Systeme psychoanalytisch verstehen in Beratung, Coaching und Supervision.
Gießen: Psychosozial-Verlag (Therapie & Beratung)
Sobald man in Organisationen, so die Herausgeber:innen dieser Neuerscheinung in ihrer Einleitung, die in Organigrammen und Prozessbeschreibungen festgelegten Strukturen verlässt und sich den Ereignissen, Prozessen und Bühnen, auf denen die Menschen, ihre Gruppen, Teams und Gremien agieren, beobachtend nähert, tritt in seiner ganzen Unübersichtlichkeit das Leben auf. In seinen Szenen und Narrativen wird dabei in Organisationen immer etwas zugleich sichtbar und verborgen. Wenn etwas nach vorne gebracht wird, so wird etwas anderes im Dunkel belassen, wird etwas fokussiert, so wird etwas anders vernachlässigt. Das Leben in Organisationen lotet die Grenzen des Sag- und Verhandelbaren aus, Realität wird mit Macht erweitert oder verschleiert.
Dieser Anspruch des Buches, die verborgenen und unbewussten Dynamiken von Organisationen aufzuspüren, erfolgt nicht ohne theoretische Rückbezüge auf Psychoanalyse, Organisationskultur und Hermeneutik. Dabei erwarten die Herausgeber:innen von ihren Autor:innen nicht, Theorien zu diskutieren, sie sind eher in einer Art Vorfeld unterwegs. Mithilfe „dichter Beschreibungen“ (Clifford Geertz 1987) wollen sie in organisatorischen Szenen erkennbare Bedeutungsgewebe und Narrative sichtbar und der Reflexion zugänglich machen. Damit belassen sie den psychodynamisch definierten Begriff des „Unbewussten“ in seiner Verwendung für Organisationen in einer gewissen Offenheit. Diese Strategie hat durchaus Chancen. Sie kann sich prominent z.B. auch auf Bourdieu berufen, der die psychoanalytische Epistemologie für seinen soziologischen Blick genutzt, aber nicht einfach vom Individuellen auf das Gesellschaftliche übertragen hat. Sie überlassen es so den einzelnen Beiträgen, jeweils gegenstandsadäquate und theoretische Zugänge mittlerer Reichweite in diesen „dichten“ Beschreibungen zu finden.
Die Leser:in trifft auf ein Kaleidoskop von 35 Beiträgen, die in 6 Unterkapitel mehr oder minder klar geordnet sind und zu Beginn dieser Unterkapitel jeweils inhaltlich eingeführt werden. Die Beiträge machen klar, dass die Zeiten einseitig funktional ausgerichteter Organisationen vorbei sind: die Herausforderungen, die mit professionellem Handeln und ebenso mit Leitung und Führung heute verbunden sind, erfordern Multiperspektivität, Ambiguitätstoleranz und immer wieder das Balancieren von Paradoxien. Wenn aber das nicht gelingt, wenn diese Balance aufgegeben wird – sei es aus Überforderung, Ignoranz, Mangel an Bewusstheit oder Auseinandersetzungsbereitschaft – kann „unbewusst“ werden (und vielleicht „unbewusst gemacht werden“), was unverarbeitet übergangen wurde.
Die Beiträge sind immer dann sehr lesenswert und interessant, wenn es den Autor:innen mit großer Erfahrung gelingt, diese in der Hinführung genannten „dichten Beschreibungen“ zu den Dynamiken zu liefern, die das „Unterleben“ der gerade thematisierten Organisation bestimmen. Oder, wenn die Autor:innen mit fundierter Kenntnis der theoretischen Zusammenhänge zentrale Aspekte der Praxis herausarbeiten, die einen neuen theoriegeleiteten Blick darauf ermöglichen und etwas aufklären können, was bisher so nicht bewusst war oder noch nicht beschrieben wurde. Immer dann werden sie schwer lesbar, wenn Autoren sich – mehr assoziativ als argumentativ – in disparaten theoretischen Herleitungen verstricken. Auch das kommt vor.
Die Beiträge machen aber eines insgesamt deutlich: Organisationen, die Triangulierung, d.h. Räume für Reflexion, Balance und Perspektivenwechsel ermöglichen, werden leichter mit großen Belastungen fertig. Fehlen solche Räume, so kommt es zu den immer bereitliegenden Machtstrategien, mit denen das Unverarbeitete wegstrukturiert wird. Die Tiefenmatrix von Zwangsorganisationen kann hier besonders leicht aktiviert werden und die notwendigen Balancen im Handeln verhindern, aber auch andere Organisationen sind davor nicht gefeit.
Selbst wenn man nicht in jedem Beitrag etwas über ihre „unbewussten“ Dynamiken findet, so bringt doch die große Bandbreite an hier versammelten Arbeitsfeldern ein Kaleidoskop hervor, dass bemerkenswerte Einblicke gewähren kann in aktuelle „Organisationsdynamiken“, die reflexions- und aufklärungsbedürftig sind. Dabei begegnet die Leser:in hier einer ganzen Reihe von sehr guten Organisationsanalysen, die theoretische Klarheit und essayistische Brillanz aufweisen, die aufhorchen lassen.
Die Rezension kann nicht auf alle Beiträge eingehen, insofern ist die hier folgende Fokussierung, Hervorhebung und Würdigung einzelner Beiträge bei allem Bemühen um einen distanzierten und objektiven Blick durchaus subjektiv.
Da ist zunächst Michael Winkler zu nennen, der sich der „Zerbrechlichkeit“ von Organisationen zuwendet und sie als „Seismographen des Sozialen“ immer dann gefährdet sieht, wenn nur noch die Geldwert-Äquivalenz von Leistungen betrachtet wird, wenn Menschen sich an Strukturen anpassen müssen und ihren Eigensinn verlieren. Ein nachdenklich machender Essay.
Das Abgründige von Organisationen wurde sicher am stärksten in der Zeit des Nationalsozialismus erfahren. Stefan Kühl reflektiert die inneren Gesetzmäßigkeiten des Begriffs „Kameradschaft“ zwischen der Verklärung gegenseitiger Hilfeleistung einerseits und einer ungefragten Unterstützung in Krisensituationen andererseits. Er lotet aus, welche Grenzen zum Thema „Kollegialität“ zu ziehen sind.
Der Beitrag von Gerhard Willke bürstet in einer erfrischenden Weise gegen den Strich mancher Organisations- und Management- Theoretiker, weil er beharrlich auf der Bedeutung von Beziehung, Anerkennung, Offenheit und Verlässlichkeit zwischen Führung und Mitarbeitern auch in großen Organisationen besteht. Der Beitrag nutzt konsequent psychoanalytische und ethnologische Theoreme für die Organisations-Diagnostik und kann überzeugende Beispiele für seine Thesen präsentieren.
Käthe Kruse gibt einen farbenreichen und plastischen Einblick in die Spiele und Abläufe zwischen Politik und Verwaltung. Er macht vor allen eines deutlich: Diese Praxis ist durchzogen von Ziel- und Interessenskonflikten, von Ambiguitäten und von Paradoxien, die allesamt balanciert werden müssen, was eine hohe Reflexions-Bereitschaft und -Kompetenz bei allen Beteiligten notwendig macht. Wie das konkret und ganz praktisch aussieht, wodurch dieses fragile Spiel immer wieder gefährdet ist, davon erzählt dieser Beitrag ausgesprochen kenntnisreich.
Marlies Fröse und Michael Winkler wenden sich als Selbstbetroffene den unbewussten Dynamiken von Hochschulen zu. Dieses essayistisch anmutende Kaleidoskop von vielen nachvollziehbaren Szenen und Alltags-Skizzen ist aus einer Sorge um den Freiheitsraum Hochschule geschrieben. Die Rezensentin, die ähnliche Erfahrungen mit Veränderungswiderständen an einer Hochschule in sich trägt, musste sich beim Lesen gelegentlich einer gewissen Melancholie erwehren. Die aktuellen Gefährdungen dieses wertvollen Freiheitsraums zu thematisieren, ist aber ganz sicher ein wichtiger Beitrag zu seiner weiteren Sicherung.
Katharina Gröning problematisiert die Fallsupervision im Kontext amtlicher Jugendhilfe und plädiert für eine systematische Erweiterung der supervisorischen Wissenssysteme um Organisationswissen. Welche Folgen es hat, wenn solches Wissen nicht vorhanden ist, rekonstruiert sie präzise am Fall „Kevin“, einem viel diskutierten Fall von Kindeswohlgefährdung. Ihre feldtheoretische Analyse bringt die institutionellen Widersprüche deutlich zutage. Eine aufklärende Supervision – so Gröning – müsste diese Machtstrukturen, diese Felddynamiken und diese habituellen Verankerungen der Professionshierarchie bewusst machen. Eine bemerkenswert fundierte und ausgesprochen beeindruckende theoretische Analyse, eine Pflichtlektüre nicht nur für Supervisor:innen in der amtlichen Jugendhilfe.
Wieviel Desillusionierungs-Bereitschaft die Arbeit mit traumatisierten Kindern in Heimen erfordert, machen Anja Sauerer und Annemarie Bauer in ihrem Beitrag einfühlsam deutlich. Wie ein Schutzraum institutionell und organisatorisch gestaltet wird, der früh und damit strukturell gestörten Kindern ein sicherer Lebensort sein will, der die mangelnden inneren Regulationsmechanismen aufbauen helfen kann, wird anschaulich beschrieben. Dass dieser Weg ein langer und steiniger sein kann, muss im Alltag immer wieder erinnert werden.
Präzise Fragen, gute theoretische Fassungen und Reflexionen von schulischen Alltagssituationen machen den Wert des Beitrags von Karin Deppe aus. Die typischen Gefährdungen des schulischen Alltags werden gut – auch theoretisch – reflektiert, auch wenn gelegentlich die institutionskritische Position auf eine Weise die Oberhand gewinnt, so dass die immer vorhandenen Paradoxien nicht mehr deutlich genug werden. Ein erfreulicher Beitrag, der am Ende gegen das „Unbewusst machen“ von bedeutsamen Gefühlen wie Scham im schulischen Alltag wichtige Vorschläge zur Veränderung und einer hilfreichen Gegenbewegung bringt.
Christoph Bevier vermutet, dass hinter vielen Fallsituationen aus seiner Supervision mit muslimischen Gefängnisseelsorger:innen ein unbewusster Wunsch nach Anerkennung steckt (von der Institution, vom Staat, von der eigenen islamischen Community, von den christlichen Gefängnissseelsorger:innen, von sich selbst untereinander). Er verschafft uns einen sehr anschaulichen Einblick ein neues Arbeitsfeld, das für den Islam zudem die Herausforderung bringt, islamische Seelsorge neu zu entwickeln und theoretisch zu fundieren. Die hier entwickelte Hypothese ist erfahrungsgesättigt begründet und dadurch ausgesprochen plausibel.
Der Beitrag von Ruth Bornhofen-Wentzel widmet sich der bekannten Widersprüchlichkeit, mit der Beratungsstellen in kirchlicher Trägerschaft zu Ehe und Familie zu tun haben. Zum einen besteht vom Träger her eine klare normative Doktrin zu Ehe und Familie und zum sexuellen Verhalten, die Beratungsstellen arbeiten aber bekanntermaßen mit einer ergebnisoffenen Beratung. Der Beitrag besticht durch Feldkundigkeit und präzise Reflexion. Es gelingt der Autorin, keine eindeutigen Schlüsse zu ziehen, sondern die Deutungen für diese erkennbare Inkonsistenz offen zu halten. Sie kann dabei mit überraschenden Plausibilitäten aufwarten.
Franziska Lamott befasst sich mit den Organisationsdynamiken im Strafvollzug. Der historische Rückblick zeigt zunächst den Zwangscharakter, der in der Architektur erkennbar, aber auch in die Körper und Denkstile hinein inkorporiert wurde. Mit der Veränderung des staatlichen Auftrags (Strafrechtsreform von 1970) hin zu einem Doppelmandat von Strafen auf der einen Seite und Resozialisieren/Therapieren auf der anderen Seite entstehen Paradoxien, die nur durch Freiräume der Triangulierung balanciert werden können. Die Autorin kann kenntnisreich und theoretisch fundiert die bewussten und unbewussten Dynamiken des Strafvollzugs beschreiben und liefert damit wichtige Hinweise zur Bewältigung.
Jörg Seigis geht dem Diskurs über den Körper nach und stellt fest, dass dieser zwar immer schon eine wichtige Rolle in den Naturwissenschaften spielte, aber erst durch die Phänomenologie (Husserl usw.) erste systematische Aufmerksamkeit erhielt. Bourdieus Habitus-Theorie rezipierend („Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht, das ist man…“, Bourdieu 2015, S. 135) fragt sich der Autor: Welche Spuren hinterlässt die Organisation in den Körpern? Er stellt fest, dass der Arbeitsalltag von vielfachen Ritualen durchzogen ist, die Angst und Unsicherheit bewältigen können, die „Aufführungspraxis“ in Dienstgesprächen und Meetings ist aber gleichzeitig in der Lage, die Normen und Verhaltenserwartungen in die Körper einzuschreiben. Nicht alles, was der Körper im Arbeitsalltag an Spannung und Aufregung erlebt, ist besprechbar, muss aber ausgehalten werden. Inkorporationen können hier auch etwas unbewusst werden lassen. Der Beitrag wirft ein Licht auf wichtige Aspekte des Arbeitsalltags, die leicht übersehen werden.
Nicht nur als Gemeinwesen-Arbeiterin des Diakonischen Werkes, sondern auch wissenschaftlich als Soziologin befasst sich Sonja Keil in ihrem Beitrag mit dem Wohnprojekt einer Gemeinschaft von Schaustellern und Artisten am Frankfurter Stadtrand, das inzwischen seit 70 Jahren besteht. Sie stellt den Spagat der Professionellen zwischen der Ordnungsvorstellung von Behörden und der Eigensinnigkeit und dem Autonomiebestreben der Wohngemeinschaft anschaulich vor. Damit kann sie exemplarisch auf eine Herausforderung hinweisen, der wir uns mit der multikulturellen Wirklichkeit in unseren Städten zunehmend stellen müssen. Kulturell eigenständige Mentalitäten können mit einer einseitigen Anpassung an die Normen der Mehrheitskultur nicht bewältigt werden. Das wird durch diesen sachkundigen Beitrag unübersehbar.
Heike Baum bringt uns in Kontakt mit der organisatorischen Wirklichkeit von Kitas, die aktuell von zunehmenden Anforderungen im Blick auf das Kindeswohl, neuen Ansprüchen in der Elternschaft bei gleichzeitigem Personalmangel gekennzeichnet ist. Ihr Fallbeispiel macht auf beklemmende Weise klar, dass machtvolles Reglementieren noch immer nicht ausgestorben zu sein scheint, dass Wissen über kindliche Entwicklungsaufgaben und entsprechende pädagogische Haltungen sich nur unzureichend umsetzt. So kann sie überzeugend darlegen, dass die Teufelskreise von Ansprüchen und Überforderung nicht beendet werden, wenn Reflexionsräume nicht zur Verfügung stehen.
Fazit
Dieser Neuerscheinung ist eine interessierte Leserschaft zu wünschen, die sich nicht abfinden will mit der „Zerbrechlichkeit“ von Organisationen (Winkler), sondern an ihrer Entwicklung und Weiterentwicklung zu arbeiten bemüht ist. Hier scheint mir auch das leitende Motiv der Herausgeber:innen zu liegen, die dankenswerterweise Autor:innen gesucht und gefunden haben, die mit ähnlichen Interessen unterwegs sind und in ihrer kritischen Aufmerksamkeit auf Ausblendung, Zensur, machtvollem Übergehen, Gleichgültigkeit und Ignoranz in Organisationen Schritte zur Aufklärung und Zivilisierung gehen wollen.
Bernadette Grawe, Warburg