Eine berufsgruppenübergreifende Förderung der Ambiguitätstoleranz kann dazu beitragen, den Pflegenotstand aufzuhalten

1 Einführung und Herleitung des Themas

In meinem aktuellen Hauptberuf als Referentin für Pflegeentwicklung und -management bei einem großen Gesundheitsanbieter, und nun auch bei meinen ersten Schritten als ausgebildete Supervisorin arbeite ich unter anderem mit beruflich Pflegenden zusammen.
Dabei nahm und nehme ich immer wieder verschiedene Phänomene wahr wie z. B.

  • das Bedürfnis nach Wertschätzung und ernst genommen werden wollen bei gleichzeitiger Ablehnung von Verantwortungsübernahme,
  • die Erwartung, dass „die da oben“ es richten sollen,
  • die geringe Bereitschaft, eigene, nahezu historische Strukturen zu verändern bei gleichzeitigem Aktionismus, wenn es darum geht, die Abläufe anderer Berufsgruppen neu zu organisieren.

Dies führt im Alltag der Pflegenden sehr häufig zu großen Konflikten, zu einer Spaltung der Berufsgruppen und häufig auch zum Ausstieg aus dem Pflegeberuf.
Der Pflegenotstand in Deutschland ist inzwischen in allen beruflichen Sektoren angekommen und führt schon heute zu enormen Versorgungsengpässen.
Wenn es uns in Deutschland nicht gelingt, die Flucht aus dem Pflegeberuf aufzuhalten und gleichzeitig viele junge Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern, werden wir gesamtgesellschaftlich eklatante Auswirkungen zu spüren bekommen.

In der schriftlichen Kolloquiumsarbeit im Rahmen meiner Ausbildung zur Supervisorin, die ich im Frühjahr 2023 abschloss, habe ich mich gemeinsam mit vier Kurskolleg:innen mit dem Konzept Ambiguität und Ambiguitätstoleranz befasst.
In meinem Teil der Ausarbeitung habe ich mich unter anderem mit meinen eigenen Erfahrungen und Beobachtungen beschäftigt:

  • meinen eigenen Erfahrungen als Krankenschwester,
  • von mir beobachteten Phänomenen während meiner früheren beruflichen Tätigkeit als Pflegedienstleiterin einer Klinik,
  • Erfahrungen aus meiner heutigen Anstellung als Stabstelle für Pflegeentwicklung und Pflegemanagement sowie
  • Beobachtungen aus meiner Arbeit als Supervisorin.

Diese Erfahrungen und damit verbundenen Szenen konnte ich während der theoretischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Literaturquellen neu verstehen.
Sehr wertvoll war für mich dabei auch der enge Austausch in meiner Studiengruppe.

In diesem Artikel möchte ich den / die Leser:in eben genau hierzu einladen:
Die beruflichen Herausforderungen in der Pflege mit Hilfe des Konzeptes der Ambiguitätstoleranz bzw. -intoleranz neu zu verstehen und auf Basis dieser Erkenntnisse berufsgruppenübergreifende Formate „zum gemeinsamen besseren Verstehen“ zu entwickeln und anzubieten.

2 Theoretischer Hintergrund zu den Konzepten Ambiguität und Ambiguitätstoleranz

Die Fähigkeit eine Distanz zur eigenen Rolle einnehmen zu können sowie Empathie für sich und andere zu empfinden, helfen dem Menschen neue und auch in der aktuellen Situation widersprüchliche Situationen und Aussagen wahrzunehmen und zu benennen.
Gleichzeitig stellen diese Fähigkeiten eine Belastung dar. Denn der Mensch wird so immer wieder mit Erwartungen und Anforderungen konfrontiert, die sich von den eigenen unterscheiden können. Personen müssen sich deshalb immer in ihren gegenseitigen Erwartungen, Wünschen und Bedürfnissen aufeinander einstellen, um sich auf einen vorläufigen „working consensus“ zu verständigen (Krappmann 2016, S. 151).
Dieser innere und auch äußere Aushandlungsprozess führt dazu, dass ein Kompromiss gebildet wird, der in der Interaktion mit einem Gegenüber nicht mehr in vollem Umfang den eigenen Bedürfnissen und Sichtweisen entspricht und in gewisser Weise diese auch unbefriedigt lässt.
Es kann hierbei zu Divergenzen und Inkompatibilitäten in der Person selbst kommen: in Form von Konflikten zwischen den verschiedenen Rollen, die eine Person innehat.
Divergenzen können aber auch in der Interaktion mit Personen, Rollenträgern und Mitgliedern verschiedener Berufsgruppen auftreten.
Menschen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, Ambivalenzen zu ertragen, wie Else Frenkel Brunswik in zahlreichen Studien der 40er und 50er Jahre nachgewiesen hat. Sie hat den Begriff Ambiguitätstoleranz und – intoleranz maßgeblich geprägt.
In der weiteren Entwicklung der Psychoanalyse wird Ambiguitätstoleranz weniger als eine stabile Persönlichkeitseigenschaft verstanden. Vielmehr ist darunter eine Ich-Funktion zu verstehen, die jeder Mensch immer wieder aufs Neue leisten muss. Bestimmte Umstände – etwa gruppendynamische Prozesse, können sie außer Kraft setzen (Loetz, Müller 2022, S. 3).
Eine Person, die ihre Ich-Identität behaupten will, muss in der Lage sein, widersprüchliche Rollenanforderungen und einander widerstrebende Motivationsstrukturen interpretierend nebeneinander dulden zu können.
Diese Fähigkeit ermöglicht eine Aufrechterhaltung und ein immer wieder Ausbalancieren und Anpassen der eigenen Ich-Identität und eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit zur Interaktion mit anderen (Krappmann 2016, S. 155).

3 Darstellungsformen von Ambiguität im Pflegeberuf

3.1 Eine ganzheitliche Versorgung des Patienten bedeutet eine tägliche Auseinandersetzung mit Ambiguität

Auch wenn seit vielen Jahren ein Umdenken im Gesundheitswesen stattfindet, so erscheint dieser Prozess doch sehr schleppend: Weg von der reinen Krankheitsorientierung „der Blinddarm auf Zimmer 19“ – hin zur Betrachtung des „gesamten Menschen“ mit seiner Erkrankung. Denn jeder Mensch erlebt seine Erkrankung und die damit verbundenen Auswirkungen auf Aktivitäten seines täglichen Lebens sehr individuell. Dieses Erleben ist unter anderem auch abhängig von seinen persönlichen und sozialen Ressourcen.
Bereits an dieser sich langsam ändernden Betrachtungsweise wird deutlich, dass die medizinisch-pflegerische Versorgung von Patient:innen per se immer ambig ist:
So sind beispielsweise die Pflegebedarfe eines Patienten mit einer Blinddarmentzündung keineswegs eins zu eins auf den Nachbarpatienten, der ebenfalls an einer Blinddarmentzündung erkrankt ist, übertragbar.
Das Krankheitserleben des einzelnen Patienten, der einzelnen Patientin, die Intensität der erlebten Schmerzen und der Umgang damit ist ein individuelles und komplexes Phänomen.
Allein die Pflege eines Menschen mit Schmerzen setzt eine multidimensionale Betrachtungsweise voraus und stellt die Grundlage des pflegerischen Planens und Handelns dar (DNQP 2020, S. 24).
Um hier professionell und gemäß des „Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege“ handeln zu können, bedarf es der Auseinandersetzung und Annahme eines bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnisses.
Ist die Pflegeperson in der Lage

  • jedem Patienten neu in seinem Gesundheits- und Krankheitserleben zu begegnen,
  • die eigene Einstellung und damit verbundenen Gefühle,
  • das eigene fachliche Wissen sowie
  • das Erfahrungswissen mit der aktuellen Patientensituation abzugleichen

und damit neue Erfahrungen zuzulassen, so ist eine ganzheitliche und individuelle Versorgung möglich – ohne dass es mehr Zeit im Arbeitsalltag benötigt.
Der Arbeitsalltag einer Pflegefachperson erfordert täglich ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz – nicht nur in der Pflege eines Menschen mit Schmerzen, sondern in allen Versorgungssituationen.

3.2 Scheinbar systemimmanente Schwarz-Weiß-Logik versus Vieldimensionalität

Diese ganzheitliche Herangehens- und Betrachtungsweise stößt jedoch täglich auf die nach wie vor existierende Realität im Akutkrankenhaus.
Ein Aushandlungsprozess und damit verbundener Austausch der verschiedenen Sichtweisen auf die Patientensituation finden kaum statt.
Wengelski-Strock beschrieb schon im Jahr 2004 (S. 71), dass der Austausch über die mit der Patientensituation verbundenen Gefühle, wenn, dann eher nur unter den Pflegenden im kollegialen Austausch stattfindet.
Auch heute kommt ein berufsgruppenübergreifender Austausch zum Beispiel zwischen Ärzten, Pflegenden und Therapeuten noch immer höchst selten vor. In die Verwaltung dringen laut Wengelski-Strock solche Themen als Erfahrung gar nicht ein.
Für alle Berufsgruppen gibt es kaum einen institutionell abgesicherten Raum, in dem Gefühle und existentielle Erfahrungen gemeinsames reflektiert werden können.
Vielmehr stehen im Akutkrankenhaus fast immer „die richtigen Schritte“ zur (vermeintlichen) Heilung des Patienten im Vordergrund.

Für alle Berufsgruppen gibt es kaum einen institutionell abgesicherten Raum, in dem Gefühle und existentielle Erfahrungen gemeinsames reflektiert werden können.
Vielmehr stehen im Akutkrankenhaus fast immer „die richtigen Schritte“ zur (vermeintlichen) Heilung des Patienten im Vordergrund.

Es geht hauptsächlich um das fachlich korrekte praktische Handeln und nicht zuletzt um die korrekte und lückenlose Dokumentation, um juristisch abgesichert zu sein.
„Richtig“ und „falsch“ sind wesentliche Merkmale im klinischen Arbeitsalltag.
Das „Mögliche und Machbare“ steht im Vordergrund – weniger das für eine größtmögliche Förderung der Lebensqualität des Patienten „Notwendige“.

Beispiel

Pflegende schilderten mir den Fall einer 84jährigen, tumorerkrankten Person, der eine untere Extremität mit einer Hälfte des unteren Beckens entfernt wurde. Diese Frau musste nach der Operation mehrere Wochen auf der Intensivstation medizinisch-pflegerisch versorgt werden und ist am Ende verstorben.

Den Pflegenden erschien diese Situation der Frau nahezu unzumutbar und quälend. Sie waren der Ansicht, dass die Patientin auch ohne Operation noch hätte einige Zeit im häuslichen Umfeld mit Hilfe von Unterstützungsangeboten, wie einem Palliativdienst, hätte weiterleben können – wenn sie umfassend von den Ärzt:innen aufgeklärt worden wäre und auf Grundlage dessen hätte selbst entscheiden können.

Nach Ansicht der Pflegenden sei es absehbar gewesen, dass die Patientin die Folgen dieser Tumoroperation nicht hätte überleben können. Sie identifizierten sich sehr mit dieser Patientin und deren Angehörigen. Denen wurde aus pflegerischer Sicht die Möglichkeit genommen, bis zum Tod ein größtmögliches Maß an gemeinsamer Lebensqualität beizubehalten und sich in Würde voneinander verabschieden zu können.

Ein Austausch über die Beweggründe der Mediziner, den Erwartungen der Angehörigen, dem (mutmaßlichen) Willen der Patientin und den Sichtweisen der Pflegenden hat nicht stattgefunden. Es blieb bei einer Spaltung der Berufsgruppen der Ärzte und Pflegenden – wenn sie sich nicht aufgrund dieser Situation sogar weiter verstärkt hat.
Solch eine Situation ist für Pflegende oftmals nahezu unaushaltbar. Der fehlende und ehrliche Austausch über solche und ähnlich herausfordernde Situationen trägt mit dazu bei, dass vor allem auf Intensivstationen Pflegende ihren Beruf verlassen.
Mitarbeitende scheinen „gezwungen“, ihre Gefühle und eigenen Befürchtungen außen vor zu lassen
In vielen Kliniken gibt es die Möglichkeit, eine ethische Fallbesprechung bei schwierigen Frage- und Problemstellungen berufsgruppenübergreifend einzuberufen. Jedoch wird eher nur vereinzelt hierauf zurückgegriffen: Der- oder diejenige, der / die solch eine Fallbesprechung einberuft, wird oftmals als eine Art Denunziant angesehen. Der- oder diejenige, dessen/deren Entscheidung vordergründig angezweifelt wird, fühlt sich verurteilt und bewertet.
Ein echter Austausch über die Beweggründe, Ängste, Sorgen und Einschätzungen findet kaum statt. Die Mitarbeitenden verharren scheinbar in ihren hierarchischen Organisationsformen – es bleibt bei der Spaltung der Berufsgruppen und dem Reden übereinander statt miteinander.

Es gibt selbstverständlich auch positive Beispiele, in denen der berufsgruppenübergreifende Austausch fest im Arbeitsalltag verankert ist. So ist in einer geriatrischen Klinik, die „geriatrische frührehabilitative Komplexmaßnahmen“ anbietet und mit den Krankenkassen abrechnet, eine wöchentliche interdisziplinäre Fallbesprechung wesentliche Strukturvorgabe (ICD-Code, 2022).
In den Kliniken, in denen diese oder ähnliche Besprechungen regelhaft „auf Augenhöhe“ aller am Behandlungsprozess beteiligten Berufsgruppen stattfinden, ist ein positives Arbeitsklima und ein „Wir“ deutlich wahrzunehmen. Eine Spaltung der Berufsgruppen ist hier weniger zu beobachten.

3.3 Die Organisation Krankenhaus sowie die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen fördern eine Schwarz-Weiß-Logik

Die hierarchische Struktur der verschiedenen Berufsgruppen, der allgegenwärtige Zeitdruck, Personalmangel und hohe Arbeitsdichte fördern das reine Funktionieren-Müssen, das „Abarbeiten der Patient:innen“.
Hinzu kommt, dass die Organisation Krankenhaus dazu gezwungen ist, betriebswirtschaftlich zu arbeiten (DRG-System / Fallpauschalen je Patient – unabhängig von seinem individuellen Versorgungsbedarf).
Im Krankenhaus gibt es seit 2023 nahezu für alle medizinischen Fachbereiche Personaluntergrenzen im Pflegedienst, die eingehalten werden müssen – ansonsten drohen der Klinik finanzielle Sanktionen. So ist aufgrund der Vorgabe zum Beispiel für eine bettenführende kardiologische Station ein Personalschlüssel im Tagdienst von einer Pflegefachkraft für zehn Patienten:innen vorzuhalten (Bundesministerium für Gesundheit, 2022). Hierbei findet der individuelle Versorgungsbedarf des einzelnen Patienten keinerlei Berücksichtigung. Dennoch stellen allein schon die individuell vorhandenen Ressourcen eines Menschen einen eklatanten Unterschied dar:
Sind die zu pflegenden Menschen aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten stark eingeschränkt (z. B. dementiell erkrankt)?
Oder weisen sie aufgrund ihrer Multimorbidität erhebliche Einschränkungen in ihrer Ausübung der Aktivitäten des täglichen Lebens auf (z. B. ein Patient kann aufgrund seiner Erkrankung an Multipler Sklerose nicht mehr selbstständig essen)?
Sind die Patient:innen neben der aktuellen Erkrankung gesund und ohne jegliche körperliche und geistige Einschränkung?

Ein Zuteilen der Pflegenden ausschließlich anhand der Anzahl der zu versorgenden Patient:innen – ohne jeglichen Blick auf die individuellen Pflegebedarfe – ist eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise. Sie nimmt den Pflegenden die Möglichkeit, vor dem Hintergrund ihrer Fachlichkeit Einschätzungen und Aushandlungsprozesse zu vollziehen.
Es ist täglich zu beobachten, dass sich Pflegende auf diese gesetzlichen Vorgaben beziehen – ohne gemeinsam im Team zu entscheiden, was noch leistbar oder eben nicht mehr leistbar ist.
Diese Regeln und Vorgaben sorgen zum einen für einen klaren Handlungsspielraum und schützen Pflegende bedingt vor Überbelastung. Zum anderen verhindern sie einen echten Austausch, fördern Unflexibilität und verhindern die Weiterentwicklung von Ambiguitätstoleranz.

3.4 Neue Ausbildung in der Pflege – Schritte zum ganzheitlichen Denken und Handeln?

Seit dem 01.01.2020 werden Auszubildende in der Pflege nicht mehr in den drei Berufsfeldern Altenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege oder Gesundheits- und Kinderkrankenpflege ausgebildet. (Ausnahmen sind bis zum Jahr 2025 noch zulässig – auf diese Besonderheit sei hier aber nicht näher eingegangen.)
Die nun angehenden Pflegefachfrauen oder -fachmänner werden stattdessen in der generalistischen Pflegeausbildung „… zur Pflege von Menschen aller Altersstufen in allen Versorgungsbereichen.“ befähigt. „Damit stehen diesen Auszubildenden im Berufsleben bessere Einsatz- und Entwicklungsmöglichkeiten offen …“ (BfFSFJ, 2022).

Aufgrund dieser Änderung und der damit verbundenen neuen Ausbildungsqualität, ergeben sich große Herausforderungen:
Die Ausbildung ist wesentlich komplexer, die theoretischen und auch praktischen Lernsituationen haben nur noch exemplarischen Charakter und müssen auf andere Pflegesituationen von den Lernenden übertragen werden (können).
In einer nicht repräsentativen Umfrage im Juni 2022 äußerten Stationsleitungen und Praxisanleitende, dass die zu dem Zeitpunkt im 3. Ausbildungsjahr befindlichen Auszubildenden in der Generalistik folgende wesentliche Kompetenzen aufwiesen:

  • Sie seien mehr in der Lage, den Menschen ganzheitlich zu betrachten,
  • seine komplexe Versorgungssituation unter Einbezug der Biografie des Patienten,
  • der sozialen Beziehungen und
  • Bedingungen im häuslichen Wohnumfeld zu analysieren und
  • umfassend zu beschreiben.

Dies sei ein großer Unterschied zu den Absolvent:innen früherer Gesundheits- und Krankenpflegeschüler:innen.
Offensichtlich trägt diese neue Ausbildung dazu bei, das oben beschriebene notwendige Umdenken im Gesundheitswesen zu fördern.
Dennoch „stört“ die forschende, offene und ganzheitliche Herangehensweise der Auszubildenden in gewisser Weise den Ablauf, stößt auf den immer vorhandenen Zeitdruck, und auch auf die anders beruflich sozialisierten Pflegenden und Angehörigen anderer Berufsgruppen.
Es ist zu befürchten, dass die angehenden Pflegefachkräfte im Rahmen ihrer praktischen Erfahrungen in der Berufsrealität dahingehend „umtrainiert“ werden, die von der Organisation Krankenhaus gelebte „schwarz-weiß-Logik“ anzuwenden, statt Aushandlungsprozesse anzustoßen und damit neue Wege zu gehen.

4 Beispiele für beobachtbare Phänomene und Abwehrmechanismen im Pflegeberuf und deren Bedeutung

4.1 Ambiguität und die Bedeutung von Abwehrmechanismen

Ein Mensch kann sich den durch die permanent ambivalenten und konflikthaften Bedingungen entstehenden Schwierigkeiten entziehen: durch Verdrängung der Diskrepanz und durch das Übergehen, Umwandeln oder Unterdrücken der eigenen Bedürfnisse.
Diese Verdrängung zeigt sich im Alltag oft zunächst durch widerspruchsloses Übernehmen der Ansprüche und Erwartungen anderer. Ein Aushandlungsprozess findet nicht statt, weil eigene Erwartungen, Bedürfnisse nicht wahrgenommen und artikuliert werden.
Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus der Psychoanalyse ist hier jedoch damit zu rechnen, dass die zunächst unterdrückten und unbewussten Bedürfnisse sich auf andere Weise Bahn brechen und im Alltag z. B. in Form von Projektionen zu neuen Schwierigkeiten in der Interaktion mit anderen führen.
Das Verhalten der Person kann dennoch erfolgreich sein, denn es entspricht oftmals den an sie oder ihn gestellten Normen und Werten und befriedigt häufig über Umwege doch die eigenen Bedürfnisse.

Eine weitere Möglichkeit, den kontinuierlich notwendigen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, ist ebenfalls die Vermeidung des Konflikts und der Ambiguität – allerdings nicht unter Zurückstellung der eigenen Bedürfnisse.
Vielmehr „organisiert“ die Person abhängig von den eigenen Bedürfnissen die Wahrnehmungen und Erfahrungen in eindeutige und einfache um (Klappmann 2016, S. 157).
Die Person verhält sich auf Basis eigener entworfener Prinzipien, ohne Rücksicht auf besondere Umstände oder andere Sichtweisen.
Es kann zum Beziehungsabbruch führen, wenn die Interaktionspartner kein gemeinsames Verständnis herbeiführen können. Dieser Abbruch wird in Kauf genommen bzw. (unbewusst) herbeigeführt.

Nachfolgend werden anhand eines Beispiels aus der Berufspraxis typische Abwehrmechanismen im Klinikalltag und deren Bedeutung für die handelnden Personen, sowie für die Organisation abgeleitet.

Fallbeispiel

Die 19jährige Auszubildende in der Pflege, Frau O., begleitete einen Arzt auf einer internistischen Männerstation bei der Visite.
Einem Patienten wurde innerhalb weniger Minuten durch den Arzt eine Krebsdiagnose mitgeteilt und die nächsten notwendigen medizinischen Schritte erläutert. Der Patient war offensichtlich nicht in der Lage, etwas zu fragen – ließ den Monolog des Arztes über sich ergehen. „Die Visite“ zog weiter.
Frau O. hatte eigentlich die Aufgabe im Anschluss an die Visite die „Pflegebetten von unten“ zu putzen, was montags, mittwochs und freitags eine der Aufgaben der Auszubildenden war. Ihr ging der Patient nicht aus dem Kopf, sie betrat wieder das Patientenzimmer, nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu dem Patienten, sprach mit ihm und war einfach da.
Später, in der Mittagsübergabe (die Kolleg:innen des Frühdienstes berichten den Kolleg:innen des Spätdienstes von den Geschehnissen und noch anstehenden Dingen rund um die Versorgung der Patient:innen) wurde Frau O. vor allen anwesenden Personen von einer Pflegekraft zurechtgewiesen, dass sie ihren Auftrag nicht erfüllt und die Reinigung der Bettgestelle nicht durchgeführt hätte – nun müsse jemand anderes ihr nacharbeiten.
Frau O. war frustriert, fühlte sich völlig zu Unrecht beschuldigt und traute sich dennoch nicht, vor den anwesenden Pflegenden ihren Standpunkt zu verteidigen.
Sie war noch immer entsetzt über das scheinbar wenig empathische Verhalten des Arztes während der Visite und blieb mit diesem Gefühl der Fassungslosigkeit und Wut alleine.

4.2 Abwehr der Zielkomplexität

Für Frau O. schien der Wunsch des Helfen Wollens im Mittelpunkt des Handelns zu stehen. Sie versuchte, die möglicherweise aus ihrer Sicht mangelnde Empathie des Arztes zu kompensieren, widmete dem Patienten ihre Aufmerksamkeit und stellte sich der Konfrontation mit den vermutlich überwältigend schweren Gefühlen des Patienten. Sie schien bei der Pflegekraft auf keinerlei Verständnis für ihre Entscheidung ihres Handelns zu stoßen.

Dies ist ein typisches Phänomen, von dem besonders Auszubildende in der Pflege berichten. Ihnen scheint diese Diskrepanz zwischen dem beruflichen Selbstverständnis und der gelebten Realität im Berufsalltag (noch) am meisten aufzufallen.
Gefördert wird diese Ambiguität zusätzlich durch die Organisation Krankenhaus selbst. So ist zahlreichen Leitbildern zu entnehmen, dass der Mensch oder Patient im Mittelpunkt des Handelns steht.
Hier treffen „Die historisch gewachsenen Werte des Helfens, Pflegens und Heilens aus christlicher Nächstenliebe…“ (Wengelski-Strock 2004, S. 69) auf die Zielkomplexität eines modernen Krankenhauses, in dem „…nicht nur die Heilung, sondern auch Forschung, Lehre, Ökonomie wesentlichen Anteil haben.“ (Wengelski-Strock 2004, S. 70)
Ein Austausch oder gemeinsames Abwägen der persönlichen Wertvorstellungen, Sichtweisen und Handlungsimpulse, dessen, was vor dem Hintergrund der Rahmenbedingungen möglich und machbar ist, findet wie oben beschrieben meist nicht statt.
Die einzelne Person scheint ganz für sich allein einen Aushandlungsprozess vollziehen zu müssen – und dies geschieht in der Regel intuitiv und unbewusst.

4.3 Funktionaler Blick auf den Patienten schafft Handlungsfähigkeit

Für den im Fallbeispiel beschriebenen Arzt schien es vordergründig nicht darum zu gehen, wie es dem Patienten mit seiner Diagnose geht. Er hielt sich an das, was vermutlich auf Basis von Leitlinien das fachlich Richtige ist. Der emotionale Zugang wurde von ihm nicht zugelassen bzw. abgewehrt und (vermutlich unbewusst) als hinderlich betrachtet. Es ist davon auszugehen, dass er weitere Patient:innen und anstehende Aufgaben im Blick hatte. Dadurch, dass er sich nicht emotional mit der Situation beschäftigte, blieb er handlungsfähig.
Dieser so zunächst bestehenden Handlungsfähigkeit können Abwehrmechanismen zu Grunde liegen:
Erklärt man das Verhalten des Arztes mit dem unbewussten Prozess der Verdrängung, so verdrängt er vermutlich seine eigenen Ängste vor einer Krebsdiagnose, dem damit verbundenen Leid, den Schmerzen und dem unausweichlichen Ende des Lebens und muss sich somit auch nicht mit diesen Gefühlen auf Seiten des Patienten beschäftigen. Man kann hier auch von einer Abspaltung der eigenen unangenehmen und vielleicht sogar potenziell lähmenden und überwältigenden Gefühle sprechen.
Die Unterdrückung hingegen erfolgt mittels eines Willensaktes: der Arzt spürt seine Angst, weiß um sie und entscheidet sich in Form einer kognitiven Leistung, dieser Angst nicht weiter nachzuspüren und stattdessen auf der fachlichen Ebene mit dem Patienten zu kommunizieren.
Sofern es sich um ein unterdrücktes Gefühl handelt, kann es in der Regel „…leicht erinnert werden, jedenfalls dann, wenn das in Sicherheit möglich ist, zum Beispiel am Ende eines Arbeitstages mit einem Patienten.“ (König 2007, S. 22)
Der Arzt könnte beispielsweise auf dem Nachhauseweg die Situation noch einmal erinnern und über seine eigenen Gefühle nachdenken.

4.4 Spaltungsphänomene zur Erhaltung der Institution und zur Ich-Stützung

Spaltung ist das Ergebnis des innerpsychischen Konfliktes ums Ich. „Sie besteht aus der Koexistenz zweier Abwehrvorgänge: der Verleugnung der Realität und der Abwehr des Triebwunsches.“ (Wengelski-Strock 2004, S. 72)
König (2007, S. 40) beschreibt die Leugnung im psychoanalytischen Sinne, als dass bestimmte Phänomene zwar wahrgenommen werden, die Bedeutung aber nicht erkannt oder aber sie bagatellisiert wird. Damit wird verhindert, dass es aufgrund des Wahrgenommenen zu affektiven Reaktionen kommt.
So könnte der oben beschriebene Arzt zwar die Sprachlosigkeit des Patienten wahrgenommen, deren Bedeutung in Bezug auf seine existentielle Situation jedoch geleugnet bzw. nicht in einen Zusammenhang gebracht haben. Der Arzt verhindert auf diese Weise, dass eigene affektive Reaktionen, wie zum Beispiel Wut, Trauer, Ohnmacht, Angst durch den Patienten ausgelöst werden. Hier spricht man im psychoanalytischen Sinne von Abwehr des Triebwunsches (La Planche, Pontalis 1999, S. 24 f.).
Bei der Frau O. kritisierenden Pflegeperson kam es vermutlich ebenfalls zur Abspaltung der eigenen Gefühle wie Mitgefühl für den Patienten und sie verhinderte damit eine Art Lähmung, die durch ein tiefes In-die-Patientensituation-hineingezogen-werden, eigene Affekte hervorbringen könnte. Auf diese Weise blieb die Pflegeperson funktionsfähig und war in der Lage, den Stationsapparat am Laufen zu halten. Sicherlich fühlte sie sich im Recht und hatte ihre Aufgaben im Blick, die hygienischen Vorgaben einzuhalten und für Ordnung zu sorgen.
Sie „organisierte“ im psychoanalytischen Sinne im Ich abhängig von ihren eigenen Bedürfnissen die Wahrnehmungen in eindeutige und einfache um: die Visite wurde durchgeführt, die Reinigung der Betten stand an.

4.5 Regression und projektive Identifikation als Abwehr von Schuldgefühlen

In der Arbeit mit Pflegeteams ist zu beobachten, dass Pflegende ihre eigenen Gefühle abspalten und große Mühe haben, sie zu verbalisieren oder überhaupt zu fühlen. Häufig kommt es zur „Projektion auf den Gegner“: Die Ärzte werden oftmals als böse, gefühlskalte Menschen dargestellt und alle Wut richtet sich gegen sie.
Laut König (2007, S. 47) werden bei der Projektion eigene psychische Inhalte wie Affekte, Stimmungen und Impulse sowie Bewertungen einer Person anderen Person zugeschrieben. Ein Motiv der Projektion kann das Entfernen unangenehmer Affekte aus der eigenen inneren Welt sein und davor schützen, einen eigenen inneren Konflikt austragen zu müssen.
Die eigene Erkenntnis des Nicht-Helfen-/ Nicht-Retten-Könnens (siehe das eingangs beschriebene Beispiel der 84jährigen Patientin), die möglicherweise peinlichen Gefühle wie Scham in der engen körperlichen Nähe zum Patienten werden aus psychoanalytischer Sicht „… als phantasierter Vorwurf aufgenommen“ (Wengelski-Strock 2004, S. 74) und die daraus entwickelten Schuldgefühle nach außen projiziert.
Im reiferen Zustand trifft „… die verinnerlichte Kritik …“ „… als Über-Ich-Forderung mit der Wahrnehmung des eigenen Vergehens zusammen.“ Jetzt wendet sich die Strenge des Über-Ichs nach innen anstatt nach außen: Das Ich muss sich nun mit der Selbstkritik und dem Schuldgefühl beschäftigen, was schmerzhaft sein kann und Unlustgefühle verursacht. Gelingt diese Auseinandersetzung, so kann sich in dieser Situation Ambiguitätstoleranz entwickeln und eine neue Sicht auf die Situation möglich machen.

Neben der Projektion und der Projektiven Identifizierung scheint sich eine kollektive Regression unter den Pflegenden breit zu machen. Ganze Teams ziehen mit, halten still, ertragen, versuchen zu kompensieren und zu funktionieren.
Ein Ohnmachtsgefühl („Wir können ja doch nichts ausrichten.“ „Unsere Meinung wird nicht wertgeschätzt“) der Pflegenden scheint oftmals alle weiteren Gedanken und Reflexionsmöglichkeiten im Keim zu ersticken. Nicht selten scheint eine Flucht in die Krankmeldung, die Aufnahme eines Studiums oder gar ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Beruf die einzige Lösung zu sein, um den beruflichen Rahmenbedingungen zu entfliehen.

Laut Frau Wengelski-Strock (2004, S. 73) fördert die Institution Krankenhaus „… Regressionswünsche bei allen Institutionsmitgliedern, Patient:innen wie Mitarbeitenden. Infantile Bedürfnisse nach Versorgtwerden, Abgabe von Verantwortung und Eigenverantwortung und Aufgabe von Ich-Funktionen…“ „… werden zum Beispiel geweckt durch

  • die Hierarchie,
  • die Geschlossenheit des Systems,
  • die Trennung von der übrigen Welt bei allen Institutionsmitgliedern,
  • die krankheitsbedingte Regression und
  • das Informationsdefizit bei Patienten.“

Zudem werden im Kampf mit den Autoritätspersonen, prä-ödipale Allmachtsphantasien und Wünsche geweckt.
Diese Institutionelle Regression fördert die unreife Form der Projektion der Schuldgefühle nach Außen und den Kampf mit den Autoritäten (hier den Ärzten). So wird die reifere Form der Auseinandersetzung mit den eigenen Über-Ich-Forderungen und den Forderungen der Außenwelt vermieden (Wengelski-Strock, S. 74). Die Bildung bzw. die Förderung der Ambiguitätstoleranz wird somit durch die Institutionelle Regression deutlich erschwert.
Ein/e Supervisor:in kann dies spüren, indem mit dem / der Supervisand:in oder dem Team nur schwer an einer individuellen, kollektiven und institutionellen selbstkritischen Reflexion des beruflichen Handelns gearbeitet werden kann. Vielmehr kann er oder sie Ablehnung wahrnehmen und Gefahr laufen, in der Gegenübertragung selbst ablehnend zu reagieren.

5 Förderung der Ambiguitätstoleranz als ein Weg, dem Pflegenotstand zu begegnen – Möglichkeiten und Grenzen der Supervision

Das im Kapitel 4 beschriebene Fallbeispiel der Auszubildenden Frau O. soll verdeutlichen, wie vielschichtig und ambig eine einzelne berufliche Szene sein kann.
Ein Austausch mit dem Arzt fand nicht statt und so bleibt vermutlich eine Art Zuschreibung wie „der Arzt ist gefühlskalt“ oder „er hat ausschließlich seine Fallzahlen im Blick“ auf Seiten der Auszubildenden.
Im Pflegeteam oder mit der Pflegefachkraft erfolgte keine Verständigung über das jeweilige Pflegeverständnis, wie beispielsweise:
Was sind Möglichkeiten und Grenzen der Pflegenden, wenn jemand eine Krebsdiagnose hat?
Inwieweit ist eine emotionale und kommunikative Begleitung angemessen oder ist ein Gespräch keine Arbeit?
Ist man nur eine gute Pflegeperson, wenn man möglichst viel abarbeitet und manuell erledigt?
Wie geht die erfahrene Pflegefachkraft persönlich mit solch beängstigenden Situationen um und wie könnte sie der Auszubildenden unterstützend zur Seite stehen, um ihr den Umgang damit zu erleichtern?
All diese Fragen und Betrachtungsweisen könnten im Rahmen von Supervision näher beleuchtet und dadurch ein tieferes Verstehen ermöglicht werden. Auf diese Weise könnte ein neues bzw. erweitertes Verständnis für berufliche Situationen und daraus neue Handlungs- und Denkweisen einstehen.

Wie dies in der supervisorischen Arbeit mit Pflegenden aber auch mit berufsgruppenübergreifenden Gruppen und Teams im somatischen Akutkrankenhaus möglich sein kann und an welcher Stelle es jedoch auch Grenzen und Stolpersteine gibt, soll nachfolgend in Form von Denkanstößen beschrieben werden.

5.1 Supervision ist bereits im Rahmen der Ausbildung sinnvoll

Janssen (2019, S. 12) beschreibt ihre Erfahrungen im Rahmen eines Pilotprojektes mit dem Fachseminar für Altenpflege der SBK (Sozial-Betriebe-Köln gemeinnützige GmbH).
Hier erhielten die Auszubildenden in der Altenhilfe Supervision als präventive Maßnahme, die die Leistungsfähigkeit, das Wohlbefinden und damit auch die Gesundheit der angehenden Pflegefachkräfte fördern und sichern sollte.
Janssen führt unter anderem aus, dass sich immer wieder Teilnehmende mit dem Gedanken auseinandersetzen, ihre Ausbildung vorzeitig abzubrechen. Im Rahmen der Gruppensupervision mit Ausbildungskolleg:innen erfahren sie, dass sie mit ihren Gedanken und Zweifeln nicht allein sind und auch andere ähnliche Probleme und Herausforderungen zu bewältigen haben. Durch die Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Ambivalenzen und der Vielzahl an diversen Erklärungs- und Verstehenszugängen wird ihre Ambiguitätstoleranz gefördert.
Nicht zuletzt decken sie für sich neue Handlungsoptionen auf und können anhand dieser bearbeiteten Beispiele gestärkt den Herausforderungen im beruflichen Alltag begegnen.
Durch das gemeinsame Suchen von Ansätzen zur Konfliktklärung in Team- und Arbeitsbeziehungen lernen sie schrittweise Hilfe von anderen Kursmitgliedern anzunehmen und so notwendige Veränderungen bei sich selbst oder in der Gruppe herbeizuführen.

Die Teilnehmenden haben mit Hilfe der Supervision die Möglichkeit zu erlernen, einander eine wertschätzende Haltung entgegenzubringen, statt das Handeln des anderen abzuwerten und zu verurteilen. Dies ist vor allem im Pflegeberuf eine grundlegende Kompetenz, die eine professionelle Versorgung des Pflegeempfängers und seiner An- und Zugehörigen im multiprofessionellen Team erst möglich macht.
Janssen (2019, S. 12) beschreibt das oben genannte Modellprojekt durchaus als erfolgreich. So konnte durch die ausbildungsbegleitende Supervision die Abbrecherquote signifikant von im Schnitt 8-10 Abbrüche pro Kurs auf 4 bis 6 Abbrüche gesenkt werden.

5.2 Förderung der Berufsgruppen- und Hierarchieübergreifenden Zusammenarbeit und Reflexionsfähigkeit

Die Berufsgruppen im Gesundheitswesen arbeiten im Alltag, wie zuvor beschrieben, zwar vordergründig zusammen, eine echte Abstimmung über gemeinsame Behandlungs- oder Prozessziele findet zumeist nicht statt. Hier kann Supervision die berufsgruppenübergreifende Ambiguitätstoleranz fördern. So kann mit Unterstützung einer Supervisorin oder eines Supervisors unter anderem an den Themen Rollendifferenzierung, Zielkomplexität und Verhandlungsführung im multiprofessionellen Team gearbeitet werden (Becker-Kontio 2004, S. 21). Eine psychoanalytische Sichtweise ist notwendig, um die Phänomene der institutionellen Abwehr in ihrer Bedeutung und das Unbewusste in Institutionen zu verstehen und sichtbar zu machen.

Gleichzeitig ist auch die Angst vor Entwertung und Bloßstellung der hierarchischen Beziehungen nicht zu unterschätzen (Becker-Kontio 2004, S. 24). So sind Chef- und Oberärzte es weder gewohnt noch beruflich dazu disponiert, die Rolle des zu Beratenden durchgängig anzunehmen (Streitbürger 2004, S. 89). Es empfiehlt sich, Supervisor:innen einzubinden, die einen ähnlichen oder gleichwertigen Status bekleiden, wenn man Zugang zu dieser Berufsgruppe bekommen möchte. Frau Streitbürger beschreibt Statusunterschiede als eine gesellschaftliche Realität, die auch im Rahmen von Supervisionsprozessen wirksam sind – dies nicht zu berücksichtigen wäre kontraproduktiv.

Wie durch die im Rahmen dieser Arbeit beschriebenen Fallbeispiele deutlich wird, passiert im Krankenhaus viel Unerträgliches. Die Angst der Mitarbeitenden vor Introspektion und Empathie kann zunächst lähmend wirken. Es handelt sich um eine diffuse Angst davor, nicht mehr handlungsfähig zu sein (Becker-Kontio 2004, S. 23). Hier hat Supervision vor allem eine containende Rolle im bionschen Sinne.

Supervision wird im Krankenhaus üblicherweise nicht als fachliche Reflexion, sondern oftmals als Retter:in in der Krise in Anspruch genommen. Becker-Kontio (2004, S. 24) beschreibt die grandiosen Erwartungen an das Machbare, die in dieser Krise auf den / die Supervisor:in übertragen wird. Er oder sie kann so in die Spannung zwischen Größenfantasien und Versagensängsten gebracht werden.

Der / die Supervisor:in rettet nicht, sondern begleitet Handlungs- und Entscheidungsprozesse der Organisation und hat zum Ziel, strukturelle und vor allem humanitäre Veränderungen des Arbeitslebens im Sinne einer hohen Effektivität herbeizuführen (Streitbürger 2004, S. 86).

Nicht zuletzt muss der / die Supervisor:in die eigenen Grenzen erkennen und akzeptieren können, nur bedingt hilfreich sein zu können, die komplexe Organisation nur bedingt verändern zu können.

6 Fazit

Wie in diesem Artikel beschrieben, müssen sich Pflegefachpersonen heute mehr denn je vielfältigen und komplexen Herausforderungen stellen. Neben ihrer Fachkompetenz ist kontinuierliches Reflektieren des beruflichen Handelns sowie der Rahmenbedingungen notwendig. Beruflich Pflegende müssen sich empathisch auf die zu pflegende Person einlassen und gleichzeitig eine professionelle Nähe-Distanz-Regulation vollziehen können. (Schwarz 2007, S. 53).

Noch immer versuchen viele Pflegende aufgrund eines idealisierten beruflichen Selbstbildes über ihre persönlichen Grenzen hinaus Defizite der Organisation oder auch den heute allgegenwärtigen Personalmangel durch einen immer höheren persönlichen Einsatz zu kompensieren. „Die Sorge um sich selbst, die permanente Reflexion der beruflichen Situation und der Mut, etwas zu fordern, sind angesagt.“ (Schwarz 2007, S. 53)

Supervision kann diese Reflexions- Denkprozesse anstoßen, begleiten und stellt nicht zuletzt ein sinnvolles Mittel zur Burn-Out-Prophylaxe dar. (Semper 2016, S. 22). „Erst wenn Supervisorin oder Supervisor vor allem die Schwierigkeiten versuchen (aus-)zuhalten und zu verstehen, wird es für …“ die Mitarbeitenden „…leichter, die Grenzen des Machbaren als eigene zu erfahren und weniger Kraft in die Abwehr von Bedrohlichem oder Schwäche(n) zu verwenden: So ermöglicht letztlich die Konzentration auf Grenzen und Wiederständiges eine Erweiterung und Verbesserung der Arbeit und Beziehung mit dem Patienten.“ (Degenhard 2000, S. 221)

In der im April 2022 veröffentlichten Potentialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften „Ich pflege wieder, wenn…“, werden unter anderem die zehn wichtigsten Arbeitsbedingungen für eine Rückkehr beziehungsweise eine Stundenerhöhung von Pflegenden dargestellt (Auffenberg, Becka, Evans, et al 2022, S. 13).
Hier zeigt sich eine besondere Wichtigkeit für Arbeitsbedingungen aus den Themenbereichen „Organisation und Führung“ sowie „Berufliches Selbstverständnis und Anerkennung“.
Unter anderem werden die Punkte

  • Fairer Umgang unter Kolleg:innen (Platz 1),
  • Vorgesetzte, die wertschätzend und respektvoll sind (Platz 2),
  • Vorgesetzte, die sensibel für meine Arbeitsbelastungen sind (Platz 4) sowie
  • Augenhöhe gegenüber der Ärzteschaft (Platz 9)

als maßgeblich für einen beruflichen Wiedereintritt oder eine Erhöhung der Arbeitszeit benannt.

Ein intensiver und vor allem die Führungspersonen einschließender Veränderungsprozess mittels selbstreflexiven und prozessorientierten Arbeitens muss angestoßen und langfristig durch einen Verbund einer reflexiven „Beraterorganisation“ (Streitbürger 2004, S. 87) von Supervisor:innen begleitet werden.

Der mangelnde Austausch und Diskurs innerhalb der Pflegeteams, aber auch zwischen den Berufsgruppen, wird oft mit der nicht zur Verfügung stehenden Zeitressource im Alltag begründet. Gelingt es, im Arbeitsalltag einen institutionell geförderten Raum für die systematische Reflexion der beruflichen Situationen und damit verbundenen Herausforderungen zu integrieren und zu etablieren, kann die Flucht aus dem Beruf verringert, die Zusammenarbeit gestärkt und somit sehr viel Arbeitszeit für die eigentliche Arbeit am Patienten gewonnen werden.

Zeit, die aktuell durch immer wieder schwelende Konflikte, größer werdende Spaltungen zwischen den Berufsgruppen, Unzufriedenheiten der einzelnen Personen aber auch durch die kollektive Unzufriedenheit der Teams gebunden wird und damit der Patienten:innenversorgung und -behandlung fehlt.

Die Arbeitszufriedenheit der Pflegenden und Stationsteams aber auch der Mitarbeitenden anderer Berufsgruppen im Krankenhaus kann mittel- und langfristig nur verbessert werden, wenn gemeinsam mit Führungspersonen die vorliegenden strukturellen Probleme angefasst, die undurchlässigen Arbeitseinheiten aufgelöst, das Arbeiten in strengen Hierarchien und damit verbundener Strukturorientierung zugunsten der Prozessorientierung aufgegeben wird.
Supervision kann in diesem Prozess eine wichtige und zentrale Rolle einnehmen.

So kann sie nicht zuletzt durch die kontinuierliche Förderung der Ambiguitätstoleranz aller am Behandlungsprozess Beteiligter einen wesentlichen Beitrag im Kampf gegen den Pflegenotstand leisten.

7 Quellen

  • Auffenberg, J., Becka, D., Evans, M., Kokott, N., Schleicher, S., Braun, E. (2022): „Ich pflege wieder, wenn…“ – Potenzialanalyse zur berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften. Kurzfassung. Arbeitnehmerkammer Bremen (Hrsg.).
  • Becker-Kontio, M. (2004): Supervision, ein Beratungsinstrument für das somatische Krankenhaus? Ein Blick auf 20 Jahre Entwicklung. In: Becker-Kontio, M., Kimmig-Pfeiffer, A., Schwennbeck, M., Streitbürger, G. Wengelski-Strock, S. (Hrsg.): Supervision und Organisationsberatung im Krankenhaus. Erfahrungen – Analysen – Konzepte. Juventa, Weinheim und München.
  • Bundesministerium für Gesundheit (2022): Pflegepersonaluntergrenzen. Nur mit einer guten Pflegepersonalausstattung ist eine sichere und gute Behandlung von Patientinnen und Patienten im Krankenhaus möglich. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/pflegepersonaluntergrenzen.html
  • BfFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2022): FAQ zur Reform der Pflegeberufe. Was bedeutet „Generalistik“ bzw. „generalistische Pflegeausbildung“?
    https://www.pflegeausbildung.net/alles-zur-ausbildung/faq-zur-reform-der-pflegeberufe.html. 15.10.2022.
  • Degenhard, C. (2000): Möglichkeiten und Grenzen der Supervision im Allgemeinkrankenhaus. In: Pühl, H. (Hrsg.): Handbuch der Supervision 2. 2. überarbeitete Auflage. Berlin: Edition Marhold im Wiss.-Verl. Spiess.
  • DNQP – Deutsches Netzwerk für Qualität in der Pflege (HRSG.) (2020): Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege. Aktualisierung 2020, Osnabrück.
  • ICD-Code (2022, 15.12.): 8-550 geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung. https://www.icd-code.de/ops/code/8-550.html
  • Janssen, Dr. B. (2019): Warum wir uns mehr um die kümmern müssen, die sich kümmern. Supervision in der Altenpflegeausbildung. Ein Projektbericht. In: Journal Supervision 2 / 2019. Informationsdienst der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e.V.
  • Krappmann, L. (2016): Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart, Klett-Cotta, 12.Auflage.
  • König, K. (2007): Abwehrmechanismen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.
  • La Planche, J., Pontalis, J.-B. (1999): Das Vokabular der Psychoanalyse. Berlin: Suhrkamp.
  • Loetz, Dr. C., Müller, Dr. J. J. (2022): Ambiguitätstoleranz und der Umgang mit Unsicherheit. Eine vergessene Tugend? In: Rätsel des Unbewussten. Ein Podcast zur Psychoanalyse und Psychotherapie. Das Skript zur Folge 68. Patreon.com.
  • Richter-Kuhlmann, Dr. E. (2019): Advaneced Care Planning. Bislang wenig gelebtes Konzept. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 116, Heft 50, S. 2344.
  • Schwarz, R. (2007): Supervision in der Pflege. Leitfaden für Pflegemanager und -praktiker. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Semper, Y. (2016): Burnout in der Pflege. Belastungen und begünstigende Faktoren. Studienarbeit. München: GRIN Verlag.
  • Streitbürger, G. (2004): Konzeptuelle Überlegungen zur Supervision in somatischen Akutkliniken. In: Becker-Kontio, M., Kimmig-Pfeiffer, A., Schwennbeck, M., Streitbürger, G. Wengelski-Strock, S. (Hrsg.): Supervision und Organisationsberatung im Krankenhaus. Erfahrungen – Analysen – Konzepte. Juventa, Weinheim und München.
  • Wengelski-Strock, S. (2004): Stolpersteine. Über die Schwierigkeiten von Supervisor/innen im Kontakt mit somatischen Krankenhäusern. In: Becker-Kontio, M., Kimmig-Pfeiffer, A., Schwennbeck, M., Streitbürger, G. Wengelski-Strock, S. (Hrsg.): Supervision und Organisationsberatung im Krankenhaus. Erfahrungen – Analysen – Konzepte. Juventa, Weinheim und München.
Ambiguität in der stationären Akutpflege und deren Bedeutung für supervisorisches Handeln

Melanie Ermert

Ich bin Krankenschwester, Diplom Pflegewissenschaftlerin und habe im März 2023 meine Ausbildung als Supervisorin (DGSv) beim FiS abgeschlossen. Inzwischen habe ich mehr als 20 Jahre Berufserfahrung im Bereich Projekt- und Personalmanagement in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. Neben meiner Tätigkeit als Supervisorin arbeite ich als Referentin für Pflegeentwicklung und -management bei einem Träger von mehreren somatischen und psychiatrischen Klinikstandorten, Senioreneinrichtungen und einem ambulanten Pflegedienst.

Ambiguität in der stationären Akutpflege und deren Bedeutung für supervisorisches Handeln