eines Psychologen, Psychotherapeuten und Supervisors
Nach einigen anderen beruflichen Stationen habe ich im September 2022 die therapeutische Leitung der allgemeinpsychiatrischen Aufnahmestation des ZfP Südwürttemberg am Satellitenstandort Biberach übernommen.
Das erste Einarbeitungsjahr liegt hinter mir und ich nehme die Anfrage des FIS für einen Newsletter-Beitrag als willkommenen Anlass, mit etwas Abstand auf meine Arbeit und die damit verbundenen Herausforderungen, Verwicklungen und Ambivalenzen zu schauen …
Gesellschaftliche Funktion der Akutpsychiatrie
In unserer Station werden Menschen mit schweren, akuten oder chronischen psychischen Erkrankungen behandelt. Und es kommen auch Menschen in existentiellen persönlichen Krisen, die nicht im engeren Sinn psychisch krank sind.
Viele Menschen kommen aus eigenem Antrieb oder auf Anraten von Verwandten und Freunden freiwillig zur Behandlung. Personen, die in Einrichtungen der gemeindepsychiatrischen Versorgung leben, werden oft auch von den sie dort Betreuenden zur Behandlung motiviert.
Immer wieder werden Patientinnen und Patienten aber auch von Polizei oder Rettungsdienst gebracht, wenn die Betroffenen auffällig geworden sind oder selbst um Hilfe gerufen haben, eine somatische Verursachung als unwahrscheinlich gilt oder schon ausgeschlossen wurde und deshalb eine psychische Erkrankung als Ursache vermutet wird. Häufig lehnen diese Patient/innen eine Behandlung ab, da sie sich entweder nicht für psychisch krank halten oder bereit sind, mit ihrer Erkrankung ohne Behandlung zu leben. In diesen Fällen kann zur Klärung der Situation eine „fürsorgliche Zurückhaltung“, die i. d. R. bis maximal 48 Stunden erlaubt ist, erfolgen. Häufig stellt sich in diesem Zeitraum heraus, dass zwar vermutlich eine psychische Erkrankung, die auch eine Behandlung sinnvoll erscheinen lässt, vorliegt, aber keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung besteht. Dann erfolgt meist eine Entlassung gegen ärztlichen Rat. Dies führt nicht selten zu großer Unzufriedenheit bei Angehörigen, Nachbarn, Polizei oder Rettungsdienst, da diese dann oft bald erneut mit einer Problematik, die sie hilflos macht, konfrontiert sind. Eine besondere emotionale Schwierigkeit entsteht durch die Mischung aus Hilfsbedürftigkeit eines Menschen, die Mitgefühl und Fürsorge auslöst, und Angst aufgrund von auffälligem Verhalten, das irritiert, stört und auch bedrohlich wirkt. Daraus ergibt sich eine erhebliche Ambivalenz, die sich nicht auflösen lässt.
Generell ist festzustellen, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit gibt, die Möglichkeit einer eindeutigen diagnostischen Klärung meist überschätzt wird, und die Problematik, dass Krankheitseinheiten keine Wahrheiten sondern zwar faktenbasierte, aber eben doch nur vorläufige Übereinkünfte darstellen, nicht gesehen wird.
Eine ganz spezielle Situation ergibt sich, wenn Menschen trotz erfolgter und abgeschlossener Behandlung weiterhin sich selbst gefährden und es keinen Platz gibt, der ihrem Hilfebedarf gerecht wird. So kommt es im Bereich der Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, Autismus und schwerer Auto- oder Fremdaggressivität, oder bei Menschen mit Demenz im fortgeschrittenen Stadium immer wieder zum unnötigen und für diese Menschen unwürdigen Verbleib in Akutstationen. Diese Problematik scheint sich angesichts des zunehmenden Personalmangels im Pflegebereich zu verschärfen.
Sprache:
Wenn Menschen an etwas leiden, das sich nicht mit apparativen Untersuchungen objektivieren lässt (und in der Psychiatrie gibt es nur ganz wenige objektive Parameter, die beim Verstehen helfen), dann wird die Sprache das entscheidende Mittel der Untersuchung. Schon Dialekte können zu Verständnisschwierigkeiten führen. Und auch unterschiedliches Bildungsniveau erschwert manchmal das gegenseitige Verstehen. Beide Aspekte lassen sich durch Verlangsamung, bewusstes Wählen der Worte und gezieltes Nachfragen in der Regel kontrollieren.
Was aber, wenn Patient/in und Untersucher/in keine gemeinsame Sprache sprechen? Dann benötigt es jemanden, die/der übersetzt. Früher waren das Menschen. Heute kommt durch die KI-unterstützte Entwicklung von Übersetzungs-Apps auch das fast überall genutzte Smartphone in Frage.
Wird ein/e fremdsprachige/r Patient/in aufgenommen, ist mit Glück unter den Kolleg/innen jemand, der dolmetschen kann. Allerdings kommt dann im klinischen Alltag auch gleich das Thema Zeit ins Spiel. Wie viel Zeit haben wir, zwei Mitarbeiter/innen in einem Gespräch zu binden, das eigentlich nur durch eine Person geführt wird?
Und es stellen sich noch andere Fragen. Teils bieten sich Angehörige als Dolmetscher an. Dann ist immer vorsichtig zu klären, ob die Angehörigen wirklich „nur“ dolmetschen, oder eigene Interessen verfolgen. Bei Frauen, denen eine Zwangsheirat droht, ist z. B. ein Dolmetscher der Familie vermutlich eher nicht geeignet. Und direktes Nachfragen bei der/dem Patienten/in ist oft auch nicht hilfreich, da bei einem Teil der Patient/innen große Zweifel vorhanden sind, ob dem Personal in der Klinik vertraut werden kann.
Eine hilfreiche Möglichkeit sind über Telefon zu erreichende Dolmetscher/innen, die meist relativ kurzfristig verfügbar sind. Allerdings fehlt beim Dolmetschen über das Telefon der Sichtkontakt, was das gegenseitige Verstehen und die Möglichkeit, bei emotional berührenden Themen behutsam vorzugehen, spürbar erschwert.
Beim Nutzen von Übersetzungs-Apps wird der Datenschutz in der Regel nicht thematisiert. Sofern die Patient/innen ihr eigenes Smartphone nutzen, wird das in der alltäglichen Praxis in den meisten Fällen so akzeptiert, ist aber sicherlich kritisch zu hinterfragen.
Und generell stellt sich natürlich auch die Frage nach der Qualität der Übersetzung, die für uns Untersucher/innen, wenn wir die Sprache nicht sprechen, nicht einzuschätzen ist. Aber der ausschließliche Einsatz zertifizierter Übersetzer/innen ist weder organisatorisch noch finanziell möglich.
Telefon:
Es ist gängige Praxis, dass jede/r Mitarbeiter/in auf Station ein eigenes, tragbares Telefon ständig bei sich führt. Oft ist mit dem Telefon auch die Alarm-Funktion verbunden, so dass das ständige Mitsichführen durchaus sinnvoll ist.
Es wird allerdings selten reflektiert, ob es nötig und sinnvoll ist, jederzeit telefonisch erreichbar zu sein. Wie häufig wird ein Telefonat angenommen und dann endet das Gespräch nach Kurzem mit „… ich bin gerade im Gespräch und ruf dich nachher zurück.“ Teils sind Klingeltöne sehr laut, damit man sie auch in unruhigen Situationen hört, führen damit aber natürlich auch ihrerseits zu einer Steigerung des Geräuschpegels in der Station. Manche Mitarbeiter/innen wählen individuelle Klingeltöne, was oft zu Erheiterung führt, es aber auch hinterfragt werden kann, ob eine Trompetenfanfare in einer sensiblen Gesprächssituation nicht doch unangemessen ist.
Die Frage, wer wann sein Telefon auf lautlos stellt, oder es z. B. in Besprechungen überhaupt bei sich tragen muss, bedarf der ständigen aktiven Klärung.
Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit
Ein Fehler erster Art ist es, wenn wir eine/n Patient/in entlassen und sie/er kurz nach der Entlassung sich selbst oder jemand anderem Schaden zufügt. Der Fehler zweiter Art ist, wenn wir jemand gegen seinen Willen fürsorglich zurückhalten bzw. versuchen richterlich unterbringen zu lassen, ohne dass sie/er für sich oder andere eine reale Gefahr dargestellt hat.
Im ersten Fall wird es viele kritische Fragen und ggf. auch Ermittlungen und Strafen geben. Im zweiten Fall passiert i. d. R. nichts. Damit ist die Gefahr verbunden, im Zweifelsfall immer den Fehler zweiter Art zu „bevorzugen“, was weder für die Patient/innen noch für den Gewinn an Erfahrung im therapeutischen Handeln akzeptabel erscheint. Deshalb ist es notwendig, eine Fehlerkultur zu entwickeln, die das Auftreten von Fehlern erster Art akzeptiert und nach Auftreten nicht nach „Schuldigen“ sucht, sondern den Entscheidungsprozess kritisch reflektiert. Es stellt für Leitungsverantwortliche, aber eigentlich für alle Mitarbeitenden, eine wichtige Aufgaben dar, Fehler wahrzunehmen, die Ursachen zu untersuchen, daraus einen Lerneffekt zu entwickeln und dabei auf das Zuweisen von Schuld zu verzichten. Auch hier gibt es dann natürlich die Spannung zwischen der Akzeptanz des Auftretens von Fehlern und dem Einfordern von fachlich qualifiziertem und sorgfältigem Handeln. Die Akzeptanz von Fehlern bedeutet keine Akzeptanz von Beliebigkeit, Sorglosigkeit oder gar Fahrlässigkeit.
Gemeindenähe vs. personelle Ausstattung
Die Idee, an jedem Kreiskrankenhaus auch eine psychiatrische Abteilung zu etablieren, ist gut. So kann die Normalität psychischer Erkrankungen erfahrbar werden. Allerdings stellt der Mangel an (Fach-)Ärzt/innen eine erhebliche Schwierigkeit dar. Eine psychiatrische Abteilung kann nur betrieben werden, wenn rund um die Uhr entsprechend qualifizierte Ärzt/innen vor Ort sind. Schaffen wir das?
Zumindest bei uns in der Klinik wird es zunehmend schwieriger, die Arztstellen zu besetzen. Somit erhöht sich die Belastung der vorhandenen Personen, was wiederum zum Wunsch nach Reduktion des Anstellungsumfangs oder teils sogar zu Wechsel in Bereiche ohne Schichtdienst führt. In der Folge reduziert sich natürlich wieder die Personaldecke und die Belastung für die einzelne Person steigt nochmals …
Außerdem ist es auch eine zu berücksichtigende Realität, dass in der psychiatrischen Behandlung auch Erregungszustände mit Eigen- und Fremdgefährdung auftreten. In solchen Situationen ist schnelle Hilfe durch viele Personen notwendig, was in kleinen Satellitenstationen abends, nachts und am Wochenende nur schwer sicherzustellen ist. Und, abgesehen vom real vorhandenen Risiko, stellt mangelndes Sicherheitsgefühl eine große psychische Belastung am Arbeitsplatz dar.
Teamsupervision in der Psychiatrie
Ich selbst habe als Supervisor nur einen einzigen Supervisionsprozess in einer akutpsychiatrischen Station gestaltet. Diesen Prozess habe ich als herausfordernd und oft – zumindest die einzelne Sitzung betrachtend – als nicht zufriedenstellend erlebt. Auch in meiner jetzigen Situation als Teilnehmer an der Teamsupervision meiner Station gehe ich oft unzufrieden aus den Sitzungen heraus. Die einzelnen Sitzungen sind häufig entweder durch die Beschäftigung mit sehr dramatischen Fallgeschichten oder aber durch schwerwiegende Teamkonflikte gekennzeichnet. Da nie das gesamte Team teilnimmt (der Nachtdienst darf aus arbeitszeitrechtlichen Gründen nicht teilnehmen; Urlaub wird für die Supervision nicht unterbrochen; die Supervision dauert i. d. R. 90 Min. – für nur 90 Min. zur Arbeit kommen gilt als nicht akzeptabel, aber deshalb alle Mitarbeiter/innen eine ganze Schicht einzuplanen gilt als wirtschaftlich nicht vertretbar …) ist es schwierig, Prozesse über mehrere Sitzungen zu gestalten. Und oft sind wichtige Personen, die für eine Klärung dabei sein müssten, nicht da. Außerdem gibt es für Notfälle oder dringende Nachfragen immer zumindest ein Telefon, das meist dann während der Sitzung auch klingelt. All dies erschwert klärende Prozesse erheblich.
Immer wieder wird in der Supervision natürlich der Mangel zum Thema. Mangel an Personal, an Qualifikation, an geeigneten Räumlichkeiten, an Zeit, … Daraus ergibt sich die schwierige Aufgabe, einerseits Bedarf herauszuarbeiten und zu benennen, andererseits aber auch mitzuhelfen, Wege für den Umgang mit dem Mangel zu finden, um nicht im Externalisieren von Verantwortung stehen zu bleiben.
Als ausgebildeter Supervisor und Führungskraft Teilnehmer einer Teamsupervision …
Wie oben beschrieben stellt schon jede Supervision in einem psychiatrischen Team einer Akutstation besondere Anforderungen an Supervisor/in und auch die Teilnehmer/innen. Zusätzlich habe ich es mit der Schwierigkeit zu tun, selbst ausgebildeter Supervisor, aber in der Rolle eines Teilnehmers zu sein.
Ich erlebe mich in der Teamsupervision in der Regel gehemmt. Meist versuche ich, darauf zu achten, meine Beiträge nicht „supervisorisch“ zu gestalten, d. h. nicht mit einer Hypothese im Kopf im Sinne einer „Intervention“ zu agieren. Allerdings ist ja eigentlich in der Rolle des therapeutischen Leiters das Entwickeln von Hypothesen, zu Vorgängen im Team und eigenen sinnvollen Interventionen, angemessen. Möglicherweise stellt die innere Haltung, möglichst nicht in die Bewertung oder Konkurrenz der Supervisorin, des Supervisors zu gehen, einen gravierenden hemmenden Einfluss für den Prozess dar.
Ich nehme mir also vor, meine Aufgabe und meine Interessen als therapeutische Leitung in den Vordergrund zu stellen und möglichst wenig die Perspektive das „Außenstehenden“ einzunehmen. Vermutlich bleibt das eine Aufgabe, die immer der Reflexion bedarf und nie als „gelöst“ angesehen werden kann.
Akzeptanz von Personalmangel, Krankheitsausfall, Qualitätsabbau …
Um nicht ständig unzufrieden den Arbeitstag zu beenden, muss einerseits die (fremde und eigene) Erwartung an die Qualität der Arbeit an das real Mögliche angepasst werden. Andererseits ist ein Einfordern von mehr Ressourcen nötig, um gute Behandlung für die Patient/innen und gute Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden zu schaffen. Wie kann mit dieser Spannung umgegangen werden, ohne in Resignation zu verfallen oder aber durch unerfüllte (unerfüllbare?) Forderungen ständig im Gefühl der Überforderung bzw. des Mangels zu arbeiten?
Versuch eines Fazits:
Im Bereich der Allgemeinpsychiatrie haben wir es sehr häufig mit Ambivalenzen zu tun, die weder einfach zu verstehen, noch einfach aufzulösen sind. Gleichzeitig besteht oft ein hoher Handlungsdruck, und es müssen Entscheidungen auf dem Boden von Unsicherheit und Vorläufigkeit getroffen werden. Dies stellt hohe Anforderungen an unsere Ambiguitätstoleranz, Reflexionsfähigkeit, Fehlertoleranz und Kommunikationskompetenz. Zur Qualitätssicherung und -verbesserung sind deshalb neben einer guten Aus- und Weiterbildung, gezielte Fortbildungen und auch kontinuierliche Supervision unverzichtbar. Nur so lässt sich verhindern, dass die Mitarbeitenden aufgrund der Belastung der Arbeit den Rücken kehren, oder aber sich durch Selbstbezogenheit, Zynismus und emotionale Abgrenzung, die therapeutische Beziehungsaufnahme verhindert, schützen. Dafür ist es notwendig, auch bei Zeitmangel ausreichend Raum für Gespräch, Reflexion und Aushandeln zu haben. Dabei ist darauf zu achten, dass der Raum wirklich klärende Prozesse ermöglicht und fördert, wofür ein wichtiger Teil der Verantwortung bei Leitungskräften liegt, aber natürlich jede/r Mitarbeitende auch selbst einen Beitrag leisten muss.
Christoph Ehlert
Diplompsychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor (DGSv), Balintgruppenleiter i.A. Mehrjährige klinische Tätigkeit als Psychologe in einem Fachkrankenhaus für Menschen mit geistiger Behinderung. 11-jährige Tätigkeit als Heimleiter eines Wohnheims für Menschen mit geistiger Behinderung. Berufsbegleitende Ausbildung zum Supervisor am FiS. Seit 2016 angestellt am ZfP (Zentrum für Psychiatrie) Südwürttemberg.