Überraschende Wahrnehmungen in der virtuellen Balintarbeit

Nur um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich bin kein Technikfan! Wenn ich die Wahl zwischen einer „echten“ Begegnung und einem Zoomtreffen habe (und es nicht schwerpunktmäßig um Informationsaustausch und sachliche Themen geht), ziehe ich die ganzheitliche direkte Begegnung vor. Ich bin mir der umfassenderen Wahrnehmungsmöglichkeiten bei Präsenztreffen sehr bewusst, und damit auch dessen, was fehlt beim virtuellen Kontakt. Ich habe mich lange gesträubt, das Internet überhaupt zu nutzen, um Supervisionen und Seminare zu ermöglichen. Ich war mir sicher, dass es als Mittel zu gruppendynamischer Prozessarbeit, für Konfliktklärungen, oder gar für die Arbeit in Balintgruppen, um dort unbewussten Verstehenshintergründen auf die Spur zu kommen, eher nicht geeignet ist.

Insofern hatte ich zu Beginn der Pandemie einen beruflichen Lockdown und viel Zeit zum Aufräumen und Entmisten.

Schritt für Schritt habe ich mich dann vorgetastet: Erst Einzelsupervisionen per Zoom, dann Teams, mit denen ich schon lange gearbeitet hatte, dann auch zunehmend neue Supervisionen. In Ausbildungskursen erprobten wir ein hybrides Setting (mit einem Teil in Präsenz und einem zugeschalteten Teil per Zoom, so dass alle Gruppenmitglieder teilnehmen konnten, auch besonders Gefährdete und einmal sogar eine an Corona erkrankte Teilnehmerin).

Auch wenn es immer freudig aufgenommen wurde, wenn wieder live-Treffen (und damit auch ein informelles Gruppenleben) möglich waren, erlaubte das Internet doch ein in schwierigen Zeiten kontinuierliches Arbeiten, und in den unterschiedlichen Settings erstaunliche Erkenntnisse und Klärungen.

Lange Zeit war dabei für mich klar, dass Balintgruppen online ein „no go“ für mich darstellten. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Unbewusstes sich online entfalten könnte. Als dann sichtbar wurde, dass Corona uns viel länger begleiten würde als ursprünglich angenommen, und als die TeilnehmerInnen meiner Balintgruppen ihren Besprechungsbedarf anmeldeten, habe ich mich – eher skeptisch – versuchsweise auf das Zoomformat eingelassen.

Inzwischen habe ich mit mehreren Balintgruppen Erfahrungen gesammelt, und auch wenn die Freude in den Gruppen spürbar ist, sich zwischenzeitlich wieder in Präsenz zu treffen, gehören diese Erfahrungen zu den größten Überraschungen, die ich mit der virtuellen Arbeit erlebt habe.

Sicher ist dabei von Bedeutung, dass die Gruppen zum größten Teil schon lange und vertraut miteinander und mit mir arbeiten. Und ich muss auch respektieren, dass es einzelne Gruppenmitglieder gibt, für die dieses Medium aversiv bleibt, die keine Kästchen mehr sehen können, oder andere, die immer wieder Schwierigkeiten mit der Technik bekommen.

Aber trotzdem hätte ich mir nicht vorstellen können, was ich dann erlebte: Trotz der eingeschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten durch die reduzierten Quadrate waren unbewusste Resonanzen erstaunlich lebendig. Durch Stimme, Inhalte, Auslassungen, kleinste Bewegungen, Gesten, und fast schien mir manchmal, auch über irgendwelche gar nicht zu benennenden, geheimnisvollen Kanäle, entfaltete sich regelmäßig eine Dynamik in der Gruppe, die eine Spurensuche unbewusster Hintergründe möglich machte. Obwohl es ja gar kein Gruppenleben geben kann innerhalb der abgegrenzten Kästchen, konnte man immer wieder bei den Fallbesprechungen Spiegelungsphänomene wahrnehmen, die beim Diagnostizieren der vorgestellten Fallgeschichten das Verstehen unbewusster Beziehungsdynamiken erleichterten.

Auch an meinen eigenen Gegenübertragungsreaktionen konnte ich erleben, wie viel Unbewusstes sich transportierte, wie emotional ich oft innerlich ansprang, wie auch virtuell der manifeste Text seine latenten Botschaften vermittelte. Es gab immer wieder Momente, in denen ich nicht mehr wahrnahm, dass ich vor meinem Computer saß. In denen ich so berührt, verwickelt, bewegt, in Beziehung war, dass Umstände und räumliche Bedingungen bedeutungslos wurden und ich mich ähnlich fühlte wie in direkten Begegnungen. Ich hätte das nicht für möglich gehalten.

Obwohl ich es ja schon wusste und tausendmal erlebt habe: Die Kraft des Unbewussten mal wieder – auch im virtuellen Austausch – zu erleben, war und ist immer wieder faszinierend.


* Vielzitierter Satz meines langjährigen Kollegen Gerhard Wittenberger, um Phänomene zu kennzeichnen, die sich nur auf der Basis unbewusster Resonanzen verstehen lassen.

Inge Leinfelder-Zimmer

Inge Zimmer-Leinfelder, Wiesbaden, Dipl.Psych., Supervisorin (DGSv), gruppendynamische Trainerin (DGGO), Balintgruppenleiterin (FiS)

Inge Zimmer-Leinfelder: „Das Unbewusste arbeitet präzise“* – auch online?