1964 verlieben sich die junge Ostberliner Studentin Birgit und der Westberliner Student Kaspar ineinander. Birgit flieht in den Westen. Mit sich nimmt sie die Last und das Geheimnis, ihre Tochter unmittelbar nach deren Geburt zurück gelassen zu haben.

Mit dem Tod Birgits viele Jahrzehnte später eröffnet Bernhard Schlink seinen Roman, der zeitgeschichtliche Einflüsse nicht unbeachtet lässt. Erzählt wird aus der Perspektive Kaspars.

Kaspar erfährt erst nach dem Tod Birgits in ihren Aufzeichnungen von dem ihm vorenthaltenem Leben und Erleben seiner Frau. Ihre Gedanken, Kaspars Liebe habe ihn ahnen, ja wissen lassen, was sie vor ihm verborgen hat, wirken zutiefst verstörend auf ihn. Schlink lüftet das Geheimnis und legt schonungslos Birgits innere Dunkelheit und seelische Anstrengung offen. Die destruktive Macht ihrer Lebenslüge zeigt sich in einem ruhelosen, nahezu getriebenen Leben.

Gelingt es ihr bis zu ihrem Tode nicht, das Verborgene offen zu legen und sich auf die Suche nach ihrer Tochter zu machen, so lässt Schlink ihren Ehemann Kaspar die Suche stellvertretend aufnehmen. Diese führt ihn zu Svenja, deren Mann Björn und ihrer gemeinsamen Tochter Sigrun.
Es stoßen verwirrende innere und äußere Lebenswelten aufeinander. Was Zugehörigkeit, Vertrautes, Fremdheit, Neben- und Gegenwelten, Flucht, Hoffnung, Wahrheit in aller Widersprüchlichkeit bedeuten können, breitet der Erzähler aus.

Ein unsichtbarer Faden von Generation zu Generation wird gelegt.

Nimmt dieser Faden seinen Anfang mit der Flucht einer Mutter, die ihr Neugeborenes zurücklässt, so ist auch das Ende geprägt von einer weiteren Flucht und dem Blick auf einen zurückgelassenen Menschen.

Die Wirkungen im mentalen Gewebe der Gehenden und Bleibenden werden fesselnd erzählt.

Maria Kröger

Bernhard Schlink: Die Enkelin, Diogenes Verlag 2021