An meiner Tür hängt der Zeitungsartikel über eine Bachelor Abschlussfeier. Der abgebildete Absolvent, Giuseppe Paterno, war zu diesem Zeitpunkt im Juli 2020 bereits 96 Jahre alt. Er arbeitete nach der Grundschule als Eisenbahner und machte mit 31 Jahren sein Abitur. Erst mit 93 Jahren schrieb er sich für die Fächer Geschichte und Philosophie an der Universität Palermo ein (Publik-Forum 15/2020).

In eben diesem Jahr 2020 habe ich meine aktive Berufslaufbahn beendet. In den Monaten vor und nach diesem Schritt habe ich viel über die Bedeutung dieses Übergangs gelesen, nachgedacht, im Coaching und mit Freundinnen und Freunden reflektiert. Und immer wieder halte ich vor Guiseppe Paterno mit seinem Lorbeerkranz auf dem Foto inne und staune. Noch 30 Jahre – für mich auch? – für Wege in unbekanntes Land?

Ermutigende Impulse beim Sortieren, Einordnen und Gewichten dabei hat mir Ingrid Riedel mit ihrem Buch „Die innere Freiheit des Alterns“ (Riedel 2017) gegeben. Selbstwirksam sein – oder werden – in unserer Zeit großer politischer, gesellschaftlicher und pandemischer Verwerfungen, ist das Illusion, aus Trotz geboren, ein Kampf, der längst gekämpft sein sollte?

Ingrid Riedels Buch lädt ein und ermutigt zu einem existentiellen Zugang zum Alter, will nicht die Vielfalt der Studien ergänzen. Von ihr gedacht für die Altersgruppe der über 70jährigen hat es mir gleichwohl schon jetzt viele Impulse gegeben. „Leben ausschöpfen und loslassen“, „Der Raum der Erinnerung“, „Vom Sinn des Reisens im Alter“, „In Beziehung treten und alleinstehen“, „Schöpferisch bleiben“, „Von der Weisheit und Narrheit des Alters“. Schon diese Überschriften zeigen die Blickrichtungen. Was die einzelnen Kapitel so lesenswert macht ist, dass Ingrid Riedel keine Tipps gibt oder Bewertungen vornimmt. Vielmehr zeigt sie – anhand vieler Beispiele aus ihrem Beratungsalltag – eine große Bandbreite auf und ermutigt, selbst genauer hinzuschauen, „was für mich dran ist“, und zwar aufgrund meines Lebensweges, sich die Freiheit zu nehmen, auszuprobieren. Dem voraus geht die Frage „Wer bin ich eigentlich dann, wenn ich ‚nichts‘ bin? Nichts mehr im Blick auf Leistung, Rolle und Geltung – sondern einfach ein Mensch, der lebt, der gelebt hat und der leben darf.“ (a.a.O. S .18)

Vom Blick auf die Einschränkungen des Alterns weg lenkt sie den Blick auf die Möglichkeiten, bescheinigt dem Alter eine „eigene ‚Entwicklungsintelligenz‘, als eine besondere Form von Intelligenz: Sie sei charakterisiert durch ein immer besseres Zusammenspiel von Denken, Urteilsvermögen, emotionaler Intelligenz, zwischen-menschlichen Fähigkeiten, Lebenserfahrung und Bewusstsein – und durch die Synergieeffekte zwischen diesen Faktoren.“ (a.a.O. S. 96f)

„‚Leben ohne Warum‘ – Alt werden mit einem Gedanken von Meister Eckhart“, so lautet das Abschlusskapitel. Diese Haltung bedeutet kein resignatives Fazit für nicht gefundenen oder findbaren Sinn. „‚Ich lebe darum, dass ich lebe‘. Das kommt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quilt, darum lebt es ohne Warum eben darin, dass es sich selbst lebt.“ (Meister Eckhart 1979, S. 164) Diese Bejahung des großen mittelalterlichen Mystikers faltet Ingrid Riedel in ihrem Schlusskapitel aus. Und wer einen spirituellen Bezug hat, wird auch darin angesprochen.

Literatur:

  • Riedel, Ingrid (2013): Die innere Freiheit des Alterns, München, Patmos
  • Meister Eckhart (1979): Deutsche Predigten und Traktate, Zürich, Diogenes

Wolfgang Möser

Ingrid Riedel: Die innere Freiheit des Alterns, München 2013