Wittenberger, Gerhard: Aufstieg und Scheitern des Militärpsychologen Max Simoneit im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland – Psychodynamisch-biografische Studie, Frankfurt a.M. (Brandes & Apsel Verlag) 2022
Es war die Generation der zwischen 1880 und 1900 geborenen Deutschen, die das Kaiserreich, den mehr oder weniger gelungenen Versuch der Weimarer Demokratie, die Diktatur des Nationalsozialismus und den Wiederaufbau demokratischer Strukturen (zumindest in Westdeutschland) nach 1945 erleben konnte, nebst zweier Weltkriege, die die männlichen Angehörigen dieser Alterskohorte überwiegend in der Reichswehr- oder Wehrmachtsuniform verbrachten. Zu dieser Generation gehörte auch der im Oktober 1896 im ostpreußischen Arys (heute Orzysz/Polen), einem damals knapp 1500-Einwohner-Örtchen, geborene Max Simoneit. Als Sohn eines Postboten gehörten er und seine Familie nicht gerade zur gehobeneren sozialen Schicht des Ortes. Es brauchte in der Volksschule einige Überzeugungsarbeit seiner Lehrer, die Eltern zu motivieren, Max die Ausbildung zum Volksschullehrer durch den Besuch der Präparanden-Anstalt und des Lehrerseminars zu ermöglichen. Noch vor Beendigung seiner Ausbildung meldete er sich 1914 im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger an die Front. Erst vier Jahre später legte er die Lehramtsprüfung ab, nachdem er in Russland 1916 verwundet worden war. Parallel zu seiner Anstellung als Volksschullehrer begann er 1920 ein Studium der Psychologie, das er zwei Jahre später mit der Promotion zum Dr. phil. abschloss. Nach der Heirat mit Gertrud Gorney wechselte er aus dem Schuldienst auf eine Assistentenstelle an der Universität Königsberg, die 1927 in seine Tätigkeit als Heerespsychologe mündete. Seine Karriere setzte sich 1930 in Berlin fort, als er die wissenschaftliche Leitung des „Psychologischen Laboratoriums des Reichswehrministeriums“ (1938 umbenannt in „Hauptstelle der Wehrmacht für Psychologie und Rassenkunde“) übertragen bekam. Der zunehmende Druck des NS-Regimes auf die Wehrmacht blieb für ihn nicht ohne Auswirkungen. 1940 trat er in die NSDAP ein, ein Schritt, der uns noch beschäftigen wird. Als die Hauptstelle der Wehrmacht im Sommer 1942 aufgelöst wurde, hatte er seine Habilitation an der Universität Göttingen sowie zwei Einsätze als Hauptmann der Reserve an den Fronten in Frankreich und Griechenland absolviert. Praktisch arbeitslos geworden meldete er sich erneut an die Front, wurde im Russlandfeldzug, aber auch auf militärischen Verwaltungsstellen eingesetzt, bis er 1944 im Zuge der alliierten Invasion an der Westfront schwer verwundet wurde und das Ritterkreuz verliehen bekam. Einem längeren Lazarettaufenthalt folgten wiederum Einsätze in der Heeresverwaltung. Nach Kriegsende wurde Simoneit zunächst im Lager Neuengamme bei Hamburg interniert. Nach einem Entnazifizierungsverfahren konnte er wieder als Volks- und Mittelschullehrer tätig werden; alle Versuche, im Fach Psychologie oder Pädagogik an einer Hochschule Anstellung zu finden, schlugen allerdings fehl. Sein Eintritt in die SPD hatte zur Folge, dass seine Integrität als Erzieher bzw. Lehrer von eigenen Genossen aufgrund von Veröffentlichungen aus den 1930er Jahren in Frage gestellt wurde, was letztlich zu einem zweiten Entnazifizierungsverfahren führte, für ihn wiederum mit positivem Ausgang. Nachdem er 1954 mit 58 Jahren vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden war, zog er aus Norddeutschland nach Köln, wo er ein „Psychologisches Forschungsinstitut“, eine private Gutachter- und Beratungspraxis, gründete. Er engagierte sich verstärkt im sozialen Bereich (Kinderschutzbund, Lebenshilfe) und trat mit Radiovorträgen an die Öffentlichkeit. Gleichzeitig scheint sein Alkoholkonsum in dieser Zeit stark zugenommen zu haben, was dann 1962 zu seinem Tod „im Alkoholdelir“ führte.
Die Person und Biografie des Lehrers, Psychologen und Soldaten Max Simoneit macht Gerhard Wittenberger zum Gegenstand seiner psychodynamisch-biografischen Studie. Der Psychoanalytiker nähert sich der historischen Analyse mit den „Tools“, die ihm sein Fach zur Verfügung stellt, was allerdings – und das macht er selbst schon ganz zu Anfang deutlich – ganz im Sinne einer „modernen“ Geschichtsschreibung ist. Seit die französische „Annales-Schule“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft anstieß, der in Deutschland u. a. von der „Bielefelder Schule“ weiterentwickelt wurde, stehen nicht mehr nur und in erster Linie Staatsaktionen und Staatsmänner im Mittelpunkt der Geschichtsschreibung, sondern Lebenswelten, Milieus, gesellschaftliche Strukturen auf allen Ebenen, kurz: die Alltagsgeschichte der Menschen. Dies bedeutet für die Geschichtswissenschaft, in Kommunikation mit anderen Disziplinen und deren Methoden zu treten. Im Austausch mit Ökonomie, Geographie, Soziologie, Psychologie und anderen wird es möglich, Alltagsgeschichte zu erforschen. Dazu leistet das vorliegende Werk einen hervorragenden Beitrag, fordert dem Leser, der es aus historischer Perspektive zur Hand genommen hat, allerdings mit seinem psychologischen und psychoanalytischen Ansatz auch einiges ab.
Bei Wittenbergers Studie handelt es sich nicht um die erste Arbeit über Max Simoneit. Schon 1986 hatte der Marburger Psychologe und Sonderpädagoge Karl-Heinz Bönner (1932–2017) eine biografische Skizze über das Leben Simoneits vorgelegt, die allerdings nur als 27-seitiges Typoskript, einschließlich einer 91 Titel umfassenden Bibliografie, vorliegt1. Diese vergleichsweise kurze und teilweise anekdotenhafte Abhandlung dient Wittenberger im doppelten Sinne als Referenztext. Ausdrücklich nennt er sie als eine seiner vier Quellenarten (neben Simoneits Texten, Archivquellen und der Sekundärliteratur), andererseits ist sie als „apologetischer“ Text – Wittenberger spricht vom „Versuch einer ‚Ehrenrettung‘“ (57) – mit der Kernaussage, Simoneit sei ein „glühende[r] Nationalist und zugleich Anti-Nationalsozialist“ gewesen auch die Anti-These zu seiner Studie, an der er sich abarbeitet. Für Wittenberger liegt der Schlüssel zum Verständnis der Person und Biografie Simoneits in der Internalisierung eines Soldatenbildes, das er nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte und in den 1920er und 1930er Jahren in mehreren Veröffentlichungen verarbeitete. Die Werte seines militärischen Moralkodexes wie Treue, Gehorsam, Männlichkeit, sexuelle Abstinenz, selbstloser Einsatz unter weitgehendem Verzicht auf Genuss aber auch eine deutliche Distanz zur Demokratie, wurden zur Grundlage seiner Tätigkeit in der Wehrmachtspsychologie, wo er beispielsweise mit seinem individualpsychologischen Ansatz bei der Beurteilung von Offiziersanwärtern die physische und psychische Konstitution, die biografische Prägung und soziale Herkunft als Untersuchungskriterien heranzog. Obwohl sich Simoneit retrospektiv in Opposition zur nationalsozialistischen Ideologie sah und sein Verhältnis zum NS-Regime nicht konfliktfrei war, was u. a. 1942 zur Auflösung seiner Hauptstelle aus ideologischen und pragmatischen Gründen führte, gab es von ihm auch immer wieder Äußerungen, die ideologisch passgenau der NS-Ideologie entsprachen, wenn er etwa 1940 formulierte: „Was der Gehorsam für das Gesamtleben der Nation im Frieden und im Krieg bedeuten kann, ist selten in der deutschen Geschichte so deutlich geworden wie seit 1933“ (124). Wittenberger kommt zu dem Schluss, dass „Simoneits Ambivalenz dem NS-Regime gegenüber einerseits eine Spiegelung der Einstellung eines Teils der militärischen Führung der Wehrmacht war, und andererseits, dass eine Glorifizierung vom ‚kultivierten Soldatentum‘ dazu führte, als jemand wahrgenommen zu werden, der ‚auf dem Boden des Nationalsozialismus‘ steht“ (136). Durch die im Entnazifizierungsverfahren vorgelegten Leumundszeugnisse versucht Simoneit dagegen, den Eindruck, er habe der NS-Ideologie nahegestanden, zu widerlegen. Ausgerechnet die „Persilscheine“ zweier bekannter katholischer Repräsentanten stilisieren den evangelischen Christen regelrecht zum Oppositionellen. Prälat Georg Werthmann (1898–1979), von 1936 bis 1945 Feldgeneralvikar der Wehrmacht, bezeugt, Simoneit habe schon vor Kriegsausbruch auf seine Warnung hin, mit regimekritischen Äußerungen vorsichtig zu sein, geantwortet, es müsse „gegen den Irrwahn des Nationalsozialismus auch Märtyrer geben“ (199). Der Philosoph Josef Pieper (1904–1997), zeitweise Mitarbeiter in Simoneits Wehrmacht-Hauptstelle, fügt diesem „Märtyrermythos“ (Wittenberger) noch einen „Opfermythos“ (201) hinzu, indem er Simoneit bezeugt, 1940 gegen seine Überzeugung in die NSDAP eingetreten zu sein, um Pieper (und anderen Mitarbeitern) diesen Schritt zu ersparen. Im Unterschied zum Biografen Bönner unterzieht Wittenberger die Entlastungszeugnisse und Simoneits eigene Einlassungen einer sorgfältigen und kritischen Analyse, die ihn zu dem Vorwurf berechtigt, Bönner verstärke in seiner Dokumentenauswahl „den Eindruck der ‚Ent-Schuldung‘. Indem er sich lediglich auf die vorliegenden ‚Zeugnisse‘ beruft, ohne sie kritisch zu überprüfen“ (205). Dagegen kommt Wittenberger zu dem Schluss: „Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten zur Zeit des Nationalsozialismus ließ Simoneit nicht erkennen.“ (177) „Auch wenn Simoneit diese Konsequenzen [Säuberung des Volkskörpers und Reinheit der Rasse]“, so Wittenberger, „nicht wollte, so war er doch aufgrund seiner Funktion in das NS-System integriert.“ (83) Er selbst dagegen blieb der Auffassung, dass als Soldat und Psychologe alles was er tat, nur im Namen des „Deutschen Soldatentums“ und der wissenschaftlichen Neutralität geschah. Es gibt für ihn in zwei Entnazifizierungsverfahren zwar so etwas wie eine formale „Lossprechung“, den Bruch in seiner beruflichen Karriere vermag er aber trotz jahrelanger Bemühungen nicht zu beheben. Dies erscheint umso bitterer, als in der Nachkriegszeit so gut wie alle Lehrstühle der Psychologie in Deutschland durch frühere Mitarbeiter (und Untergebene) aus seiner Wehrmachtshauptstelle besetzt waren. So geht der freiberufliche Neubeginn nach seiner vorzeitigen Pensionierung, verknüpft mit sozialem Engagement, publizistischer Tätigkeit und beraterischer Funktion für die Bundeswehr, einher mit innerer Unruhe, verstärktem Nikotin- und Alkoholkonsum – Wittenberger spricht von „verdecktem Suizid“ (297) – und endet 1962 im Alkoholdelir. Wittenberger sieht darin die Suche nach „einer Art ‚Heimat‘ vor allem auf zwischenmenschlicher Ebene“, die er nur in den „soldatischen Kameradschaften“ fand. (243)
Wittenberger beschließt seine Studie mit einem literarischen „Vermächtnis“ Simoneits. In seinem unveröffentlichten Typoskript „Abschied vom Soldatentum – Unlösbare Soldatenkonflikte“ beschreibt er in neun Episoden Kriegserlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich zum Teil in seiner eigenen Kriegsbiografie verorten lassen. Die um 1958 entstandenen, schriftstellerisch durchaus niveauvollen Texte sind Simoneits Versuch, sich von seinem Ideal des “Deutschen Soldatentums“ zu lösen, nicht ohne diesen Abschied gleichzeitig zu stilisieren: „Dieser Abschied ist eine Konsequenz der Ehre und in seiner wehmütigen Tragik eine erste Leistung unserer neuen Kultur“, heißt es im Vorwort (251) Obwohl er den soldatischen Kampf in den neun Episoden in keiner Weise glorifiziert, fehlt aber auch jede Reflexion der Verstrickung der Wehrmacht in das NS-Regime, in die Massenmorde im Krieg sowie im Holocaust. Simoneit behauptet zwar, Soldaten seien „Diener der Geschichte“, folgert dann aber: „Die neue Epoche fordert, dass der Soldat aus der Geschichte gehe“. (286) Wittenberger nennt das eine „Abstraktion von Geschichte“, in der Akteure nicht benannt werden, sondern die Reflexion lediglich im Rahmen von Simoneits Ideologie des Soldatentums stattfindet. Dass es ihm nicht wirklich um einen kulturellen Neuanfang geht, belegt sein Biograf Bönner: „(Er) vertritt ein Soldatentum, das sich längst überholt hat, kämpft gegen Verweichlichung, Tanzcliquen und Nacktkultur, wendet sich scharf gegen General von Baudissin.“2 (228) Für Leser der Nachkriegsgeneration, die durch die gesellschaftlichen und politischen Bewegungen der späten 1960er Jahre geprägt sind, ist die Lektüre des Textes durchaus eine Herausforderung (Zitat: „Soldat sein heißt, feurig sein, mit dem Feuer spielen und es beherrschen können“ 257). Aus heutiger Sicht ist Simoneits „Abschied vom Soldatentum“ ein Beispiel für die damalige Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen den Generationen.
Wittenberger hat eine sorgfältig recherchierte Studie des Militärpsychologen Max Simoneit erarbeitet, deren psychologisch-psychoanalytische Hermeneutik andere beurteilen müssen. Ein Historiker mag angesichts von Traumdeutungen oder der Interpretation des Fotos eines ordengeschmückten Militärs als Form des Tätowierens und damit eines archaischen Zeichens der Ehrfurcht vor den Göttern möglicherweise die Stirn runzeln, aber er wird gleichzeitig Wittenbergers gründliche Recherche, Auswertung und Analyse des umfangreichen Quellenmaterials schätzen, welches das Leben Simoneits in all seiner Widersprüchlichkeit und Tragik deutlich werden lässt. Für die Geschichtswissenschaft bedeutet Wittenbergers Arbeit einen interessanten und weiterführenden Beitrag im Sinne einer interdisziplinären Forschung. Der historisch interessierte Leser wird Wittenbergs Monografie als bereichernd, aber auch herausfordernd erleben. Bleiben noch zwei kleine Desiderate zu nennen: Für den Leser wären im Anhang ein tabellarischer Lebenslauf Simoneits ebenso wie ein Abkürzungsverzeichnis hilfreich gewesen.
Georg Pahlke, Dipl.-Päd., Dr. phil., 40 Jahre Tätigkeit in der außerschulischen Jugendbildung, zuletzt stellv. Direktor und pädagogischer Leiter einer katholischen Jugendbildungsstätte, u. a. Aufbau einer Dokumentationsstelle für kirchliche Jugendarbeit, Mitglied der Kommission für kirchliche Zeitgeschichte im Erzbistum Paderborn, von 2005–2017 deren Vorsitzender.
1Bönner, Karl-Heinz: Das Leben des Dr. phil. Habil. Max Simoneit, https://www.psycharchives.org/en/item/7cf4c9fc-6757-4fd2-add1-37ec6a8749b9 (acc. 26.07.2022)
2Wolf Stefan Traugott Graf von Baudissin (1907–1993) war maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr beteiligt Auf ihn geht u. a. das Konzept der „Inneren Führung“ zurück.