert jemand besonders von einer Routinehandlung?

In den Betriebsleitungen, die ich supervidiere, sind die wichtigsten Handlungen oft die Gewährleistung des Tagesgeschäfts und die Interaktion mit dem Vorstand oder dem Träger – also Momente der Stabilisierung der Organisation. Chefärzte sagen meistens, dass „die Frühbesprechung und die Visite“ zentral seien. In der Pflege bin ich gespannt, ob hier bsp. die Beschäftigung mit dem Patientenklientel oder die Kommunikation mit dem Team als das Positivste genannt wird. Zu den Routinehandlungen in der Supervision trage ich selbst bei, indem ich mich am Anfang einer Supervision auf die letzte Sitzung beziehe, und auf deren Inhalte und Ergebnisse bezogen nachfrage. Damit versuche ich den Aufmerksamkeitsfokus auf Kontinuität und Entwicklung in der Supervision zu lenken, auch im Hinblick darauf, dass die Teilnehmerinnen ständig wechseln und vor der Supervision an unterschiedlichen Interaktionsprozessen teilgenommen haben.

Wer benennt Wertvorstellungen, und welche entstehen in den Supervisionen? Welche Werte werden in der Gruppe immer wieder betont, vielleicht sogar so weit, dass Verletzungen dieser Symbole mit negativen Affekten belegt werden? Das sind nach meiner Erfahrung oft die professionellen Standards. Im psychotherapeutischen Team einer Klinik wird die Wichtigkeit einer guten Diagnostik betont. Kolleginnen machen Witze über frühere Aufenthalte, in denen man nichts über die Differentialdiagnostik einer Patientin finden konnte. In einem JVA- Team wird der physische Schutz für jeden Einzelnen diskutiert und empört wird registriert, wie ein Inhaftierter Grenzen überschreitet, indem er einen Kollegen auf der Treppe anrempelt oder einer neuen Kollegin so stark die Hand drückt, dass sie aufschreit. Ich versuche aus der intensiven Interaktion die jeweiligen Kognitionen, die Werte zu erkennen und ggf. zu besprechen.

Die Werte-Diskussion hat in den letzten Jahren innerhalb des psychiatrischen Feldes an Bedeutung gewonnen (bsp Herwig et al 2023). Zunehmend wird die Wichtigkeit der inneren  Haltung der Professionals betont. Aus gruppenanalytischer Sicht sind unsere grundlegenden inneren Einstellungen schon lange vor der Teilnahme an „Haltungs-Workshops“ biographisch geprägt; verändern werden wir diese, so Collins, am ehesten durch Erfahrungen von positiver Intensität. Wenn es insbesondere darum geht, doch bitte „empathischer“ und „zugewandter“ aufzutreten, so wird dieses Ziel durch den oft normativen Charakter dieser gut gemeinten Seminare („Diese Einstellung dürfen Sie nicht haben…mit solch einer Haltung wären Sie in diesem Arbeitsfeld falsch…“) so manches Mal eher konterkariert.

Können Erfahrungen in der Supervision Werte verändern, bsp Toleranz fördern? Wenn zwei Kolleginnen wegen einer durchgeführten Maßnahme heftig aneinandergeraten, versuche ich gegenseitiges Verständnis herzustellen. Wenn es im Supervisionsteam zum Streit über ausländische Klientinnen kommt, möchte ich den verschiedenen Perspektiven und Affekten in der Matrix Raum geben und hebe positiv hervor, wenn die unterschiedlichen Sichtweisen konstruktiv ausgehalten werden.

Schaffen wir es auch in der Supervision, emotionale Energie, Intensität, aufzubauen? In der analytischen Sprache würden wir mit Intensität die Erfahrung beschreiben, für den Augenblick eine Versöhnung mit dem Verdrängten (Freud 1914) oder eine gelungene Begegnung zu schaffen, einen Now-Moment, (Stern 2018) in dem sich alles passend und gelungen anfühlt – in der Ahnung, dass dieser Moment auch wieder verloren gehen wird.

Aus analytischer Sicht bemühen wir uns in der Supervision um ein Gleichgewicht zwischen Abwesenheit und Präsenz. Je stärker die Supervisorin dem Wunsch des Supervisionsteams nach Lösungen für das Professional Doing nachgibt, um so weniger wird Neues in der Begegnung passieren, weil überall Sicherheiten und Haltenetze aufgespannt sind (Küchenhoff 2022).  Entzieht sie sich aber dieser Forderung zu stark, drohen Verlassenheitsgefühle – die Supervisorin wäre für das Team nicht mehr fühlbar und es wird schwerer, gemeinsame mentale Vorstellungen für das zu entwickeln, was gerade passiert. Die Präsenz der Supervisorin wird gesucht und ihr Containment (Bartsch 2012). Containment erhöht die Wahrscheinlichkeit für die Herausbildung lokaler Solidarität: Jede Einzelne durch die Gruppenmatrix stabilisieren und in ihrer Entwicklung unterstützen. Ein Blick auf die Gruppe, der über die unmittelbare Gruppe hinausgeht, der auch die Beziehung zur Betriebsleitung, anderen Abteilungen und zu Abwesenden umfasst. Wir weiten den Blick für die Gesamt-Gruppe, ist doch „individuelles Denken internalisierte Konversation“ (Vester 2010:184)

Supervision ist bei mir in den meisten Kontrakten lösungsorientiert (ähnlich Johnsson 2007) und deshalb vergleichsweise durchstrukturiert. In den Sitzungen, wo wir eine Supervision nur minimal strukturieren müssen, ist mehr Platz, Neues zu kommunizieren, was bisher nicht kommuniziert wurde. Hier gelingt es uns möglicherweise leichter, ohne Voreingenommenheit, ohne Festlegung auf die Erinnerung an die letzten Sitzungen, und ohne speziellen Wunsch dem zuzuhören, was neu gesagt und vermittelt wird (Küchenhoff 2016). Gerade in diesen Supervisionen kommt es vielleicht zur gemeinsamen, emotional aufgeladenen Interaktion nach Collins, für dessen Konzepte ich hier werben wollte.

Literatur:

  • Bartsch, Erdmute (2012). Containment in der Supervision. In: Dinger, W. (Hg). Gruppenanalytisch denken – Supervisorisch handeln. Kassel
  • Collins, R.(1988). Theoretical Sociology. Wadsworth Publishing Co Inc
  • Collins, R. (1990). Conflict Theory and the Advance of Macro-Historical Sociology in: Ritzer, G. (Hg). Frontiers of Social Theory.  New York
  • Collins, R. (2012/1975). Konflikttheorie. Heidelberg, Springer
  • Durkheim, E. (1984). Erziehung, Moral und Gesellschaft: Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903 suhrkamp taschenbuch wissenschaft Taschenbuch Frankfurt
  • Eberhard, H.J. (2005). Rollenübernahme und unbewusste Konflikte. Forum der Psychoanalyse 21.
  • Eberhard, H.J. (2012) Kompromissbildung und institutionelle Abwehr. In: Dinger, W. (Hg). Gruppenanalytisch denken – Supervisorisch handeln. Kassel
  • Eberhard, H.J. (2023). „Den Kopf oberhalb des Wassers halten“ -Supervisorische Erfahrungen mit der Konzeption von Foulkes. Zeitschrift für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamuk 2023/1:
  • Foulkes, S.H. (1948/1993). Introduction to group analytic psychotherapy. NewYork City
  • Foulkes, S.H. (1971/2015). Zugang zu unbewussten Prozessen in der Gruppe. in: Gruppenanalyse 1/2015:7-19
  • Freud, S. (1914). Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. textlog.de
  • Habermas, J. (2011). Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp Frankfurt
  • Habermas, J (2022). Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Suhrkamp Frankfurt
  • Herwig, G./Trost, A./Löhr, M. (2023). Pflegende im Maßregelvollzug. In: Völlm,B/Schiffer,B. Forensische Psychiatrie: 557-568. Springer Verlag Berlin
  • Johnsson, M. (2007). Die Orientierung an der Lösung. Supervision 2.2007, 51-52
  • König, K. (2008). Die Gruppenanalyse im Göttinger Modell. Vandenhoeck&Rupprecht Küchenhoff, J. (2016) Loslassen und Bewahren: Erfahrungen in Zwischenräumen.
  • Psyche – Z Psychoanal 70: 154–179
  • Küchenhoff, J. (2022) Erwartungshorizonte und Möglichkeitsräume in der psychoanalytischen Kur. Forum der Psychoanalyse 38 Open Access
  • Lippmann, Eric (2007). Alles Coaching…oder was? In: Forum Supervision 29: 26-39
  • Luhmann, N. (2005). Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft
  • Parsons, T. (2009). Das System moderner Gesellschaften. Juventa
  • Plänkers, T. (1995). Kann die Systemtheorie eine Metatheorie für psychoanalytische Theorie und Praxis sein? Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 10, 119-142
  • Rohr, E. (2024) mündliche Mitteilung
  • Staats, H. (2014) Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse. Vandenhoeck&Ruprecht
  • Stern, Dr. N. (2018). Der Gegenwartsmoment. Brandes&Apsel. Frankfurt
  • Vester, H.G. (2010). Kompendium der Soziologie III Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden
  • Weber, M. (2015/1904). Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. HerausgeberCreateSpace Independent Publishing Platform

Dr. phil. Hans-Joachim Eberhard

Ich bin Psychologischer Psychotherapeut und SupervisorDGSv, lebe und arbeite in eigenen Praxen in Gütersloh bzw. Dortmund. Psychoanalytische Ausbildung am Ostwestfalen-Institut Bielefeld im Jahr 2001 abgeschlossen. Gruppenanalytiker-Ausbildung am „Göttinger Institut“. Seit etwa 2008 Mitgliedschaft in der D3G (Gruppenlehranalytiker) Mit-Leitung des Psychoanalyse-Theorieworkshops mehrerer FiS-Supervisionsausbildungen der letzten Jahre. Bei der Personalberatungsfirma Rochus Mummert bin ich Senior Adviser. Tutor KVWL und KPQM-Trainer.

Zum Beitrag von Randall Collins für die Supervision