Zeitdiagnosen zum Thema „Gesellschaft und Psyche“

Seit dem 24.02.2022 lesen sich Texte noch einmal anders, – gerade, wenn sie von „Zeitdiagnosen“ handeln. Mit dem Überfall Rußlands auf die Ukraine, Putins Krieg, „wachte“ Westeuropa überrascht „auf“ und wenige Tage danach verkündete der deutsche Bundeskanzler bereits eine „Zeitenwende“. Der Krieg dauert an und auch nach acht Wochen hat sich der Eindruck einer solchen Zeitenwende längst bestätigt, wohin immer sie sich wendet, nichts führt mehr zum Zeitpunkt vor dem Krieg zurück. Auf dem Boden und gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine wird ein terroristischer Krieg geführt. Erklärtermaßen zielt er auch auf das militärische Bündnis NATO, „den Westen“, bisher nur mit der Androhung militärischer Antworten, falls das Bündnis eingreifen sollte, wie die ukrainische Regierung zur eigenen Verteidigung dringlich fordert. Umdenken und Einschätzen der veränderten Lage benötigt länger Zeit als die Menschen in der Ukraine haben. Die Aufforderung zur Beschleunigung ist tägliches politisches Druckmittel vor allem auf die deutsche Regierung, der Zögerlichkeit, Zaudern und Führungsmangel vorgeworfen wird.

Militärische Zurückhaltung und gleichzeitig mehr Waffen zu liefern kommt einem Widerspruch in sich gleich und beschreitet einen schmalen Grat zwischen solidarischer Unterstützung gegen einen übermächtigen Angreifer und direkter Kriegsbeteiligung, und damit einer Ausbreitung des Krieges auf ganz Europa. Beschleunigt innerhalb von wenigen Tagen verändern sich Außen- und Innenpolitik, sie verschränken sich: fortgesetzte neue Wirtschaftssanktionen und das umfassendere Ziel Deutschlands, sich aus der Abhängigkeit Rußlands von Energie- und Rohstofflieferungen zu befreien, verfestigen tiefgreifende „Kehrtwenden“. Nur vage ist absehbar: Wirtschafts- und Arbeits- und auch Lebensweise werden sich in Deutschland und Europa schneller ändern müssen, – schneller als es die neu angetretene Regierung vor dem Krieg beschlossen hatte, wenn das Primat der Klimaneutralität perspektivisch weiterhin gelten soll. Bereits die zwei Jahre anhaltende Pandemie und nun der bisher nicht beendete Krieg in Europa – welche Aussichten darauf bestehen überhaupt? – verändern täglich gesellschaftspolitische Ziel- und Planbestimmungen in Abhängigkeit von globalen Verschiebungen politisch-militärischer und ökonomischer Machtbündnisse. Dieser Krieg ist eine „Zeitenwende“ – und gleichzeitig ein Stillstand, verlängert er doch auch die dunklen Schatten der nicht bewältigten Weltkriege des letzten Jahrhunderts in die Gegenwart und damit auch Zukunft.

Beschleunigung von Handlungsdruck, Überlagerung von latenten Konflikten und manifesten kriegerischen Katastrophen, bestimmen weltweit in Echtzeit die Bilder in den Medien und Köpfen der einzelnen Individuen, während gleichzeitig täglich die tödlichen Angriffe auf die Selbsterhaltung in der Ukraine unvermindert weitergehen: eine schwer erträgliche Spannung, zusehen zu müssen und solidarische Hilfe und Unterstützung nur eingeschränkt leisten zu können.

Marianne Leuzinger-Bohleber, forschende und lehrende Psychoanalytikerin, thematisiert in einem Diskussionsbeitrag „Das ‚erschöpfte Selbst‘ in Zeiten des ‚Global Unrest‘“ einen unerwarteten Befund aus einer großen multizentrischen Studie zur Depression: etwa 80 % der 252 untersuchten chronisch Depressiven hatten in ihrer Kindheit schwere, multiple Traumatisierungen erlebt, die später in oft jahrelanger depressiver Erkrankung mündeten (vgl. S. 311). In Zeiten von Krieg und medialer Verbreitung von Bildern von Flucht, unerträglicher Hilflosigkeit, Angst und Verzweiflung, werden bei diesen Menschen Bedrohungsgefühle aufgerufen und präsent erlebt, weil ihre eigene frühe Traumatisierung, also ihr „Korsett“ zur Streß- und Angstbewältigung „durchlöchert“ und geschwächt ist. „Um eine dauernde Überflutung durch unerträgliche Affekte und Wahrnehmungen zu verhindern, kann die Flucht in depressive Erstarrung und dissoziative Zustände für traumatisierte Menschen einen unbewussten Ausweg darstellen, wenn auch mit dem Preis, auf das Erleben eigener Gefühle von Lebendigkeit, Anteilnahme und Bindungen zu anderen Menschen zu verzichten.“ (S. 313)

Leuzinger-Bohleber schreibt mit Blick auf das Jahr 2015, als viele syrische Flüchtende aus dem Bürgerkrieg und den Lagern sich nach Europa und Deutschland aufmachten, aber ihr Befund ist auch für die aktuelle Kriegssituation aussagekräftig und bedenkenswert. Dieser Beitrag und die anderen in dem Sammelband, herausgegeben von Thomas Fuchs, Lukas Iwer und Stefano Micali mit dem Titel „Das überforderte Subjekt“ geht auf einen Kongress in Heidelberg zurück und greift eine vorwiegend sozialwissenschaftlich und psychoanalytisch geführte Debatte der letzten 20 Jahren auf, die auch breite Resonanz in der Öffentlichkeit und Feuilletons (Literaturhinweise am Ende) erhalten hat. Etwas vereinfacht und zugespitzt formuliert stellt sie die Frage: „Macht die moderne/kapitalistische Gesellschaft psychisch krank? – Und wenn ja: wie?“.

Die Tagungsbeiträge nähern sich dieser Frage in drei Abteilungen mit je vier Beiträgen (a) philosophisch-kulturgeschichtliche, (b) epidemiologisch und soziologische Aspekte der Überforderung sowie (c) klinische Perspektiven aus Psychiatrie und Psychotherapie. Abrundend verknüpft jeweils ein Kommentar die Beiträge miteinander und stellt sie teilweise eigenen Forschungsüberlegungen gegenüber. Diese Zwischenbilanzierungen erhöhen nicht nur die „Lesefreundlichkeit“ des interdisziplinären Fachbandes für ein breiteres Publikum. Sie bestätigen vor allem einmal mehr, dass die Debatte um „psychische Gesundheit/Krankheit“ im Kontext möglicher moderner arbeitsgesellschaftlicher Verursachung unabgeschlossen, offen und fortgesetzt geführt werden muss. Zeitdiagnosen sind eben nicht einfach eine Spielwiese der soziologischen Zunft, sondern auch eine sozialpolitisch relevante Fragestellung, die wissenschaftliche Forschungsprojekte generiert und in entwickelten Sozialstaaten mit aktiven Gesundheitswesen eine Bedeutung haben. Zu Wort kommen Philosophen, Politik- und Sozialwissenschaftler, Sozialpsychologen, Medizinsoziologen, Psychiater, Psychotherapeuten und auch die Perspektive von Supervisoren ist vertreten.

Ausgangspunkt ist die empirische Feststellung, dass psychische Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben und Anlass zur Vermutung besteht, dass etwa Depressionen „zur führenden Ursache für Behinderung und Arbeitsausfall aufsteigen und damit die kardiovaskulären Krankheiten ablösen werden“, wie die Herausgeber einleitend schreiben. Erschöpfung, Burn-Out und Depression sind längst nicht mehr verschwiegen und tabuisiert ertragene, sondern anerkannt krankheitswertige Symptomkomplexe, die der Behandlung bedürfen und zumindest in den entwickelten Sozialstaaten auch „zunehmend“ behandelt werden. In welcher Weise sie kollektive Erkrankungsreaktionen im Sinne einer „Pathologie des Sozialen“ sind oder mehr oder minder direkte Folge gesellschaftlichen „Überforderungsdrucks“ darstellen, ist damit noch lange nicht ausgemacht.

„Die vermeintliche Zunahme der Depression auf dem Prüfstand“, so die Überschrift des Beitrags von Joshua Handerer, Julia Thom und Frank Jacobi, untersuchen vorhandene Depressionskonzepte: „die“ Depression im Singular ist eine unhaltbare Illusion, wie viele andere Illusionen, wenn es um „Vergleiche“ von Störungsbildern, Diagnostik und Therapie geht, wie dieser Artikel detailliert nachweist. Die epidemiologischen Daten sind auf öffentliche Reporte (etwa von Krankenkassen) und weitere Verwaltungsdaten über Erkrankung/Fehlzeiten, Arbeitsunfähigkeit und Morbidität angewiesen. Nur vermeintlich trifft die Diagnosehäufigkeit „Depression“ auf Menschen im Arbeitsleben und noch dazu in den modernsten Branchen zu. Am häufigsten betroffen sind Erwerbslose und Rentner, letztere allerdings in höherem Alter (178f). Beschäftigte in Gesundheits- und Verwaltungsberufen sind im Vergleich zu anderen Branchen eher gefährdet, Beschäftigte ohne Führungsfunktionen eher als mit Führungsfunktionen, korrespondierend auch der „Haushaltsstand“: alleine, ohne Partner Lebende oder Alleinerziehende erhalten häufiger Depressionsdiagnosen. Diese Ergebnisse unterstreicht auch der Medizinsoziologe Johannes Siegrist in einem Beitrag, der empirische Untersuchungen und die dabei verwendeten Arbeitsstress-Modelle und „stressassoziierten Erkrankungen“ ausführlich vorstellt (221f).

Entkräftet wird die vorurteilsgenährte Unterstellung einer trivialen „Zunahme von …“ psychischen Erkrankungen, allen voran „der“ Depression, Burn-out und Erschöpfung. Ernüchternd ist das Fazit des epidemiologischen Beitrages mit Blick auf die breit rezipierten „kulturkritischen“ Jeremiaden (ein Begriff von Alain Ehrenberg): „Die meisten Kulturkritiken rund um die seelische Gesundheit im modernen Kapitalismus spiegeln demgegenüber insbesondere die Lebenswirklichkeit und Probleme der Eliten wider. Indirekt tragen sie damit zur Ausgrenzung und Marginalisierung genau der Gruppen bei, die eine Solidarisierung und Artikulation ihrer politischen Interessen vermutlich am nötigsten hätten. Epidemiologische Daten können hier als notwendiges Korrektiv wirken und daran erinnern, dass die unter dem Schlagwort „Burn-out“ vielzitierten Manager, Hochleister und Selbstausbeuterinnen und –ausbeuter zumindest nicht die einzigen Opfer des modernen Kapitalismus sind.“ (S. 199, Beitrag von Handerer/Thom/Jacobi)

Einseitige oder vereinfachte Hypothesen zum Zusammenhang von psychischer Erkrankung und gesellschaftlicher Entwicklung werden ausdrücklich von allen Autoren zurückgewiesen. Andererseits sind kulturkritische Diagnosen von der „Depression als Zeitkrankheit“, psychiatrische und psychologische Störungsbilder sowie das „Diskursphänomen Depression“ nur künstlich voneinander zu trennen. Weder gibt es medizinische Diagnostik ohne persönliches Leiden, Patienten ohne Therapeuten eines Gesundheitssystems, noch gibt es Alltags- und Fachdiskurse über Symptome, Krisen und Übertragungsphantasien zwischen individuellem und sozialem/gesellschaftlichem Raum. Bei noch so individueller Ausprägung jeder einzelnen Depression bleibt die Frage danach berechtigt, welchen Anteil daran gesellschaftliche Zumutungen haben, also wann „allgemeines Leid“ empirisch dingfest gemacht und anerkannt werden könnte.

Kaum zufällig erinnert die heutige Debatte an diejenige um das neuartige Krankheitsbild der „Neurasthenie“ am Anfang der (zweiten) industriellen Moderne. Ermüdung und Erschöpfung wurden als Folge und Reaktion der ungeheuren Dynamik und des rastlosen 24-Stunden-Rhythmus der Industriegesellschaft, mit Eisenbahn, Fahrrad und Automobilen interpretiert. Um die Wende zum 20. Jahrhundert griff die Medizin zu dieser Diagnose, Arbeitswissenschaften und Philosophie folgten der Diskussion und dem aufkommenden Interesse. Hartmut Böhme (Philosoph) breitet kulturhistorisch umfassend und lebendig diese Parallele „auf der kulturkritischen Schiene“ aus (S. 47).

Cornelia Klinger (Philosophin) entwirft historisch angelehnt Entwicklungslinien des Selbst-Verständnisses. Ausgehend vom aufgeklärten Subjekt, das selbstbewusst und autonom sich als „selfmade-man“ wähnt noch am Ende des 19. Jahrhunderts, wird das Subjekt im 20. Jahrhundert depotenziert und eher als „Individuum mit Weltbild“ erlebt. Die Autonomie wich der Abhängigkeit im Funktions- und Maschinenraum der Gesellschaft, das „Subjekt“ ist nur noch auf eine privat-persönlichen Sphäre zusammengeschrumpft. In den späten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und beginnenden „Nuller Jahren“ mutiert das individualisierte Subjekt zum „Singulum“ im Neoliberalismus (in Anlehnung an den Singularitätsbegriff des Soziologen Andreas Reckwitz). „Für das Singulum wird das cogito ergo sum zum video ergo sum. Im Selfie verschmilzt die absolute Selbst-Präsenz mit Selbstobjektivierung, wird die Selbst-Reflexion zum Reflex. (…) Am Ende zeigt das Singulum im Selfie kein Bild von der Welt, sondern sein eigenes Spiegelbild im Blitzlicht der Selbst-Verblendung.“ (vgl S. 129).

Für sich genommen klingt der einzelne Satz wie eine weitere Jeremiade des „kulturellen Verfalls“. Aber Klinger geht es um die „gesellschaftlichen Triebfedern“, die den individualisierten Subjekten die Veränderung aufzwingen. Spannend zu lesen sind in ihrer Darlegung ihre ausführlichen Überlegungen zu einem Kulturphänomen, das international Aufmerksamkeit erregt hat: „Cocooning“ und (in Japan) „Hikikomori“ bezeichnet ein sich „Einspinnen, Einigeln“ und Rückzug, vor allem bei Jugendlichen vermehrt beobachtbar, eine Flucht aus der Wirklichkeit etwa in die virtuelle Realität des Computerspiels. Klinger zeigt an einem lesenswerten Roman („Hikikomori“ von Kevin Kuhn), was den Protagonisten antreibt, sich in das populäre, millionenfach und weltweit verbreitete „Minecraft“-PC-Spiel gänzlich zurückzuziehen.

Krankheit als Metapher der gegenwärtigen Gesellschaft, darauf fußt die philosophische Perspektive. „Chronopathologie“ als Diskrepanz zwischen „zyklisch und linear“ sich entwickelnder Zeit in der Gesellschaft und ebenfalls der psychiatrisch zu erfassenden „Depression“, – den chronopathologischen Aspekt in der Depression thematisiert Thomas Fuchs, Psychiater und Philosoph, und sein Mitherausgeber Stefano Micali zieht die Parallele von notorischer Überforderung und Leistungsdruck in der „unternehmerischen“ Gesellschaft.

Der oben als „Depression als Diskurs“ bezeichnete Aspekt wird von soziologischer und sozialpsychologischer Seite untersucht. Zur Ambivalenz des gesellschaftlichen Überforderungsdiskurses gehört einerseits, die Thematisierung als „Pathologie“ zu begreifen, und andererseits gleichermaßen in der Überforderung eine „neue Normalität“ und Herausforderung zu sehen. Potentiale grenzüberschreitender Kreativität und Flexibilität, kontinuierliche Selbstoptimierung und Perfektionierung gehören zum modernen Leistungsprofil arrivierter Teile der gesellschaftlichen Mittelschicht, die selbst nicht unerheblich an der Schaffung neuer Standards der Arbeitsbewältigung und Lebensführung beteiligt ist. Indem sie sich damit von traditionellen „alten“ Vorstellungen absetzt, bildet sie auch eine öffentlichkeitswirksame „Elite“. Die Soziologinnen und Psychologinnen Vera King, Benigna Gerisch, Hartmut Rosa, Julia Schreiber und Benedikt Salfeld berichten über ihre Forschung und zeigen an individuellen Fallbeispielen, wie selbstoptimierende Ansprüche an den Schnittstellen von Biografie, Bildungsentwicklung und Arbeitsbiographie ineinandergreifen – und mühsam oder leicht, konflikthaft oder komplementär sich bestätigend Anerkennung – oder eben keine Anerkennung – finden, – und von den betroffenen Personen entsprechend frustrierend bzw. selbstbestätigend erlebt werden.

Konsequent schließt daran ein Beitrag zum „neuen Subjektideal des achtsamen Selbst“ in der digitalen Welt an. Friedericke Hardering und Greta Wagner entzaubern massenhaft konsumierte Ratgeberliteratur, Seminare, Trainings, die praktisch und theoretisch das Versprechen auf gleichzeitige Selbstentfaltung und Selbstschutz vielfältig präsentieren: nachvollziehbar in vielen unideologischen Argumenten und dennoch – mit einem fragwürdigen ideologischen Kern: am Ende liegen „Schuld“ und Verantwortung in den Händen des Individuums, wenn es versagt, und die Überforderung zum doppelten Vorwurf an sich selbst wird: einmal im Misslingen und zum zweiten im Scheitern am Achtsamkeitsideal.

Rolf Haubl, Soziologe, Gruppenanalytiker und Supervisor bestätigt mit zwei skizzierten Fallvignetten aus der Coaching-Praxis noch einmal, wie Belastung, Überlastung und Überforderung in den neoliberalen Arbeitsverhältnissen mehr oder weniger leidvoll erlebt, oder mehr oder weniger erfolgreich „verarbeitet“ werden können. Wollte man aus Interview-Fallbeispielen (der Soziologen) und aus der Coaching-Praxis verallgemeinernd etwas festhalten, so vielleicht dies: Zu Konflikten oder ihrer Wahrnehmung in der beruflichen Tätigkeit treten parallel nicht weniger leidvolle Konflikte im „privaten“ (Paar-,Familien-) Beziehungsbereich auf, die zusammengenommen jemanden zu Coaching, in Supervision oder Psychotherapie bringen können. Ob in diesen Beratungs- und Therapieprozessen ein gemeinsamer Blick auf die oft vorbewussten, lebensgeschichtlich bedeutsamen Konflikte und Traumata gefunden und eingenommen werden kann, ist nicht nur eine Frage des Beratenen/Klienten/Patienten, sondern – bisher empirisch viel weniger Gegenstand von Untersuchungen – auch eine des Beratenden/Supervisors/Therapeuten.

Sabine Flick, Soziologin und Supervisorin, Kommentatorin der soziologischen Beiträge zur Überforderung bringt dazu eigene Untersuchungen zu der Frage ins Spiel, welche blinden Flecken von Supervisionen und Therapien wirksam werden können, am Beispiel von Patient*innen mit Diagnosen Arbeitsüberforderung/Burn-Out/Depression, die in einer Klinik therapeutische Hilfe erhalten. Insbesondere der „biographische Blick“ von Therapeut*innen kann dazu beitragen, dass der Erwerbsarbeitskontext im Therapieprozess unterbelichtet bleibt oder unsichtbar wird, weil die Konzentration auf lebensgeschichtliche, vor allem frühkindliche Konfliktneigungen und Beziehungsgeschehen vereinseitigt zur „Familiarisierung“ der Arbeitskonflikte zum Tragen kommt: Eine Beobachtung, die möglicherweise – vielleicht mit anders gelagertem blinden Flecken – in Prozessen von Coaching und Einzelsupervisionen nicht minder auftreten kann. (Ergebnisse des Forschungsprojekt s. Literaturhinweise).

Die Verwicklung oder „Verstrickung“ von aktuellem Arbeitsleid von Belastung, Überforderung, Beziehungs- und Rollenkonflikten am Arbeitsplatz mit der nicht weniger konflikthaften individuellen Biografie und – wie eingangs von Leuzinger-Bohleber mit Blick auf ohnmächtig erlebte gesellschaftliche Situationen, die (re)traumatisierend sein können, erwähnt – stellt einen weiten vielfältigen Übertragungsraum dar, dessen sinnhafte Deutung sich keineswegs schematisch von selbst versteht oder erklärt. Die vielfältigen – fachliche wie alltägliche – Diskurse über „Überforderung und Beschleunigung“ kennenzulernen und nicht nur als vergängliche „Modeerscheinungen“ abzulehnen, ist für eigene Supervisionsprozesse sinnvoll und in diesem Sammelband in allen kritischen Facetten ausführlich und anregend dargelegt.

Besprechung von:

  • Thomas Fuchs, Lukas Iwer u. Stefano Micali: Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft, Suhrkamp Verlag Berlin 2018

Hinweise auf Debatte und weitere Literatur

  • Martin Dornes: Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften, Fischer Verlag Frankfurt 2016 (E-book Ausgabe)
  • Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele, in PSYCHE 64. Jg Heft 11/2010, S.995–1033
  • Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart Ffm Campus Verlag 2004 (1998)
  • Sabine Flick: Biografisierung als Doktrin. Der biografische Blick in der Psychotherapie, in: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 17. Jahrgang, Heft 02/2020, S.3–23,
  • Vera King: Psyche und Gesellschaft. Anmerkungen zur Analyse gegenwärtiger Wandlungen, in: PSYCHE 64.Jg. Heft 11/2010: Zum Neuen in Psyche und psychoanalytischem Prozeß, S.1040–1053
  • PSYCHE 65 Jg, Heft 11/2011 „Beschleunigung – Diagnose und Kritik“, mit Beiträgen von Hartmut Rosa, Vera King, Reimut Reiche, Martin Dornes
  • Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Suhrkamp Frankfurt 2005

 

Thomas Kuchinke

Jg. 1958, Diplom-Soziologe und Diplom-Psychologe, Familien- und Erziehungshelfer, Verfahrensbeistand, Supervisor (DGSv)

Beschleunigung und Überforderung