Die Benediktushof gGmbH ist eine Komplexeinrichtung für Menschen mit Behinderungen im Münsterland. Sie ist eine von 39 Beteiligungsgesellschaften der Josefs-Gesellschaft. Die Josefs-Gesellschaft (JG-Gruppe) wurde 1904 auf Initiative des Pfarrers Heinrich Sommer in Bigge im Sauerland gegründet. Sie bietet in sechs Bundesländern an über 80 Standorten vielfältige Leistungen für Menschen mit Hilfebedarf (Behindertenhilfe / Altenhilfe) sowie medizinische Versorgung in Krankenhäusern an. In der JG-Gruppe sind ca. 11.000 Mitarbeitende tätig.
Die Bündeleinrichtung Benediktushof vereint verschiedene Angebote für Menschen mit Behinderungen: Berufsbildungswerk mit angeschlossenem Berufskolleg, Werkstatt für behinderte Menschen, besondere Wohnformen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, ambulant-betreutes Wohnen sowie Fachdienste (Physiotherapie, Ergotherapie, Osteopathie), eine Inklusionsfirma (Transfair GmbH) und eine eigene Reinigungsfirma (JG Services).
An der Aufzählung der Leistungsangebote wird bereits die Komplexität der rechtlichen und inhaltlichen Bezüge deutlich. In Krisenzeiten – wie während der Corona-Pandemie – mussten wir unser Führungsverständnis und Leitungshandeln neu ausrichten.
Die Corona-Pandemie hatte in den Einrichtungsteilen sehr verschiedene Auswirkungen, von behördlicher Seite wurden dementsprechend sehr widersprüchliche und kurzfristige Maßnahmen und Regelungen erlassen (einige Einrichtungsteile mussten vorübergehend geschlossen werden, Hygiene- und Testkonzepte wurden geschrieben und umgesetzt, zentrale Impfungen vorbereitet und durchgeführt und Infektionsausbrüche mussten eingedämmt werden). An dieser Stelle verzichte ich darauf, die einzelnen Maßnahmen und Regelungen zu beschreiben, sondern möchte den Fokus darauf richten, was sich bei uns im Führungsalltag dadurch verändert hat und wie wir in dieser unübersichtlichen und unsicheren Lage agiert haben.
Grundsätzlich war und ist es für die Krisenbewältigung sehr hilfreich, dass wir ein eingespieltes und gut funktionierendes Leitungsteam haben. Unsere Leitungsstruktur besteht aus einer Doppelspitze aus kaufmännischer und pädagogischer Geschäftsführung sowie sechs Geschäftsfeldleitern für die verschiedenen Einrichtungsteile. Alle Geschäftsfeldleiter mit Prokura haben weitreichende Handlungsbefugnisse und Entscheidungskompetenzen, was sich in der dynamischen Krisenbewältigung als sehr nützlich erwiesen hat. Die Hauptaufgabe der Geschäftsführung als Doppelspitze, ist dabei, immer wieder die bereichsübergreifenden Zusammenhänge herzustellen und die differenzierten Maßnahmen der einzelnen Geschäftsbereiche aufeinander abzustimmen. Dies erforderte neue und schnellere Kommunikationsprozesse und Formate. Der Krisenstab „Corona“ tagte wöchentlich und neben den Geschäftsfeldleitern wurden zusätzliche Fachkräfte aus den Bereichen Arbeitssicherheit, Hygiene und medizinischer Dienst sowie Vertreter*innen der MAV hinzugezogen. Um die tagesaktuellen Ereignisse und Entwicklungen besser steuern zu können, wurde neben der Emailkommunikation noch eine virtuelle Leitungsgruppe über WhatsApp, eingerichtet.
Spannend ist die Frage, was wir in den letzten 12 Monaten gelernt haben und wie sich unsere Zusammenarbeit, besonders im Führungsalltag, dadurch verändert hat.
Grundsätzlich haben wir unsere Kommunikations- und Handlungsmuster deutlich angepasst. Wir haben intensiver, direkter, digitaler und konsequenter miteinander kommuniziert und legten sehr großen Wert darauf, die anvisierten Maßnahmen und Ziele auf ihre praktische Bedeutung und Umsetzbarkeit zu überprüfen. Die Systemimpulse von außen, besonders von behördlicher Seite, waren häufig sehr praxisfern, bürokratisch und umständlich. Die besondere Transferleistung für das Leitungsteam bestand darin, diese zum Teil sehr abstrakten und rechtlichen Anweisungen und Regelungen in ein praktisch-sinnvolles Handeln umzusetzen. Das war und ist nicht immer einfach. Seit Beginn der Corona-Pandemie erleben wir, dass bürokratische und verwaltungsorientierte Lösungsstrategien hier erstens sehr langsam und zweitens sehr umständlich und widersprüchlich sind. Da wir in einer Einrichtung mit sehr vielen, vulnerablen Menschen und deren akuten Problemlagen zu tun haben, mussten wir schnelle, handlungsorientierte und pragmatische Lösungsansätze finden.
Wie haben wir das konkret getan?
-
Proaktives Handeln
Schon früh haben wir eigenständig und proaktiv geeignete Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung eingeleitet und umgesetzt. Wir haben nicht auf die Verordnungen und Regelungen der Landesregierung und die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) gewartet, sondern haben sinnvolle Maßnahmen bereits vorab überlegt und umgesetzt. Als Beispiel ist zu erwähnen, dass wir schon vor Veröffentlichung der Testverordnung des Landes NRW eigene Schnelltests (POC – Antigentests) besorgt und Konzepte erarbeitet und diese auch in Eigenverantwortung umgesetzt haben. Die Genehmigung zum Einsatz der Schnelltests war zuvor durch die Bundesverordnung geregelt und eröffnet worden. Diese Vorgehensweise hatte ein gewisses wirtschaftliches Risiko, da weder die Refinanzierung der Schnelltests noch die Pauschalvergütung für den zusätzlichen Personalaufwand abgesichert waren. Wir hörten von vielen anderen Einrichtungsträgern, dass sie zunächst die Verordnungen und Refinanzierungszusagen des Landes NRW abwarten wollten, bevor sie die Teststrategie umsetzten. Im Nachhinein erfolgten die Regelungen durch die Landesregierung über die Test-VO und Test-AV und sicherten unseren Weg ab. Durch proaktive und risikofreundliche Handlungsweisen konnten wir sehr frühzeitig und flächendeckend in unserer Einrichtung testen und haben dadurch größere Infektionsausbrüche verhindern können.
-
Nutzung der Digitalisierung
Homeoffice-Möglichkeiten wurden frühzeitig erweitert, so dass wir auch in den Phasen mit hohen Inzidenzwerten immer in der Lage waren, die Arbeitsprozesse aufrechtzuerhalten. Besonders die administrativen Aufgaben können sehr gut von zu Hause aus erledigt werden. In der Regel haben wir in Wechselschichten gearbeitet. Ein Teil der Mitarbeitenden im Bereich der Verwaltung und des Casemanagements waren vor Ort, die anderen waren im Homeoffice. So konnten wir die Bedingungen des Hygienekonzeptes und die Arbeitsanforderungen gut miteinander vereinbaren.
Dies konnte nur umgesetzt werden, weil im Vorfeld viele administrative Prozesse bereits digitalisiert waren (Rechnungs- und Zahlungsläufe, Buchhaltungsvorgänge, Personalverwaltungsprozesse, Teilhabeplanungen, Emailkommunikation und Datenzugriffsmöglichkeiten über VPN). Erweitert wurde dieses Feld durch Videokonferenzen und Kollaborationstools wie Microsoft Teams und Microsoft 365.
Für den Bereich Berufsbildungswerk und Berufskolleg hatten die digitalen Lern- und Austauschplattformen eine sehr große Bedeutung, da wir in den Lockdown Phasen die Auszubildenden über das Distanzlernen weiter ausbilden konnten und dadurch die weitere Refinanzierung der Leistungen gesichert war.
Über die JG-Gruppe und in Kooperation mit anderen Bildungsträgern haben wir ein Digitalprojekt im Berufsbildungswerk gestartet, was den besseren Einsatz und Umgang mit diversen digitalen Lerntools ermöglicht. Hier lernen wir alle jeden Tag etwas Neues dazu. Die Coronakrise wirkt in diesem Zusammenhang wie ein Katalysator und beschleunigt die digitalen Entwicklungsprozesse. Dies ist eine positive Nebenwirkung im Gegensatz zu den negativen, gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen und Verwerfungen der Corona-Pandemie.
-
Lösungsorientiertes, systemisches und ergebnisorientiertes Denken und Handeln
Im Januar 2020 hätten wir uns alle die sprunghaften, rasanten und massiven Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht vorstellen können. Es gab (zumindest bei uns!) keine Pläne und Handlungsanweisungen für eine solche Katastrophe. Im Nachhinein haben wir jetzt alle erfahren, dass die Bundesregierung bereits im Jahr 2012 Empfehlungen für einen Krisenplan für eine Pandemie in der Schublade hatte und im Parlament diskutierte. Hier wurde empfohlen, ausreichende medizinische Masken und Schutzkleidungen für Einrichtungen und die Bevölkerung zu bevorraten. Wie wir alle wissen, ist dies (leider) nicht erfolgt.
Also mussten wir in unserer Einrichtung uns selbst helfen und eigene Lösungen entwickeln. Das haben wir auch getan. In diesem Zusammenhang war eine lösungsorientierte, systemische und ergebnisorientierte Denk- und Handlungsweise sehr hilfreich und nützlich. Zu Beginn der Corona-Pandemie haben wir – wie viele Einrichtungen auch – selbst Masken und Kittel genäht, Halterungen für Schutzschirme über den 3D – Drucker hergestellt und Sterillium in Kanistern von der Zentrale in Köln abgeholt. Um den Mangel an FFP2 Masken in den Griff zu bekommen, haben wir diese in Öfen erhitzt, um sie wieder steril und nutzbar zu machen. Dies sind nur einige Beispiele, welche kreativen Potentiale plötzlich durch die Krise und den Mangel, bei uns allen und der gesamten Mitarbeiterschaft entstanden sind. Am Anfang fehlten uns die Masken und Hygieneartikel, jetzt fehlen uns die Schnelltests und Impfstoffe. Diesen Mangel zu kompensieren, ist natürlich für uns unmöglich. Dem Mangel an POC-Antigentesten konnten wir nur begegnen, indem wir schnell und frühzeitig bestellt und Kooperationen mit der ortsansässigen Apotheke als Teststelle gesucht haben. Den Impfprozess konnten wir in unserer Einrichtung nur beschleunigen, indem wir zumindest für den Bereich der Eingliederungshilfe (besondere Wohnformen und Werkstatt für behinderte Menschen) in die Impfpriorisierungsstufen 1 + 2 eingeordnet wurden. Dies haben wir zum Glück ebenfalls erreicht, wodurch ein Großteil unserer vulnerablen Leistungsnehmer und die Mitarbeitenden im operativen und direkten Kontakt mittlerweile alle geimpft wurden. Dies hat zu einer großen Entspannung der insgesamt sehr belastenden Situation beigetragen.
-
Frustrationstoleranz
Es gab immer wieder Rückschläge und negative Entwicklungen, die wir alle gemeinsam ertragen und aushalten mussten. Als jüngstes Beispiel sind hier der Mitte März verordnete Impfstopp von AstraZeneca und die sich entwickelnde dritte Infektionswelle zu nennen, die wiederum erneute Lockdown Maßnahmen und Probleme zur Folge haben. Es ist entscheidend, dass gerade Mitarbeitende mit Führungsverantwortung Frustrationstoleranz besitzen und weiterhin die (zugegebenermaßen wenigen) positiven Aspekte hervorheben. Durch den Impfstopp konnten statt 170 weiteren Teilnehmenden und Mitarbeitenden nur 24 Menschen mit BioNTech geimpft werden (aber immerhin!). Mittlerweile werden wir durch die erneute Freigabe des AstraZeneca Impfstoffes auch die restlichen Leistungsnehmenden und Mitarbeitenden des Bereiches der Eingliederungshilfe impfen können.
-
Empowerment / Selbstwirksamkeit / Personenzentrierung
Die pädagogischen Ansätze des Empowerments und der Personenzentrierung spielten bei der Bewältigung der Krise eine entscheidende Rolle. Schnell wurde klar, dass jede/r Mitarbeitende und Teilnehmende sehr individuell mit der Bedrohungslage der Corona-Pandemie umging. Es gab sehr ängstliche Menschen, die den Lockdown und die soziale Isolation als die am besten geeignete Maßnahme zum Gesundheitsschutz ansahen und es gab die VertreterInnen, die sich nach mehr Lockerungen und mehr Normalität sehnten.
Dieses Spannungsverhältnis konnte man in der gesamten Gesellschaft wahrnehmen und die politischen Akteure versuchen ständig, zwischen diesen Polen hin und her zu steuern. Grundsätzlich konnten wir uns den gesamtgesellschaftlichen Regelungen und Verordnungen natürlich nicht entziehen, haben aber immer versucht, eine möglichst harmonische und stringente Gesamtstrategie zu verfolgen. Dabei konnten wir zum Teil auch Sonderregelungen, für den Bereich der Eingliederungshilfe und für berufliche Rehabilitationseinrichtungen, nutzen. Beispielhaft ist hier die frühzeitige Öffnung der Werkstatt für behinderte Menschen zu erwähnen, die in der zweiten Corona Welle wieder gestattet wurde und die wir unter Beachtung aller möglichen Hygieneschutzmaßnahmen auch umgesetzt haben.
Dies war für unsere Leistungssysteme besonders bedeutsam, da wir dadurch den Menschen mit Behinderungen wieder etwas mehr Normalität und Tagesstruktur bieten konnten, was sich wiederum positiv auf die Lebensqualität in den anderen Lebensbereichen auswirkte. Grundsätzlich war dies ein freiwilliges Angebot für unsere Beschäftigten, so dass wir hier personenzentriert, je nach Gefühls- und Verfassungslage, diese Möglichkeit geschaffen haben. Wer sehr ängstlich war, konnte auch im Bereich der besonderen Wohnformen, im Rahmen der Sozialen Teilhabe, individuell, beruflich gefördert werden. Sehr beeindruckend war, dass die zuständigen Rehabilitationsträger diese sehr flexiblen und individuellen Möglichkeiten zuließen und diese sogar begrüßten. Insgesamt ist das Verhältnis in der Krise zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer aktuell etwas harmonischer und wohlwollender geworden (abgesehen von dem „Klein-Klein“ für die Erstattung von zusätzlichen Sachkosten für Hygieneartikel und coronabedingte Personalmehrbedarfe).
Die Menschen mit Behinderungen konnten durch diese Wahlmöglichkeit selbständig entscheiden, ob und wie sie wieder am Arbeitsprozess in der Werkstatt teilnehmen wollten und hatten dadurch eine aktive Einflussmöglichkeit im Umgang mit den Auswirkungen der Pandemie. Die meisten der Beschäftigten haben sich dafür entschieden, in die Werkstatt für behinderte Menschen zu gehen und ihre Arbeit wieder aufzunehmen.
Fazit
Führen in der Krise sollte einfache Lösungen diesseits und nicht jenseits der Komplexität ansteuern. Das bedeutet, wir brauchen zwar einfache und für alle nachvollziehbare Lösungsschritte, müssen gleichzeitig aber die komplexen Zusammenhänge und Bezüge wahrnehmen und berücksichtigen. Viele Menschen (Mitarbeitende und Leistungsnehmende) steigen bei dieser Betrachtungs- und Vorgehensweise aus, da sie häufig durch die Komplexität und auch Widersprüchlichkeit überfordert und verunsichert sind. Hier ist es Führungsaufgabe, intensiv, direkt, transparent und konsequent zu kommunizieren. Wir müssen ehrlich auf Risiken und Notlagen hinweisen, sollten dann aber schnell den Fokus auf lösungsorientierte und praktikable Maßnahmen richten und diese dann umsetzen.
Hier gilt der Grundsatz, je näher die Lösungsansätze sich direkt auf das erfahrbare Lebensumfeld beziehen, desto passender und wirksamer werden sie sein. Die Akzeptanz steigt mit der Mitgestaltungsmöglichkeit der direkt betroffenen Personen.
Die dreijährige Fortbildung „Leitung in Einrichtungen der Behindertenhilfe“ der Caritas-Akademie in Freiburg sowie die langjährige Teilnahme an Supervisionen in Telgte haben sicherlich ebenfalls entscheidend bei mir dazu beigetragen, dass dieses in der Krise sehr nützliche Führungsverständnis sich entwickeln und etablieren konnte.
Martin Bodin
Martin Bodin (*1970), aufgewachsen in Recklinghausen, verheiratet, vier erwachsene Kinder, Studium der Erziehungswissenschaften an der WWU (Dipl. Pädagoge), Berufliche Stationen: Kinder - und Jugendhilfe Martinistift Appelhülsen, dann Berufsvorbereitungslehrgänge für junge Erwachsene, Kreishandwerkerschaft Warendorf, Inobhutnahmestelle in Hamm, seit 2008 zunächst Internatsleitung im BBW Benediktushof, seit 2012 Geschäftsführer Rehabilitation im Benediktushof. — m.bodin@benediktushof.de — www.benediktushof.de — www.jg-gruppe.de