Zunächst:

Sigmund Freud ist nicht der oft so genannte Schöpfer des Begriffs vom Unbewussten. Dieser Begriff war im Zuge der Romantik des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts durchaus geläufig. (1) Freuds erster Abweichler von seinem Verständnis vom Unbewussten – C. G. Jung – hat diese romantische Linie ganz offensichtlich in seiner Lehre von den „Archetypen“ und vom „kollektiven Unbewussten“ fortgesetzt. Dieses sogenannte kollektive Unbewußte signalisiert bereits Jungs Affinität zur Religion. Freud dagegen bleibt letztlich der Aufklärung verpflichtet (2). Er entmystifiziert gezielt, was bis heute als Provokation erlebt wird. Er interessiert sich für die Abkömmlinge des Unbewussten, für deren Manifestationen im Bewusstsein. Diese Abkömmlinge bleiben als Fehlhandlungen und Versprecher, aber eben auch als krankhafte Symptome unerklärlich, wenn man sie nicht – vereinfacht ausgedrückt – als Folgen einer wirksamen Spannung zwischen dem scheinbar rational gesteuerten Bewusstsein und einem triebgesteuerten Unbewussten versteht. Außerdem will der Mensch manches, was in ihm und durch ihn real passiert, gar nicht wissen. Er sucht es so konsequent wie möglich zu vergessen, weil es ihm zu schmerzlich, zu peinlich, zu unpassend, zu unmoralisch erscheint. So müssen viele Erlebnisse ins Unbewusste abwandern. Für Freud wird daher die Vorstellung wichtig, dass ein Nichtwissen im Sinne des Vergessens mit einer strukturierenden Wirksamkeit auf Grund eines veränderten Zustands des Wissens verbunden sein kann. So postuliert er eine Tendenz zur Verdrängung, die er später Abwehr nennt, die dieses Wissen vom Zusammenhang mit dem Bewusstsein trennt (3). Dieses „dynamische Unbewusste“ kennzeichnet fortan die sog. Tiefenpsychologie und hebt sie von allen anderen Psychologien ab.

Und dann:

Der Mensch ist nicht nur ein „zoon politikon“, also ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Individuum, er ist nach Freud gerade deshalb ein Konfliktwesen. Generell bedeutet das: Es gibt keine menschliche Entwicklung – individuell wie kollektiv – deren Fortschreiten vom Kind zum Erwachsenen oder deren geschichtlicher Fortgang nicht durch kontinuierliche Konflikthaftigkeit und deren mehr oder weniger gelingende Bewältigung bestimmt wäre. Speziell für den psychoanalytischen Umgang mit menschlicher Befindlichkeit unterscheidet man dann auch nach äußeren und inneren, bewussten und unbewussten Konflikten und beschreibt sie im Einzelnen etwa so: Ein äußerer Konflikt ist z.B. derjenige zwischen dem Freiheitsbedürfnis eines Gefangenen und der äußeren Gewalt, die ihm die Freiheit entzieht. Ein innerer Konflikt besteht, wenn man sich z.B. nicht entscheiden kann, ob man seinem inneren Bedürfnis nach Ruhe nachgeben, oder ob man sich die für die Erreichung eines ehrgeizigen Zieles erforderliche Leistung abverlangen soll. Ein innerer unbewusster Konflikt schließlich ist vorhanden, wenn z.B. dem Wunsch nach sozialer/erotischer Anerkennung/Annäherung in einem sozialen Kontext/an einen Partner ein unbewusster Widerstand entgegensteht, weil z.B. die narzisstische Bedürftigkeit/der sexuelle Kontakt die Verletzung des Ich-Ideals/des Inzesttabus bedeuten würde (4). Auch wenn die Ubiquität menschlicher Konflikthaftigkeit immer wieder und von verschiedenen Seiten in Frage gestellt worden ist: Die Strukturierung menschlichen Verhaltens durch eine konflikthafte Psychodynamik ist und bleibt eine Basisannahme der Psychoanalyse.

Sowie:

Manche Märchen der Gebrüder Grimm beginnen mit dem Satz: „Zu der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat …“.

Sie verraten damit ein kindlich­menschliches Urbedürfnis. Demnach wäre es „fabelhaft“, sich die Welt nach eigenen Vorstellungen zurechtwünschen zu können. Solches Wunschdenken muss allerdings sehr bald einem Realprinzip weichen. Die Welt ist in aller Regel gerade nicht so, wie man sie gern haben möchte. So bleiben die Wünsche an eine Fantasiewelt gebunden, fristen ihr Dasein im Unbewussten. Deshalb sind sie aber nicht unwirksam. Nach Freuds Auffassung bestimmen sie das Fühlen, Denken und Handeln ebenso vital wie unbemerkt weiter. Unbewusste Fantasien stehen in verarbeiteter Form hinter den Träumen, den Spielen der Kinder, den Symptomen der normalen Neurotiker ebenso wie hinter den kranken Psychotikern. Aber auch hinter den Märchen, den Mythen, den Kunstwerken, den Religionen verbergen sich Wünsche und finden darin ihren Ausdruck. Zu ihrer mächtigsten und nachhaltigsten Wirkung aber kommt die „unbewusste Fantasie“ im Kontext des Ödipuskomplexes: Hier setzen sich die verborgenen, weil streng verbotenen Wünsche am eindrucksvollsten durch – freilich verdreht und verschoben, larviert und kultiviert, dennoch aber „irgendwie“ wirksam und handlungsbestimmend.

Die reale ödipale Auseinandersetzung in der Seele des männlichen Kindes spiele sich nach Freud im Alter zwischen drei und fünf Jahren ab. (5)  Diese Auseinandersetzung endet mit einem „Untergang“: Die triebhaften Wünsche des Kindes machen ihm Angst. Es fürchtet, mit der Entfernung des Penis bestraft zu werden, der diesen Trieb repräsentiert. Aus dieser „Kastrationsangst“ heraus entwickelt es ein psychisches Kontrollsystem, verinnerlicht die Normen seiner mitmenschlichen Umgebung, etabliert ein „Überich“ und bildet ein Gewissen aus. Letzteres lässt die ödipalen Wünsche „untergehen“, ohne dass sie deshalb ihrer nunmehr heimlichen Wirkkraft beraubt wären.

Soweit das klassische Konzept, das sehr schnell alle Gemüter – über die Zunft der Psychoanalytiker hinaus – erregte. Neben einem durchgehenden Gebrauch als Lehrsatz geschieht deren kritische Auseinandersetzung mit Freuds Auffassung vom Ödipuskomplex als Angelpunkt psychoanalytischer Wahrnehmungseinstellung in drei Richtungen: Kritisch reflektiert wird heute Freuds zeitliche Festlegung mit seiner Phaseneinteilung, ebenso seine Vorstellungen der Weiblichkeit und seine einengende Fixierung auf das intrapsychische Triebgeschehen (6).

Zum ersten Punkt: Bereits der aus Ungarn stammende Londoner Psychoanalytiker M. Balint (1896­–1970) hat im Anschluss an Melanie Klein in seinem Spätwerk „Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung“ (7) das zentrale Interesse Freuds an der ödipal getönten Lebensphase auf den präödipalen Lebensbereich verlagert. Der prägenden Dreierkonstellation (Vater-Mutter-Kind), so Balint, gehe ein ebenso das spätere Verhalten steuerndes Erleben der Dyade zwischen Mutter und Kind voraus. Diese wiederum werde von einer monadischen Befindlichkeit unterlegt. Umgangssprachlich spricht man von einer „Verbindung über Seelenverwandtschaft“, in der alle selbstständige Kreativität eines Individuums wie in einer Matrix, d.h. einem während der Geburt erworbenen Erfahrungsmuster, verankert ist. Die entscheidende Wirkung des Ödipuskomplexes erscheint damit nicht ausgesetzt, aber relativiert.

Diese Vorverlegung prägender Erfahrungen charakterisiert die Schule Melanie Kleins in besonderer Weise: „M. Kleins klinische Beobachtungen führten zur Modifizierung von S. Freuds Theorie des Ödipuskomplexes. Indem sie die Fantasieinhalte der Triebtheorie hervorhob, zeigte M. Klein insbesondere die prägenitalen (oralen und  analen)  Komponenten ödipaler  Fantasien  auf und betrachtete sie als Beweis für den frühen und prägenitalen Ursprung des Ödipuskomplexes“,  heißt  es  im „Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse“. (7) Naturgemäß hat diese Position auch die Annahme einer früheren Überichbildung (bzw. die Konstatierung von dementsprechenden „Vorläufern“) zur Folge.   Das beschreibt   z.B.   Grunberger in seiner Abhandlung „Gedanken   zum frühen Über­Ich“. Hier heißt es: „Das Über­Ich erscheint als Ergebnis verschiedener Identifikationen und Introjektionen; es hat jedoch tiefreichende triebhafte prägenitale (und narzisstische) Quellen.“ (8). So kann Müller-Pozzi zusammenfassend konstatieren: „Das zunehmende Wissen über die präödipalen Stufen der Entwicklung verinnerlichter Objektbeziehungen hat das Konzept der ödipalen Situation erheblich differenziert“ (9).

Zum zweiten Punkt: Freud hat sein Modell des „Ödipuskomplexes“ in eindeutiger Weise, im gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit, unter einem dominierend männlichen Vorzeichen konzipiert. Das hatte bereits zu seiner Lebenszeit den Protest engagierter Frauen – unter ihnen auch viele Psychoanalytikerinnen – hervorrufen. Aber erst in den 1970er Jahren wurde die veränderte   Forschungslage mit einem Reader von J. Chasseguet-Smirgel dokumentiert. Sie schreibt einleitend: „Freud hat das Problem   der Weiblichkeit,  den  ‚schwarzen   Kontinent‘, wie er es nannte, stets mit größter Vorsicht formuliert und die Unvollständigkeit der damals vorliegenden  Forschung  betont“ (10). Ein Jahrzehnt später ergänzt sie ihre psychoanalytischen Differenzierungsbemühungen an diesem wesentlichen Punkt durch den Aufsatzband „Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater­ und Mutterbilder“(11).

Freud etablierte mit seinem Modell des Ödipuskomplexes als „Kernstück“ menschlichen Verhaltens und dessen Folgen für Politik und Gesellschaft, indem er lediglich vom Vater ausgehend denkt. Chasseguet-Smirgel geht vom bestimmenden Einfluss der archaischen Mutterfigur aus. Die dadurch relativierte Figur des Vaters muss deshalb nicht bedeutungslos werden: „Eine Welt, in der die (die Mutter repräsentierenden) Frauen keine Rechte haben, in der sie „erniedrigt und beleidigt“ werden, verrät eine tiefe Unsicherheit, sowie die Furcht, von der überwältigenden Macht der mütterlichen Urimago vernichtet zu werden. Eine Welt, in der der Vater verschwunden ist, ist eine Welt, in der auch die Fähigkeit zu denken abhandengekommen ist.  Die Vereinigung von Vater und Mutter gebiert nicht nur das Kind, sondern auch den Intellekt in seiner ganzen Kraft.“ (12) Angesicht der zunehmenden Fake News und narzisstisch-patriarchaler Größenfantasien, so wie der MeToo-Debatte am Beginn des 21. Jahrhunderts könnte man glauben Chasseguet-Smirgel habe eine Zeitdiagnose abgegeben.

Mit den Folgen der Freud‘schen „phallozentristischen“ Einseitigkeit setzt sich besonders vehement Olivier auseinander. Sie schreibt „Es ist offensichtlich, dass die psychoanalytische Theorie eindrucksvoll  verkündigt, wie eine Frau nach den Erwartungen eines Mannes sein soll, aber sie gibt ganz sicher nicht wieder, wie die Frau ist.“(13) Und an anderer Stelle: „Wäre Freud weniger von der Idee beeinflusst gewesen, die Sexualität der Frau auf ihre im sozialen Bereich festgestellte Minderwertigkeit zurückzuführen, und hätte  er seinen Patientinnen besser zugehört statt sich von seinen Vorstellungen leiten zu lassen, so wäre er nicht auf jenem berühmten ‚dark continent‘ gelandet,  mit all seinen Schrecken  für beide Geschlechter“.(14) Trotz aller Vorbehalte gegenüber dem Ödipuskonzept Freuds, fordert sie von den Männern, sich ihrer Verantwortung als Väter bewusst zu sein, und begründet „warum unsere Kinder Autorität brauchen“(15) ohne autoritär zu sein.

Literatur:

  1. Heinz Müller-Pozzi (1991): Psychoanalytisches Denken. Teil II: Das Unbewusste und die Sinnlichkeit, Hans Huber, Bren/Stuttgart/Toronto.
  2. Alfred Schöpf (1995): Das Unbewußte. In: W. Mertens (Hrsg.):  Schlüsselbegriffe   der Psychoanalyse, Stuttgart, S. 151-159. Klett-Cotta, Stuttgart.
  3.  vgl. Schöpf (1995): Das Unbewußte. In: W. Mertens (Hrsg.):  Schlüsselbegriffe   der Psychoanalyse, Stuttgart, S. 153. Klett-Cotta, Stuttgart.
  4. Stavros Mentzos (1994): Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven, S.74f.  S. Fischer, Frankfurt a.M.
  5.  J. Laplanche/J.-B. Pontalis (1992): Das Vokabular der Psychoanalyse. Bd. 1 und 2. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
  6. Ch. Rohde-Daxhser (1991): Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg.
  7. Michael Balint (1970): Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung. Stuttgart.
  8. Robert D. Hinshelwood (1993): Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse. Verlag Internationale Psychoanalyse, Stuttgart, S. 76.
  9. Béla Grunberger (1988): Gedanken zum frühen Über­Ich. In: Narziss und Anubis. Die Psychoanalyse jenseits der Triebtheorie Bd. 1, Verlag Intern. Psychoanalyse, München/Wien, S. 69-92.
  10. Heinz Müller­-Pozzi (1991): Psychoanalytisches Denken. Teil ll: Das Unbewusste und die Sinnlichkeit. Bern/Stuttgart/Toronto, 1991, S. 150.
  11. Janine Chasseguet-Smirgel (Hg. )(1977): Psychoanalyse der  weiblichen Sexualität. Frankfurt, a.M.
  12. Janine Chasseguet-Smirgel (1988): Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater­ und Mutterbilder. Verlag Intern. Psychoanalyse, München/Wien.
  13. Christiane Olivier (1987): Jokastes Kinder. Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter, Claassen, Düsseldorf, S. 17.
  14. Christiane Olivier (1987): Jokastes Kinder. Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter, Claassen, Düsseldorf, S. 23.
  15. Christiane Olivier (1994): Die Söhne des Orest: Ein Plädoyer für Väter. ECON-Verlag, Düsseldorf/Wien/New York.

Dr. phil. Gerhard Wittenberger

ist Psychoanalytiker im Alexander-Mitscherlich-Institut Kassel. Außerdem ist er als Supervisor, Gruppenanlaytiker, Trainer für Gruppendynamik und Balintgruppenleiter in eigener Praxis tätig. Er publizierte zur Geschichte der Psychoanalyse und zur Biografik des Wehrmachtspsychologen Max Simoneit.

Nach Freud – Entwicklungen in der psychoanalytischen Theorie