Woran erkennen wir Lehrsupervisoren1, dass die Lehrsupervisanden eine supervisorische Haltung entwickeln?

mutig – spirituell – geduldig

Wenn angehende Supervisoren/Coaches die in der Supervisionsausbildung vermittelten Inhalte aus Psychoanalyse, Gruppendynamik und Organisationssoziologie zunehmend verstehen und integrieren können, wird das insbesondere in der Lehrsupervision erkennbar. Durch das Anwenden dieser Lerninhalte in ihrer supervisorischen Praxis in Verbindung mit der Weiter-Entwicklung ihrer Kompetenz zur Selbstreflexion, entfalten und festigen sie Schritt für Schritt ihr persönlich-professionelles Beratungsverständnis. Wenn dann noch ETWAS hinzukommt, das nicht wirklich erlernt, sondern eher erfahren werden kann, das schwer zu versprachlichen ist, was nicht-konkret und nicht-messbar ist, dann wird der sich entwickelnde, supervisorische Habitus für mich als Lehrsupervisor spürbar.

Mut eröffnet den Weg dorthin. Denn schon bei der Bewertung der Anfrage nach Supervision benötigen insbesondere Lehrsupervisanden den Mut zu prüfen, ob sie den Auftrag überhaupt annehmen wollen. Passt die Organisation, die anfragt oder für die die potenziellen Supervisanden/Coachées arbeiten, zum eigenen Wertesystem? Traue ich mir den Auftrag zu? Oder, kann ich es mir überdies leisten, einen Auftrag abzulehnen? Ich benötige doch die für die Ausbildung geforderten Prozesse.

Es folgt dann eventuell die dynamische Kontraktgestaltung. Auch hier ist wieder Mut gefragt. Jetzt geht es darum, weder machtorientiert noch unterwürfig oder mit dem moralischen Zeigefinger, mit den Entscheidungsträgern und den Supervisanden den Beratungsauftrag zu klären. Auftraggeber wünschen häufig Problembearbeitung nach eigenen Vorstellungen. Lehrsupervisanden üben sich darin, mutig und geduldig ihre eigene Diagnose zu erstellen und Problembeschreibungen zu überprüfen.

Und schließlich wird der Kontrakt mit weiteren wichtigen Details, z. B. dem Honorar, verhandelt. Hier benötigen sie Mut für selbstreflexive Fragen und für die eigentliche interaktive Verhandlung. Was kann ich denn schon? Was bin ich wert? Wie hoch soll mein Honorar sein? Wie kann ich das begründen?

Und dann sollten die Settingbedingungen auch noch so gestaltet werden, dass die zu Beratenden und die Berater an ihre jeweiligen Ressourcen kommen.

Berater in Anfangssituationen sind häufig solchen verunsichernden Momenten ausgesetzt. Der notwendige Mut oder die Fähigkeit, mit Unwägbarkeiten umzugehen, kann allmählich entwickelt, verfeinert und stabilisiert werden. Die Bereitschaft, solche Erlebnisse anzunehmen, zu deuten und mitzugestalten, ist Chance für Entwicklung und Reifung zur supervisorischen Haltung. Und diese Entwicklung führt zu dem, was ich spirituell nenne.

Supervisorische Beratung braucht neben Theorie und wirkungsvollen Methoden, Techniken und Handwerkszeug auch eine geistige (lateinisch: spirituelle) Basis. Es geht dabei nicht um Religion oder Kirche, sondern um eine Geisteshaltung. Die innere Haltung, mit der Supervisoren anderen Menschen begegnen, wie sie sich verhalten und mit der sie etwas tun, kann sehr kraftvoll und energetisch wirken. Das gilt selbstverständlich auch für die Supervisanden.

Diese Haltung erleichtert es, Supervision so mitzugestalten, dass sie zu einer Zeit erhöhter Bewusstheit und ein produktiver und schöpferischer Ort werden kann. In einer solchen Atmosphäre kann es Supervisanden und Coachées zunehmend gelingen, innezuhalten, sich zu sammeln, selbstreflexiv und sich mit Ruhe und Abstand den beruflichen und mitunter auch den privaten Auflagen und Verpflichtungen zu widmen.

Dann kann Supervision einladen, nicht nur berufsrollenbezogene, sondern auch individuell-persönliche Einstellungen, eingeschliffene Denk- und Verhaltensweisen und organisationsbezogene Strukturen, Prozesse, und Arbeitsabläufe konstruktiv zu hinterfragen und zu verändern. Dann können Supervisanden und Coachées lernen, nicht nur Antworten zu fordern, sondern auch die Fragen wertzuschätzen. Fragen inspirieren mehr als Antworten. Sie öffnen Räume.

Doch die aufdeckende Wirkung von Supervision kann auch als Zumutung empfunden werden und verunsichern. Mit den eigenen Vorlieben, Vermeidungen, Unzulänglichkeiten und Widerständen in Berührung zu kommen, ist meist keine angenehme Übung. Da ist es hilfreich, dass die Lehrsupervisanden, die damit nicht selten verbundenen schmerzlichen Erfahrungen aus eigenem Erleben kennen. Und sie wissen, dass sie Geduld benötigen. Geduld mit den Supervisanden und Geduld mit sich.

Denn Erkenntnis und Vernunft haben allein nicht ausreichend Kraft, prägende Muster, alte Überzeugungen, Einstellungen und Verhalten zu verändern. Supervisanden sind oft ungeduldig, weil sie sich rasche und pragmatische Lösungen wünschen. Supervisoren, erfahrene wie Lehrsupervisanden, sind oft ungeduldig, weil sie schon sehen, wie es gehen könnte. Doch solche Veränderungsprozesse brauchen Zeit, eine entsprechende Umgebung und eine geduldige, aufmerksame und mitfühlende Begleitung.

Sich diesen Anforderungen zu stellen, die Ungeduld anzunehmen, auszuhalten und sie bei Bedarf in Gelassenheit zu transformieren, gehört mit zur Kompetenzentwicklung der angehenden Supervisoren. (Manchmal hilft auch Ungeduld.)

Solch eine begünstigende Atmosphäre wird nicht hergestellt oder gemacht. Sie kann entstehen. Der Rahmen kann gesetzt werden, dass sich ein entsprechender Geist entwickeln kann – in der Supervision und in der Lehrsupervision.

Wenn ich spüre, dass Lehrsupervisanden immer wieder versuchen, mutig und geduldig, neben dem Geerdeten und dem Pragmatischen, auch dem Nicht-Konkreten, dem Nicht-Messbaren, dem kognitiv Nicht-Begreifbaren, dem Spirituellen eben, bei sich und anderen in der Supervision Räume zu öffnen, entdecke ich den supervisorischen Habitus bei ihnen.


Literatur

  • Assländer, Friedrich, Grün Anselm (2006), Spirituell führen, Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach
  • Assländer, Friedrich, Grün Anselm (2008), Spirituell Zeit gestalten, Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach
  • Assländer, Friedrich, Grün Anselm (2010), Spirituell arbeiten, Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach
  • Leuschner Gerhard (2020), Das eigentlich Supervisorische – Wie schafft man es,  vertrauensvolle Beziehungen zwischen Ungleichen zu gestalten? Eine Professionsreflexion, Journal Supervision
  • Renn, Klaus, Bickel-Renn, Silvia (2012), Innere Achtsamkeit in Kontext und Situation, in: Hänsel, M., Die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
  • zur Bonsen, M., Mathys, M. (2012), Inseln der Lebendigkeit, in: Hänsel, M., Die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Habitusbildung in der Lehrsupervision

Klemens Kötters

selbständig seit 1995, Supervisor und Coach, DGSv, Lehrsupervisor, Trainer und Ausbilder für Gruppendynamik und Organisationsdynamik DGGO, Organisationsberater, Psychotherapeut HPG — Weiterbildungen: Focusingtherapie, analytische Gruppentherapieausbildung, Sozialpsychiatrie, Supervision in der Wirtschaft, Dipl. Sozialarbeiter, Schriftsetzer — Qualitätssicherung: Balintgruppe, Kontrollsupervision, Kollegiale Beratung, Schweigeretreats, Fachliteratur, Kongresse, Fachtagungen — www.koetters.org

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