Zur biografischen Expertise von SupervisorInnen der Kriegsenkelgeneration
„Wir dürfen annehmen, dass keine Generation imstande ist,
bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen.“
— Sigmund Freud, 1913
Am 8. Mai jährte sich das Ende der Naziherrschaft und das Ende des 2. Weltkrieges zum 77. Mal.
Heute sind es wieder Frauen und Kinder, die millionenfach auf der Flucht sind vor dem Krieg in ihrem Land. Neben großem Leid erleben die Geflüchteten aus der Ukraine allerdings auch eine beispiellose Hilfsbereitschaft und dies vielfach von Menschen, die als „Kriegsenkel“ bezeichnet werden. Macht sich hier eine besondere Expertise bemerkbar, die im Aufwachsen mit durch Kriegs-, Flucht- und Vertriebenenerfahrungen traumatisierter Menschen entwickelt wurde?
„Kriegsenkel“ gehören keiner bestimmten Generation an, sondern was sie auszeichnet, sind entscheidende Erfahrungen, die ihre Eltern, also die „Kriegskinder“, in einem bestimmten Alter in einer bestimmten Zeit gemacht haben. Insbesondere auf die Kinder der Jahrgänge 1933 bis 1939 wirkte das Kriegserleben als massive Störung der kindlichen Entwicklung ein, die dann unaufgearbeitet und unbewusst an deren Kinder – uns Kriegsenkel – weitergegeben wurde.
Insofern bezeichnet der psychoanalytische Begriff der Übertragung auch ein die menschlichen Beziehungen generell begleitendes und prägendes Phänomen, das sich auch in den Beziehungen zwischen den Generationen findet und diese im positiven wie negativen Sinn entscheidend beeinflusst. Freud bezeichnete diesen Vorgang als „Gefühlserbschaft“.
Traumatische Erfahrungen, die nicht verarbeitet und integriert werden können, bleiben eine lebenslange Belastung für die Betroffenen selbst. Sie zeigen sich aber auch im emotionalen Erleben und unbewussten Agieren ihrer Nachkommen.
Insbesondere bei Gewalt-, Kriegs- und Fluchterfahrungen treten transgenerationale Übertragungsphänomene in den nachfolgenden Generationen auf. Primäre Erkenntnisquellen der unbewussten Weitergabe und Dynamik traumatischer Erfahrungen sind zahlreiche Untersuchungen vor allem israelischer und amerikanischer Psychoanalytiker mit Überlebenden der Shoah sowie ihren Kindern ab Mitte der 60er Jahre.
Diese Befunde deckten sich weitgehend auch mit Untersuchungen bei Nachfahren von massiv traumatisierten Vietnam-Veteranen, die Symptome zeigten, als hätten sie das Trauma selbst erlitten.
Durch den zeitlichen Abstand und die zunehmende mediale Auseinandersetzung mit den Folgen von Krieg und Gewalt für Kinder und Enkel stößt das Thema weitergegebener Traumata inzwischen auf wachsendes Interesse. Das Schicksal der einstigen Kriegs- und Flüchtlingskinder drang somit ins öffentliche Bewusstsein. In dessen Folge begannen ihre Nachkommen über das Aufwachsen bei ihren Kriegskinder-Eltern zu sprechen und zu schreiben – über den langen Schatten, der sich auch auf ihr Leben erstreckt.
Bis dahin hatten sich die zwischen den 50er und 80er Jahren Geborenen zahlreiche Phänomene in ihrem Leben nicht erklären können, schließlich waren sie doch in Frieden und wachsendem Wohlstand aufgewachsen. Viele erinnern sich, dass sie von klein auf die innere Verpflichtung spürten, die seelischen Wunden der Eltern zu heilen, indem sie brave Kinder waren, die funktionierten, wie die Eltern es erwarteten. Das eigene Bemühen kreiste darum, für die Eltern da zu sein. In dieser Rollenumkehr wurden viele zu Eltern ihrer Eltern.
Viele entwickelten früh eine hohe Wahrnehmungsfähigkeit und emotionale Reaktivität, um schnell zu begreifen, in welcher Verfassung Mutter oder Vater sind, um dann gute Laune um sie zu verbreiten.
Eine erwartete hohe Leistungsbereitschaft in Schule und Ausbildung sowie das Gefühl, schon sehr früh für sich selbst sorgen zu müssen, wurde von vielen als überfordernd erlebt. Selten habe es jemanden gegeben, der sie jenseits jeglicher Leistung als liebenswert bezeichnet hätte. „Du sollst es einmal besser haben“ bedeutete, sich dafür anzustrengen und den Eltern „keinen Kummer“ zu machen oder ihnen „zur Last fallen“.
Viele berichten, dass sie die Liebe ihrer Eltern zwar spürten, diese ihnen ihre Zuneigung aber oft nur indirekt mitteilen konnten, z. B. durch das reichliche Zubereiten von Lieblingsspeisen oder das Zustecken von Geld. „Über Gefühle wurde zuhause nicht gesprochen“ oder „Meine Eltern kommen mir heute noch fremd vor“. „Mit meinen Problemen blieb ich meistens allein“; dies entsprach offenbar der Vorstellung der Eltern, dass ihre Kinder mit ihren Sorgen und Nöten schon selbst zurechtkämen.
So wie in der aktuellen Kriegssituation waren auch die damaligen Mütter mit ihren Kindern über Wochen und Monate bis zur Erschöpfung auf der Flucht und in Schutzlosigkeit lebensbedrohlichen Erfahrungen ausgesetzt. Sie haben Erschießungen mit ansehen müssen und Leichen, die am Wegesrand lagen. Ihre Mütter waren – genau wie heute in der Ukraine – Vergewaltigungen und anderen Gewalterfahrungen ausgeliefert. Hinzu kam für viele nach der Flucht die ernüchternde Erfahrung, sich nicht willkommen zu fühlen, sondern eher wie Fremde im eigenen Land, der „Kalten Heimat“.
Die meisten Kriegskinder erfuhren durch die kriegsbedingten Erfahrungen und das Zusammenleben mit ihren ihrerseits traumatisierten Eltern vielfache und anhaltende Traumatisierungen. So waren die Eltern selten in der Lage, auf ihre belasteten Kinder einzugehen. Sie hatten ja selbst den Kontakt zu sich verloren. So war der „Verlust des Selbst“, wie Arno Gruen schreibt, eine Grundkonstante der Zeit.
Die Großeltern- und Elterngeneration, die die Schrecken des Krieges erlebt hatten, versuchten durch Vergessen, durch Schweigen und durch gutes Funktionieren dazu beizutragen, „dass es weitergeht“. Wiederaufbau und Wirtschaftswunder täuschten über Schmerz, Angst, Wut und Trauer hinweg und sollten Krieg, Flucht und Vertreibung vergessen machen.
Glaubte man anfangs, der Krieg selbst sei die stärkste Belastung der sogenannten Kriegskinder gewesen, so wird in neueren Untersuchungen die Nachkriegszeit als die ‚weitaus schlimmste Zeit‘ beschrieben, in der die Kinder unter dem Anblick unzähliger Kriegsversehrter litten und deren aggressiven Ausbrüchen und Übergriffen, unter völlig überlasteten Müttern und dem Schweigen in den Familien.
Ihre kollektive Verletzung spiegelt sich in ihren durch die Nachkriegszeit geprägten Bindungs- und Erziehungserfahrungen wider. Die Botschaft in den 50er- und 60er-Jahren war die Verleugnung der Kriegstraumatisierung der Familien, dem Erleben existenzieller Not, unfassbarer Zerstörung, Verlust und vor allem: seelischer Entwurzelung.
Das Bedürfnis nach Ablenkungen wurde mit Varietés, Boulevard-Komödien, musikalischen Lustspielen und Operetten erfüllt. Die Fantasiewelt des Theaters erlaubte eine Distanzierung vom eigenen Schicksal, hier durfte mitgelacht und mitgeweint werden.
Beispielhaft für den Wunsch zu vergessen, stehen diese Liedzeilen aus der Operette „Land des Lächelns“ von Franz Lehar:
„Immer nur lächeln und immer vergnügt,
Immer zufrieden, wie’s immer sich fügt.
Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen,
Doch wie’s da drin aussieht, geht niemand etwas an.
Immer nur lächeln und immer vergnügt,
Immer zufrieden, wie’s immer sich fügt,
Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen,
Doch niemals zeigen sein wahres Gesicht.“
Die „Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann und andere seiner Filme oder die „Sissi“-Filme waren Ausdruck der Sehnsucht nach der heilen Welt und kollektiver Dissoziation.
„Nicht zu fühlen“, dieser Überlebensmechanismus bewirkte, sich emotional nicht berühren zu lassen, eigene Bedürfnisse und Ängste nicht wichtig zu nehmen und folglich auch, mit den Bedürfnissen und der Not ihrer Kinder nicht umgehen zu können.
„Stell dich nicht so an!“, „Das hat doch gar nicht wehgetan!“, „Das ist doch gar nicht schlimm, es gibt Schlimmeres!“, „Erst die Arbeit, dann das Spiel!“ u.v.a. waren Sätze, die in meiner Generation der in den 50er-Jahren Geborenen jeden Tag zu hören waren.
So wie die Generation der Kriegskinder ihren Angst- und Schutzbedürfnissen ausgeliefert waren, so war es auch für sie als Eltern schwer, mit den Gefühlen ihrer Kinder umzugehen. Weinende Mädchen wurden als „Heulsusen“ ausgelacht und der Schmerz von Jungen mit „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ weggeredet.
Martin Miller, der Sohn der renommierten Kindheitsforscherin Alice Miller, beschreibt in seinem Buch „Das wahre ‚Drama des begabten Kindes‘“ die Beziehung zu seiner Mutter: „Auch wenn sie so viele Dinge richtig gesehen hat in ihren Büchern. Es ist meine persönliche Tragödie, dass ich es als Kind von Eltern der Kriegsgeneration nicht geschafft habe, eine emotionale Beziehung zu meinen Eltern aufzubauen (…) Heute bin ich davon überzeugt, dass die Unfähigkeit Alice Millers, für mich eine liebevolle Mutter zu sein, in dem fest abgekapselten Trauma der Verfolgungsjahre von 1939 bis 1945 begründet liegt“, schreibt der Psychotherapeut Martin Miller. Über das unausgesprochene Verbot, die Schweigemauer seiner Mutter zu durchbrechen, sagt Miller: „Wie meine Mutter in ihrem ersten Buch ‚Das Drama des begabten Kindes‘ ja hervorragend beschrieb, haben Kinder eine außerordentliche Begabung, elterliche Bedürfnisse auch nonverbal genial zu erfassen. Sie verstehen perfekt, was von ihnen erwartet wird, und verhalten sich entsprechend. Das habe ich auch getan. (…) Auf diese Weise wurde ich emotional ein Teil der Holocausterfahrung meiner Mutter – natürlich ohne es zu wissen“. So wie Martin Miller haben viele, deren Eltern in ihrer Erschöpftheit und seelischen Bedürftigkeit stets die Aufmerksamkeit ihrer Kinder auf sich zogen, viel Leid erfahren. Andererseits berichten viele, war die kindliche Rollenumkehr in Form der Sorge um die Eltern aber auch mit Stärke verbunden.
Die erworbenen Kompetenzen im Umgang mit ihren an Leib und Seele verletzten Eltern führte bei vielen dazu, das Helfen zu professionalisieren und sich als Sozialarbeiter, Psychologen, Supervisoren, Betreuer in allen Feldern der Sozialen Arbeit u.a. in den Dienst von Menschen zu stellen, die ihrer Hilfe bedurften.
Seitdem Sabine Bode vor knapp 20 Jahren mit ihren Büchern „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“ dieses Thema gesamtgesellschaftlich geöffnet hatte, machte plötzlich vieles, was einem an sich selbst fremd war, einen Sinn. Die, die vorher gedacht hatten, sie hätten seltsame Macken, sie wären „komisch“ oder eine komplizierte Persönlichkeit, fanden hier Erklärungen dafür. Heute, in der Retrospektive, können sie sich im zeitgeschichtlichen Zusammenhang besser verstehen.
Das, was in den eigenen Familien erfahren wurde, waren aber auch Ressourcen, aus denen sich Kompetenzen entwickelten, die nun die 70er Jahre aktiv mitprägten. Die dafür in dieser Zeit für alle Bevölkerungsschichten bereitgestellten Bildungschancen, die Einführung des BAföG usw. stellten einen Aufbruch dar, der die Gesellschaft veränderte.
Mit der Frage „Was hat das mit mir zu tun?“ wurde das Private politisch, und stellte einen Zusammenhang her zwischen sich, dem Aufwachsen der eigenen Eltern in Kriegszeiten und den wahrgenommenen eigenen Blockaden und Potenzialen. Das Ergebnis sieht man in der Nachfolgegeneration, beispielsweise an der Elternzeit für Väter oder der Einstellung, dass Karriere nicht mehr alles bedeutet. Diese jetzige Generation befragt vieles noch genauer auf seine Sinnhaftigkeit hin als die bisherigen.
Schon in den 60er Jahren hatte die Generation der Kriegsenkel damit begonnen, ihre Gefühle zu entdecken und differenziert über sie zu sprechen. Aufgewachsen in Familien, in denen hauptsächlich Zuschreibungen üblich waren, wie „Du schaffst das!“, „Du bist unsere Brave!“, „Auf Dich kann ich mich verlassen!“, bedeuteten diese auch immer das Ende jeglicher Diskussion. Nun stand dem ein differenziertes Sprechen über differenzierte Gefühle gegenüber, was sich in allen Ausdrucksweisen der Literatur, z. B. der Neuen Subjektivität widerspiegelte. Aus heutiger Sicht waren dies Meilensteine, die die Generation der Kriegsenkel als Erfahrungen weiterreichen konnte.
Angesichts der aktuellen Kriegssituation in der Ukraine birgt die biografisch entstandene Kraft der Kriegsenkelgeneration für SupervisorInnen eine zeitgeschichtlich bedeutsame Chance, kriegs- und fluchtbetroffenen Menschen mit der in den Nachkriegsjahren entstandenen Einfühlungsgabe zu begegnen.
SupervisorInnen der Kriegsenkelgeneration, die in Flüchtlingsunterkünften mit MigrationsberaterInnen oder mit ehrenamtlichen HelferInnen arbeiten, wissen um die traumatischen Erfahrungen der Mütter mit ihren Kindern. Die täglichen Bilder von zerbombten Städten, weinenden Frauen, Männern und Kindern lassen in ihnen lebendig werden, was sie jahrelang bis zum Übermaß an „Geschichten aus dem Krieg“ erzählt bekommen hatten, das Ausmaß des Furchtbaren aber vielleicht erst heute angesichts der täglichen Bilder zu ermessen vermögen.
Diese Einfühlung in die Bedrohungserfahrung der jetzt aktuell kriegsbetroffenen Menschen aus der Ukraine ermöglicht einen Zugang zu dem erlittenen und fortwährenden Leid, besonders der geflüchteten Kinder.
Migrationsberaterinnen, die Unterkünfte für Familien, hauptsächlich Frauen mit ihren Kindern, aus der Ukraine betreuen, berichten in der Supervision, dass die Mütter in einer Art Laissez-faire-Haltung ihre Kinder auffällig sich selbst überlassen. Sie selbst seien die meiste Zeit mit ihrem Smartphone beschäftigt,
Mir fällt auf, wie ernst und auffällig angepasst die meisten Kinder auf mich wirken. Äußerlich scheinen sie mit allem Nötigen gut versorgt zu sein. Den o.g. Beobachtungen der Migrationsberaterinnen nach aber scheinen die Mütter durch ihre eigenen psychischen Belastungen nicht in der Lage zu sein, ihre Kinder wirklich wahrzunehmen. Nach Arno Gruen erscheint diese für das Kind mentale Abwesenheit der Mutter als Antwort auf sein Sein. Es entwickelt bei Anhalten dieses Zustandes ein fremdes Selbst, das sich nun selbst und seine Bedürfnisse und Wahrnehmungen abzulehnen beginnt, so wie es auch seine Mutter tut.
In Supervisionsprozessen ist es aus meiner Sicht besonders gegenüber jungen und im Umgang mit traumatisierten Menschen unerfahrenen SupervisandInnen von unerlässlicher Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass durch das Fehlen eines in dieser besonderen Lebenssituation behütenden und emotional zuverlässigen Rahmens, ein fataler Prozess in Gang gesetzt wird, wie viele der Kriegsenkel ihn an Leib und Seele selbst durchlitten haben.
Zahlreiche Untersuchungen belegen bei traumatisierten Eltern ein sichtbar anderes Bindungsverhalten als vor der traumatischen Erfahrung. Ihre Gesichtsmimik friert ein, so dass sie keine Regung zeigen und kaum auf ihre Umwelt reagieren. In der Folge dieser fehlenden Resonanz entwickeln Kinder psychische Störungen, die ihren Ursprung in den Traumata der Eltern haben.
Kriegsenkel-SupervisorInnen wissen in besonderer Weise um die Auslassungen als Weitergabemechanismen transgenerationaler Traumata. Schweigen und Auslassen sind für sie bekannte atmosphärische Transportwege, die es der kindlichen Phantasie überlassen, was verschwiegen wird. Weil die Kinder spüren, dass etwas unausgesprochen bleibt, schweigen auch sie, um die Eltern nicht noch mehr zu belasten. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte erinnern SupervisorInnen die Schicksale ihrer Großmütter, die ebenfalls nach der Flucht „ihren Mann stehen“ und die Ungewissheit aushalten mussten, ob sie den Ehemann je wiedersehen würden. Viele Großmütter hatten schließlich keine verlässlichen Partner mehr an ihrer Seite, sondern versehrte Männer, die noch in Gehorchen-Befehlen-Strukturen verhaftet waren, während die Frauen selbstständig ihre Familie managen mussten. So standen unzählige Beziehungen zwischen Mann und Frau nach dem Krieg auf einem Prüfstand und es gab im Vergleich zu heute mindestens so viele Scheidungen.
Auch dies sind Aspekte, die in Supervisionsprozessen mit haupt- und ehrenamtlichen BetreuerInnen von ukrainischen Frauen und Kindern wohl zur Sprache kommen und mit der Expertise von SupervisorInnen authentisch bearbeitet werden können, die sich in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen familiären Vergangenheit heute als sekundärtraumatisiert begreifen.
Ebenso haben Supervisoren dieser Generation in der eigenen Familie oder vielleicht an sich selbst erlebt, dass unbehandelte Traumata zu Traumafolgestörungen führen, wie Angststörungen, Depressionen oder struktureller Dissoziation. Weil das Gehirn das Erlebte nicht adäquat verarbeiten kann, werden in der Folge die traumatischen Erlebnisse vom Rest des Ich abgetrennt. Gelingt es nicht, diese abgespaltenen Anteile wieder zurückzuholen, kann in der Folge kein ganzheitliches Ich mehr entstehen.
Für Michaela Huber ist die Wiederholung und die Reinszenierung die häufigste Form von nichtbewältigten traumatischen Erfahrungen. „Was man selbst nicht bewältigt hat, das wiederholt sich mit den eigenen Kindern.“ Die Angst der Eltern vor einem Einmarsch der russischen Armee kennen die Kriegsenkel nur zu gut. Im Kalten Krieg war schon allein die Partei der SPD für viele mit „den Russen“ assoziiert. Für die Ukrainer wird der russische Überfall auf ihr Land für immer ein Trauma bleiben, das sich in Überwältigungsgefühlen reinszenieren kann.
SupervisorInnen, die in diesen Kontexten arbeiten, ist schmerzlich bewusst, was traumatisierte Menschen mit Schweigen über das Erlebte riskieren, nämlich dass sie ihr eigenes Leid unbearbeitet lassen und auf ihre Kinder weiterübertragen.
So können SupervisorInnen der Kriegsenkel-Generation hilfreich sein in der Unterstützung und Integration von Menschen aus der Ukraine, wenn sie
- den Mitarbeitenden in den Unterstützungssystemen Einblick gewähren in evtl. eigene Erfahrungen in der Nachkriegszeit
- mit den BetreuerInnen überlegen, wie sie die Geflüchteten sensibel zum Sprechen über das Erlebte ermutigen können
- die BetreuerInnen dabei begleiten, die Ressourcen der Geflüchteten und die daraus resultierenden Kompetenzen für ihr weiteres Leben herauszustellen
Vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges sind SupervisorInnen der Kriegsenkel-Generation aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte ausdrücklich auch ExpertInnen hinsichtlich der Auswirkungen dieses Krieges auf die Betroffenen sowie auf die mit ihnen Zusammenlebenden und -arbeitenden.
Sie verstehen sich als vom Schicksal ihrer Großeltern und Eltern sekundär Betroffene und daher mit persönlichen Ressourcen und spezifischen Fähigkeiten ausgestattet, die ihre Expertise rechtfertigen.
Literatur:
- Alberti, Bettina. Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er Jahren. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. München: Kösel, 2010
- Bachmann, Maria. Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast. Von einer, die ausbrach, das Leben zu lieben. München: Knaur, 2019
- Bode, Sabine. Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart: Klett-Cotta, 2008
- Bode, Sabine. Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart: Klett-Cotta, 2014
- Drexler, Katharina. Ererbte Wunden heilen. Therapie der transgenerationalen Traumatisierung. Stuttgart: Klett-Cotta, 2017
- Gruen, Arno. Ich will eine Welt ohne Kriege. Stuttgart: Klett-Cotta, 2006
- Huber, Michaela. Der innere Ausstieg. Transgenerationale Gewalt überwinden. Norderstedt: Books on Demand, 2018
- Miller, Martin. Das wahre ‚Drama des begabten Kindes‘. Die Tragödie Alice Millers. Freiburg i. Br.: Herder, 2014
- Reddemann, Luise. Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie. Folgen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs erkennen und bearbeiten. Eine Annäherung. Stuttgart: Klett-Cotta, 2017
- Schneider, Michael, und Joachim Süss. Nebelkinder. Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte. Berlin: Europa, 2015
Juliane Hecker
studierte Theologie und Germanistik und war zuletzt in der Ausbildung von Jugend- und HeimerzieherInnen an einer Fachschule tätig. Seit einigen Jahren führt sie als Supervisorin ihre eigene Praxis in der Pfalz. Sie ist Lehrbeauftragte für Supervision an der Kath. Hochschule Mainz und arbeitet als Supervisorin schwerpunktmäßig in sozialen und kirchlichen Feldern. Außerdem leitet sie Workshops im Bereich Motivierende Kurzintervention mit Eltern und ist in der kirchlichen Präventionsarbeit tätig.