S. Fischer. Frankfurt am Main (2023), 187 Seiten

Das siebte Buch von Judith Hermann beruht auf den Frankfurter Poetik Vorlesungen im Sommer 2022, in denen es um eine Auseinandersetzung mit dem Schreibprozess geht, also dem Schreiben über das Schreiben. Dabei steht weniger das Geschriebene, sondern vor allem das Verborgene im Vordergrund, eine „unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu verfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr“ (S.64).

Zum gewählten Titel kommt mir als Erstes die psychoanalytische Grundregel in den Sinn, mit welcher die Analysand:in eingeladen wird, alles zu äußern, was ihr einfällt – Empfindungen, Gefühle, Träume, Gedanken, und zwar insbesondere das, was normalerweise aus Scham, Angst oder Vernunft verschwiegen würde.

Judith Hermann spielt in drei Kapiteln mit dem Zeigen und Verbergen und nimmt die geneigte Leser:in mit in ihre Schreibwerkstatt und an geheime Orte wie die „Trommel“, eine Bar in der Berliner Kastanienallee, in welche die Ich-Erzählerin ihrem ehemaligen Psychoanalytiker Dr. Dreehüs folgt, unter anderem um herauszufinden, wer der Analytiker „wirklich“ ist. In die Wohnung der Eltern, die letzte bewohnte in einem schon fast leerstehenden, geisterhaft verwahrlosten Komplex von Mietwohnungen. In ein in der Pandemie verwaistes Provinzmuseum, in welchem die Ich-Erzählerin mit einem Freund um ein Haar übers Wochenende eingeschlossen worden wäre. Das wäre dann die Gelegenheit gewesen, sich „alles“ zu sagen. Leider, ein Glück ist es nicht dazu gekommen …

Im Buch geht es neben dem Schreiben über das Schreiben vor allem um wichtige Beziehungen aus Familie und Wahlfamilie (den verstorbenen Marco, die aus den Augen verlorene Ada).  Um Träume und Traumata. Um Wünsche und Enttäuschungen. Wer also auf Enthüllungen hofft, wird (nicht) enttäuscht.

Ein besonderes Gegenüber ist die Puppe Anna, „alter Ego“ der Ich-Erzählerin. Sie ist die letzte Überlebende aus einem vom Vater gebauten Puppenhaus, welches – halbzerstört – auf dem Dachboden im Familienhaus am Meer wiedergefunden wird. Die Puppe Anna ist Zeugin der Notwendigkeit, sich in einer von transgenerationalen Traumata geprägten Kindheit zwischen einem depressiven Vater, der sich daran weidet, seinem Kind Angst zu machen und einer emotional und körperlich abwesenden Mutter Schutzräume zu suchen.  Sie wird Zeugin der Verarbeitung des Erlebten im schreibenden Erinnern der Ich-Erzählerin. Mit der Puppe Anna, die auf einem letzten heilen Stühlchen aus dem Puppenhaus auf dem Schreibtisch der Schriftstellerin hockt, schauen wir ihr mit aufs Blatt und über die Schulter. Erinnern ist Arbeit.

In den 25 Schreibjahren seit ihrem Debüt, dem Erzählungsband „Sommerhaus später“ entwickelt Judith Hermann ein Arbeitsprinzip: einen wichtigen Satz als Ausgangspunkt nehmen und ihn so lange verändern, bis er fast nicht mehr da ist, nur noch als Ahnung vorhanden, in quasi homöopathischer Dosis. Der konzentrierte und gleichzeitig assoziierende, bildreiche Schreibstil Judith Hermanns macht für mich nicht nur das Lesen zum Genuss, sondern regt auch an, die angebotenen Räume mit Eigenem zu füllen.

Ich fand es reizvoll, in den Poetikvorlesungen immer wieder Hinweise auf die früheren Arbeiten der Autorin zu finden und diese dadurch in einem anderen Licht zu sehen, was Lust auf die wiederholte Lektüre macht.

Barbara Gussone, Münster, Psychotherapeutin

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt. Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben.