In der Supervisionsliteratur sind Beiträge zur „Leitungssupervision“ bis heute ein Desiderat der Forschung. Auch die hervorragende Studie von Kornelia Steinhardt (2. Auflage 2007) konnte diese Lücke nicht schließen. Warum das so ist, ist schwer zu entscheiden. Ein Grund könnte sein, dass sich Supervision von „funktionalistischen Techniken und Methoden“ (Weigand, 2022) unterscheidet und die berufliche Sozialisation von Führungskräften ganz wesentlich auf das Funktionieren in organisatorischen Zusammenhängen abgestellt ist. Beratungstechniken, die diesen Erwartungen entsprechen können, gehen davon aus, dass der Mensch eine spezifisch intellektuelle Fähigkeit und Neigung hat, die darin besteht, dass er Entwicklungen wahrnehmen, in Entwicklungen denken und Entwicklungen sowohl rückblickend als auch vorausschauend in ihrer immanenten Logik beurteilen kann. Unter dieser Voraussetzung wird ihm eine ‚diagnostische Kompetenz‘ zugeschrieben, die im Alltagsleben vielfältig angewendet und in der universitären Psychologie ein wissenschaftliches Fundament bekommen hat. Nach Ansicht mancher Geschichtsschreiber dieses Fachs war die wissenschaftliche Ausarbeitung einer psychologischen Diagnostik ausschlaggebend für die Begründung einer eigenständigen Universitätsdisziplin. Das gilt vor allem für den psychometrischen Ansatz, weil sich gerade das Messen von Eigenschaften als eine vielfältig nutzbare Methode erwies.

Einen interessanten Einblick in die gegenwärtige Praxis der Personalauswahl in der Arbeitswelt gibt Gerd Jüttemann (2011) in einem Aufsatzband, in dem 37 Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Spezialgebieten die Potenziale der „Biographischen Diagnostik“ reflektieren und konkretisieren. Die hier vertretenen Positionen erheben den Anspruch, dass die „Biographische Diagnostik“ in allen Bereichen der angewandten Psychologie reichhaltige Einsichtsmöglichkeiten bietet, die in unterschiedlichen Arbeitsfeldern als reale Praxis nicht selten genutzt werden können. So beschreibt z. B. Pia Neiwert, in ihrem Beitrag zur Personalbeurteilung: „Kompetent zu sein ist nicht genug. Auf die Entwicklung kommt es an.“ Als Diagnostikerin achtet sie darauf, welchen Reifegrad ein gesunder Erwachsener erreicht hat. Dazu stellt sie drei Entwicklungsphasen auf, die der Menschen früher oder später durchlaufen haben muss:

  • Entwicklung des Denkens: Denken entwickelt sich als logisches Denken. Und daraus resultieren Ansätze dialektischen Denkens, das sich schließlich als vollausgebildetes logisch-dialektisches Denken darstellt.
  • Entwicklung des Wissens: Wissen erscheint zunächst wie etwas Absolutes; klar und deutlich auf die jeweilige Bezugsgruppe bzw. auf Autorität bezogen. Erst allmählich wächst die Erfahrung, dass Wissen unsicher bleibt, relativ und kontextbezogen; schließlich wird Wissen aktiv konstruiert, relativiert, kontextbezogen betrachtet – und bleibt offen für neue Einschätzungen.
  • Entwicklung von Entscheidungskompetenz: Führungskräfte sind Entscheidungsträger. Zunächst orientieren sich ihre Entscheidungen relativ klar an Fakten und an Meinungen ihrer Bezugsgruppen bzw. der Experten; später fließen zusätzlich eigene, persönliche Einschätzungen mit ein; in der dritten Phase wird die Entscheidungsfindung komplexer und eher systemisch, weil Alternativen und potentielle Gegenargumente mit einbezogen werden.

Für Neiwert kann „sowohl der sozial-emotionale als auch der kognitive Entwicklungsstand mit einem qualitativen halbstrukturierten Interview bestimmt werden.“ Dabei wird beleuchtet, wie sich für eine Person im Alltag und im Berufsleben ‚Bedeutungen‘ erschließen und bis zu welchem Grad sie in der Lage ist, eine Theorie von sich und den sozialen Beziehungen zu entwickeln. In der Auswertung dieser Interviews wird zunächst der „Entwicklungsschwerpunkt“ ermittelt. In einem zweiten Schritt werden dann Aussagen dazu getroffen, wie groß die Tendenz ist, in schwierigen Situationen in frühere Entwicklungsphasen zurückzufallen. Daraus wird dann der Schluss gezogen, welches Entwicklungspotenzial sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt zeigt. Geht es darum, den richtigen Mitarbeiter für eine Führungsposition (institutioneller Aspekt) zu finden, ergibt sich in der Beurteilung eine Spannung (Dilemma) zwischen Stabilität und Wandel. Für die Institution muss ein Mittelweg gefunden werden zwischen „selbstlähmender, perfekter Ordnung“ und der „Willkür perfekter Unordnung“. Die Diagnostik ermittle die kognitive Kompetenz des Bewerbers oder der Bewerberin, inwieweit es ihm/ihr gelingen wird, einen fließenden Übergang des Wandels zu schaffen. Die „biographische Diagnostik“ soll mit Hilfe psychometrischer Methoden Aufschluss darüber geben, welchen „sozial-emotionalen Entwicklungsstand“, welchen Komplexitätsanforderungen der/die Bewerber/in momentan gewachsen ist.

Auf das immanente Menschenbild dieser Konzeption kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Sie gibt aber einen Hinweis auf das, was mit „funktionalistischen Techniken und Methoden“ gemeint sein könnte.

Gerd Jüttemann, der in diesem Band auch über ein Konzept von Supervision schreibt, hervorhebt, dass diagnostisch verwertbare, d.h. messbare Entwicklungen eines Menschen zur Voraussetzung haben, in einem „linear verlaufenden Veränderungsprozess“ gefunden zu werden. „Inhaltliche und strukturelle Entwicklungen sind aber nicht messbar. Sie müssen qualitativ-intuitiv erfasst werden und repräsentieren damit zugleich eine besonders anspruchsvolle Form von Diagnostik. „Es gilt, diesen Zugang zum Gegenstand der Psychologie stärker als bisher zu beachten – möglicherweise sogar mit der Aussicht, Erkenntnisquellen aufzuspüren, die noch gar nicht entdeckt worden sind“ (a.a.O., S. 20).

Obwohl „die stärksten Belege“ der Diagnostik, die „individuelle Testergebnisse und Messwerte“ sind, sind sie der „Expertendiagnose“ unterzuordnen. Traditionelle standardisierte Tests werden so gesehen, als lieferten sie begrenzte Momentaufnahmen einer Person, die durch experteninformierte Intuition (Wahrnehmung) ergänzt werden müssen, um zu verstehen, wie Attribute der getesteten Person interagieren, so dass sie ein komplexes Ganzes schaffen. Die Kompetenz der ‚Expertenintuition‘ besteht nicht nur darin, Informationen zu sammeln, sondern auch, um die Datenkombination richtig zu interpretieren. So zertifiziert die Schule des Holismus ihre Experten, in dem sie sie durch die kombinierte Anwendung von Messmethoden (Objektivität) und Beobachtungsprozessen (Subjektivität) qualifiziert und zu „ganzheitlichen“ Beurteilungen befähigt.

Diese „ganzheitlichen“ Urteile basieren auf der Vorstellung, dass „Interaktionen“ zwischen allen gewonnenen Informationen berücksichtigt werden müssen, um Daten richtig zu „kontextualisieren“, die in einem bestimmten Bereich gesammelt wurden, in dem alles alles andere beeinflusst. Das Konzept der „Kontextualisierung“ besagt, dass Interaktanten selbst einen Kontext aktiv aufbauen und somit ihrem jeweiligen Gegenüber das Verstehen ermöglichen. Die Aufgabe der Interaktanten besteht demnach darin, „(sprachliche) Handlungen auszuführen und zugleich interpretierbar zu machen, indem (sie) einen Kontext konstruieren, in den sie sich (gleichsam) einbetten“ (Auer 1986, S. 23, Einfügung G.W.). Wichtig ist im Sinne von „Kontextualisierung“ nicht mehr ausschließlich, ob ein objektives äußeres Kontextmerkmal vorliegt, sondern ob dieses von den Interaktanten wechselseitig wahrgenommen und als aktueller Kontext verwendet wird. Aus dieser funktionalistischen Konzeption entwickeln sich diverse Forschungsprojekte, die den großen Herausforderungen des Wandels in der Arbeitswelt auf der betrieblichen Ebene untersuchen und nach seiner Wirkung und Gestaltung auf die psychischen Arbeitsbelastungsfaktoren in den Fokus stellen (z. B. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (b a u a) 2017).

Hier greifen zahlreiche Personalmanagementprogramme auf die Gestaltpsychologie zurück, die davon ausgeht, dass Wahrnehmungen von ganzheitlichen Strukturen bestimmt werden. U. a. hat das der gestalttheoretisch orientierte Neuropsychologen Kurt Goldstein als ein wichtiges Merkmal des Organismus bezeichnet. Das Theorem der „Ganzheitlichkeit“ besagt, dass der Mensch seine Identität und Individualität nur ungebrochen entfalten und zum Ausdruck bringen kann. Für den Psychologen – so Goldstein – resultieren daraus die Aufgaben, abgespaltene Aspekte der Person diagnostisch zu ermitteln und ggf. therapeutisch zu integrieren. Symptome seien als ganzheitliche Schutzreaktionen des Organismus auf schädliche Reize zu interpretieren. Zur Wahrung der Individualität muss sich der Organismus auch nach außen abgrenzen, was zur Diversität und Individualität führe. Auf der Grundlage dieser holistischen Wahrnehmungstheorie hat z. B. Fritz Perls seine Gestalttherapie entwickelt.

Während im psychometrischen Ansatz der „Biographische Diagnostik“ die Intuition der Diagnostikerin zu Hilfe kommen soll, ist es in der Gestaltpsychologie die Biologie. Beide Verfahren bemühen sich, das dynamisch Unbewusste auszuklammern. Die Ganzheitslehre (Holismus), hängt an der Vorstellung, dass natürliche Systeme, aber auch nicht-natürliche, z. B. soziale Systeme und ihre Eigenschaften, als Ganzes und nicht nur als Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten sind (Blankertz & Doubrawa 2017). Daraus ergeben sich zwar interessante Schnittmengen für bestimmte Bereiche der Supervision, aber die Denkschule des Holismus stellt sich eher als Glaubenssystem dar, denn als eine spezifische Technik von Therapie und Beratung. Auch sie basiert auf der Vorstellung, dass Beurteilungen einer Person z. B. über ihre zukünftigen Erfolge unter Berücksichtigung der „ganzen Person“, möglich seien.

Hier ist zu fragen, ob an die Stelle des „ganzheitlichen Gutachters“ auch ein „ganzheitlich orientierter“ Supervisor zu setzen ist, der zu seinen „Kunden“ Führungspersonal zählt? Für ihn wäre die Beurteilung der Persönlichkeit und deren Fähigkeit ein „ideographisches Unternehmen“, in dem die Einzigartigkeit des Individuums betont und nomothetische Verallgemeinerungen abzulehnen sind. So wie der Sozialpsychologen Allport (1959, 1970) würde auch er jede Ableitung der Motivation bei einem ‚gesunden und erwachsenen‘ Menschen von Triebbedürfnisse als eine unzulässige reduktionistische Theorie ablehnen. Müsste dann nicht im Umkehrschluss die Reduktion der Komplexität der Psychoanalyse auf die Triebtheorie ebenfalls als unzulässig erscheinen?

In den sogenannten Assessmentcentern wird weitgehend nach den Prinzipien der „Biographische Diagnostik“ unter Einbeziehung gestaltpsychologischer Elemente praktiziert. Das ermöglicht, dass die verborgene „Theorien“ der Persönlichkeit mit ihrem impliziten Menschenbild, kompatibel mit den Interessen der Auftraggeber sein müssen, sonst wäre die „Diagnose“ dysfunktional. Die Diagnostiker dürfen keinen institutionellen Dissens in ihrer Arbeit zulassen. Institutionskritik ist obsolet. Anpassung das Ziel. In den Bewerbungsverfahren entscheiden bis zu 70 % die psychologischen Gespräche über die Eignung der Bewerber.

Zu dieser Erkenntnis gelangte die (Militär-)Psychologie der 1920er Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Die technischen Entwicklungen der Kriegsmaschinerie erforderte die spezialisierte Auswahl von Soldaten. Die Heerespsychotechnik entwickelte Ausleseverfahren für Spezialisten, z. B. für die Besatzung von Kriegsfluggeräte, Horcher für U-Boote, Entfernungsmessern für die Artillerie, oder die motorisierten Mannschaften der Kraftfahrertruppen in Sonderheit der Panzerfahrer. Psychotechnische Prüfungen wurden auch für Sanitätsoffiziere eingeführt. 1927 wurde eine Kommission aus Offizieren, Sanitätsoffizieren und Psychologen berufen, die die obligatorische Eignungsprüfung für alle Offiziersanwärter durchzuführen hatte. In diesen Verfahren ging es nicht mehr um die Untersuchung spezieller Fähigkeiten, sondern um die Beurteilung von Führungsqualitäten. Der führende Vertreter dieses Prüfungsverfahrens war Max Simoneit, der als Leiter des „Psychologischen Laboratoriums im Reichswehrministerium“ und 1938 als wissenschaftlicher Leiter der „Hauptstelle der Wehrmacht für Psychologie und Rassenkunde“ in Berlin tätig war (Wittenberger 2022). Zwar hatte er die Meinung vertreten, zu einer psychologischen Untersuchung gehöre auch eine Exploration, doch dieser Teil des diagnostischen Geschehens wurde nicht nur von den Nazis skeptisch bis ablehnend betrachtet. Vor allem war der biographische Aspekt in diesem Kontext suspekt. Der Konflikt zwischen Ärzten und Psychologen verschob sich zunehmend auf den Konflikt zwischen Militärs und Psychologen, wobei die institutionellen Machtverhältnisse im „Dritten Reich“ von den „beamteten“ Psychologen vollkommen ignoriert wurden.

Aus dieser Zeit stammt die gegenwärtige Praxis der Personalauswahl in der Arbeitswelt, die den militär-historischen Hintergrund fast gänzlich ausklammert. Dazu einige historische Reminiszenzen:

Historische Aspekte

Die metrische Prüf- und Messmethoden zur Untersuchung menschlicher Unterschiede und die Vererbung von Intelligenz gehen auf den britischen Naturforscher und Schriftsteller Francis Galton (1822–1911) zurück, der als erster diese statistischen Methoden angewendet hatte. Zur Erhebung von Daten führte er die Verwendung von Fragebögen und Umfragen über menschliche Gemeinschaften ein, die er für genealogische und biografische Arbeiten, sowie für seine anthropometrischen Studien benötigt. Ein anderer Pionier auf diesem Gebiet war James McKeen Cattell (1860–1944), ein amerikanischer Persönlichkeits-Psychologe, der eine kurze Zeit mit Francis Galtons in London zusammen arbeitete. 1888 wurde er der erste Professor für Psychologie der USA an der University of Pennsylvania in Philadelphia. Dort richtete er ein psychologisches Laboratorium ein und entwickelte eine Reihe von Tests zur Eignungsdiagnostik in der Werbung und Wirtschaft (DuBois, 1970). An diese Tradition knüpfte der Neffe Sigmund Freuds Edward L. Bernays (1891–1995) an. Er hatte die unheimliche Fähigkeit, scheinbare oder tatsächliche Bedürfnisse der Öffentlichkeit zu beeinflussen, zu formen und selbst weiten Kreisen dieser Öffentlichkeit unsichtbar zu bleiben. Er war der Architekt der modernen Massenmanipulation.

Die Tradition der sogenannten ganzheitlichen Bewertung in den Auswahlverfahren wurde jedoch von Psychologen entwickelt, die außerhalb des Kreises derer standen, die ausschließlich mit Testverfahren arbeiteten. Die intellektuellen Vorfahren der sogenannten ganzheitlichen Bewertung waren von Gestaltkonzepten beeinflusst und beschäftigten sich mit der Persönlichkeitsdiagnostik zur Auswahl von Offizieren und Spezialisten während des Zweiten Weltkriegs. Die prominentesten von ihnen waren Max Simoneit aus Deutschland, W. R. Bion aus England und Henry A. Murray aus den Vereinigten Staaten.

Max Simoneit (1896–1962)

Max Simoneit war der Chef der deutschen Militärpsychologie während des Zweiten Weltkriegs. Die Deutschen glaubten, dass der Sieg von der überlegenen Führung und dem Intellekt des Offiziers abhing (Ansbacher 1941). Simoneit glaubte daher, dass die psychologische Diagnose (d.h. Charakteranalyse) von Offiziersanwärtern und Spezialisten im Mittelpunkt der Militärpsychologie stehen sollte. Die Bewertungen waren eher qualitativ als quantitativ und subjektiv statt objektiven (Burts 1942). Simoneit glaubte, dass die Beurteilung der Geheimdienste untrennbar mit der Persönlichkeitsbewertung verbunden sei (Harrell & Churchill 1941) und dass ein Offiziersanwärter in Aktion beobachtet werden müsse, um seinen Gesamtcharakter zu beurteilen. Obwohl wenig über Simoneit bekannt ist, wird angenommen, dass er bei dem Psychologen Narziss Ach (Ansbacher 1941) studierte. Ach glaubte, dass die Willenskraft eines Menschen experimentell mit einer Reihe von Unsinnssilben als Interferenz untersucht werden könnte, während ein Subjekt versuchte, einen Reim zu erzeugen (Ach 1910/2006). Wie bei Ach war die Beurteilung der Willenskraft ein zentrales Thema in Simoneits Werk (Geuter 1984). Er entwickelte Tests z. B. Hindernisparcours, die nicht absolviert werden konnten, und wiederholte Anstiege von Steigungen, bis der Kandidat vor Erschöpfung zusammenbrach (Harrell & Churchill 1941). Diese Tests wurden durch Interpretationen des Gesichtsausdruckes, der Handschrift und dem Verhalten in Rollenspielen ergänzt. Simoneits Methoden galten als innovativ und ihre Anwendung, in Kombination mit mehreren unorthodoxen Bewertungsmethoden, beeinflussten sie die Offiziersauswahlen, in Australien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten (Highhouse 2002). Aber er und sein Konzept scheiterten u.a. auch daran, dass Offiziere, Ärzte und Psychologen ihre Konkurrenz im Rahmen einer Massenorganisation unter Kriegsbedingungen nicht zu klären vermochten. Dieses Phänomen ist unabhängig von der faschistischen Staatsdoktrin des „Dritten Reiches“ zu beobachten (vgl. Eissler 2021).

Wilfred Ruprecht Bion (1897–1979)

Bion wurde in England zum Psychoanalytiker ausgebildet und gehört zu den frühen Pionieren der Gruppendynamik (Bion, 1971). Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges kommt er zur Armee und schreibt: … ‚ich ging als Major zur Armee‘ … Die Jahre … verdienen es kaum erinnert zu werden‘“ (Bion, 185, S. 45). Er sollte beim Royal Army Medical Corps (RAMC) als „Teil des psychiatrischen Dienstes … die Psyche behandeln. Nicht die Seele eigentlich – das war der Job der Seelsorge –, einfach die Psyche, wenn du weißt, was ich meine (denn ich weiß es nicht)“ (ebd., s. 47). Im Northfield Krankenhaus entwickelte er (mit John Rickman) die Idee der „therapeutischen Gemeinschaft“, die die Reform im Bereich der Psychiatrie über die Nachkriegszeit hinaus prägte.

Er weigerte sich die Pauschaldiagnosen anzuerkennen, dass „… 80 % der Belegschaft der Rehabilitationsabteilung ‚Drückeberger‘, ‚Faulenzer‘, Simulanten …, und … Bestrafung als angemessene Form der Therapie vor(zu)schlagen (wäre)“ (Bion 146). Einer seiner Mitarbeiter (Trist 2000) berichtet in den Auswahlverfahren von Offiziersanwärter, die Psychiater die Kandidaten interviewten und Psychologen eine Reihe von Tests durchführten. Dieses Verfahren führte zu erheblichen Spannungen in Bezug darauf, wie viel Gewicht der psychiatrischen gegenüber der psychologischen Schlussfolgerung beizumessen ist. Bion ging davon aus, dass Kandidaten in einer „führerlosen“ Situation (z. B. eine Gruppe, die eine schwere Last über eine Reihe von Hindernissen zu tragen hatte) ihre besonders reifen Fähigkeiten zu sozialen Beziehungen zeigen würden. Genauer gesagt glaubte er, dass der Druck für den Kandidaten, individuell eine gute Leistung zu erbringen, in Konkurrenz zu dem Druck stand, mit anderen gut zu kooperieren, um die Aufgabe zu erledigen. Die Herausforderung für den Kandidaten bestand demnach darin, seine Teamfähigkeiten durch das Medium der Gruppe zu demonstrieren. Jeder Kandidat unterzog sich einer Reihe von Tests und Übungen über einen Zeitraum von 2½Tagen. Psychiater und Psychologen tauschten ihre Beobachtungen aus, um in einem Konsens die Gesamtpersönlichkeit jedes Kandidaten zu beurteilen. Dieses Konzept widersprach allen Hierarchien der militärischen Organisations- und Disziplinierungsvorstellungen. Sein Experiment dauerte nur sechs Wochen.

Henry Alexander Murray (1893–1988)

Murray war ursprünglich Arzt. Er gab die medizinische Karriere aber schnell auf, als er für sich die Ideen Carl Gustav Jungs entdeckte. Er entwickelte eigene Ideen zur „ganzheitlichen Persönlichkeitsbewertung“, während er in den 1930er Jahren als stellvertretender Direktor und später Direktor der Harvard Psychological Clinic arbeitete. Im Zweiten Weltkrieg wurde Murray vom Office of Strategic Services (OSS) beauftragt, ein Programm zur Bewertung und Auswahl zukünftiger Geheimagenten zu entwickeln. Noch nach dieser Zeit blieb er mit zahlreichen Psychoanalytikern in der Ausbildung von CIA-Mitarbeitern tätig (Müller 2017, S. 667). In seiner medizinischen Ausbildung lernte er Teambesprechungen kennen, in denen verschiedene Spezialisten ihre Standpunkte einbrachten, um zu einer Diagnose zu gelangen. Daraus zog er den Schluss, dass in klinischen Fallstudien ein Mangel darin bestehe, dass sie von einem einzigen Autor und nicht von einer Gruppe von Gutachtern erstellt wurden. Dementsprechend stellten Murray und seine Kollegen ein OSS-Bewertungsteam zusammen, zu dem klinische Psychologen, Tierpsychologen, Sozialpsychologen, Soziologen und Kulturanthropologen gehörten. Auffallend dabei war, dass in seinem Team keine Psychoanalytiker vertreten waren, obwohl eine ganz Liste (vgl., ebd. S. 66 ff.) psychoanalytischer Mitarbeiter im OSS mitarbeiteten. Murray entwickelte das, was er als ein „organismisches Konzept“ der Bewertung nannte. Damit ist gemeint, dass jedes Erlebnis, was sich innerhalb des Organismus in einem bestimmten Augenblick abspielt und was potentiell der Gewahrwerdung zugänglich ist, ein Erlebnis des Augenblicks ist und sich nicht auf die Ansammlung vergangener Erfahrung bezieht. Es ist kein Zufall, dass Rogers (1973, S. 430) das „organismische Werten“ hervorhob, im Gegensatz zu psychoanalytischen und körperorientierten Konzepten, die in diesem Zusammenhang von Regression sprechen.

In Murray’s Verfahren hatten die Gutachter die Aufgabe aus allgemeinen Merkmalen und deren Wechselbeziehungen, spezifischer Anzeichen herauszufiltern, die von einem Kandidaten in Rollenspielen, Simulationen, Gruppendiskussionen und Tiefeninterviews gezeigt wurden, um sie dann als Schlussfolgerungen zu einer Diagnose der Persönlichkeit zu kombinierten. Seine Verfahren bildeten einige der Grundlagen für die modernen Assessment-Center, die zur Auswahl und Entwicklung von Führungskräften eingesetzt wurden (Bray 1964).

Das Spezifikum an diesen drei Figuren ist, dass sie alle Einzelgänger waren, die den Commonsense der vorherrschenden Weisheiten der Wissenschaft ablehnten. Ihrer Meinung nach lag der Schlüssel zu einer guten Messung nicht im Konsens der Methoden. Sie ermutigten vielmehr die Prüfer, ihre Testverfahren von Kandidat zu Kandidat zu variieren und den von ihnen bevorzugten Test besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Mit anderen Worten, es gab wenig Wertschätzung für die Konzepte der Zuverlässigkeit und Standardisierung. Obwohl viele den neuen Ansatz der „ganzheitlichen“ Psychologen-Pioniere feierten, stellten andere die Angemessenheit vieler ihrer Praktiken in Frage (Buchheim u.a. 1999).

Literatur:

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Dr. phil. Gerhard Wittenberger

ist Psychoanalytiker im Alexander-Mitscherlich-Institut Kassel. Außerdem ist er als Supervisor, Gruppenanlaytiker, Trainer für Gruppendynamik und Balintgruppenleiter in eigener Praxis tätig. Er publizierte zur Geschichte der Psychoanalyse und zur Biografik des Wehrmachtspsychologen Max Simoneit.

Über die Wurzeln der Personalauswahl von Führungskräften