Übergänge von einer zu einer anderen Lebensphase gehören zum Menschsein und fordern vom Einzelnen wie von der jeweiligen sozialen Umgebung eine Veränderung. Diese ist die Voraussetzung für Entwicklung. Nach dem Konzept der Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1961) werden an Menschen von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter Aufgaben und Anforderungen herangetragen, die zu bewältigen sind. Eberhard Stahl (2002, S. 223) spricht in Anlehnung an Fritz Riemann (Riemann, 1989) von der seelischen Grundströmung im Umgang mit Zeit, die von Menschen unterschiedlich beantwortet werden kann, der man im Grundsatz aber nicht entgehen kann. Setzt jemand mehr auf Beständigkeit oder mehr auf Veränderung? Die Entscheidung für Dauer leugnet das Thema der Vergänglichkeit und der ständige Wechsel die Notwendigkeit von Stabilität. Sowohl Beständigkeit als auch Veränderung müssen mit den jeweils damit verbundenen Ängsten in das menschliche Leben integriert werden. Menschen können sich diesem Spannungsfeld zwar zeitweise, aber nie grundsätzlich entziehen.
Ein Leben ohne Veränderung bedeutet Stillstand. Veränderung geht einher mit einem Wechsel und bedarf eines Übergangs. Übergänge sind dabei die Zeiten und Räume zwischen zwei verschiedenen Ereignissen, Lebensphasen oder Orten. Sie sind geprägt von einem „nicht mehr“ und „noch nicht“ und damit mit einem Risiko behaftet. Altes, Vertrautes, Sicherheit gebendes wird verlassen und auf das Neue, Andere, Unbekannte muss man sich mit all seinen Unwägbarkeiten einlassen und einstellen. Es gibt keine Gelingensgarantie. Weder für das Gelingen eines Abschiedes noch für den Beginn von etwas Neuem.
Dieses „nicht mehr“ und gleichzeitig „noch nicht“, diese Phase des Übergangs verlangt somit nach einer Gestaltung. Es geht um die Ermöglichung eines bewussten Abschlusses vom Alten sowie eines klaren Anfangs von Neuem. In unserer schnelllebigen Zeit vergessen wir das allzu oft. Wir haben uns an schnelle Wechsel und fehlende Übergangsgestaltung gewöhnt. So ist beispielsweise die Beendigung einer Beziehung manchmal keiner persönlichen Auseinandersetzung mehr wert, sondern wird per WhatsApp ausgesprochen, oder die Einführung in ein neues Arbeitsfeld wird auf ein Minimum begrenzt und es wird keine Zeit der Eingewöhnung zugestanden. Das, was Übergänge gelingen lässt, nämlich Zeit für Reflexion und Anpassung an etwas Neues, wird als überflüssig angesehen und soll dementsprechend möglichst kurzgehalten werden. Übergänge sind aber Prozesse, die Zeit benötigen. Sie stellen eine Phase mit eigener Qualität dar und sind geprägt von dem, was verlassen und dem, was von der Zukunft erwartet wird.1
Im Folgenden werden ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Aspekte dieser besonderen Phase exploriert. Sie orientieren sich an eigenen Erfahrungen und Überlegungen hinsichtlich des Wechsels von einer langjährigen Berufstätigkeit an einer Hochschule in den Ruhestand, sind in Teilen aber sicherlich auch übertragbar auf Phasen z.B. der beruflichen Umorientierung oder anderer Übergangsprozesse. Allein die Radikalität und die damit einhergehende Tiefe der Auseinandersetzung sowie die Selbst- oder Fremdbestimmtheit der Veränderung mögen Unterschiede in den einzelnen Aspekten beinhalten. Darüber hinaus werden einige Überlegungen dazu angestellt, welche Funktion Supervision in der Gestaltung von Übergängen haben kann. Dies sowohl für mich beim Wechsel in den Ruhestand als auch für das Beratungsformat Supervision.
„Nicht mehr“ und „noch nicht“ – den Übergang gestalten
Abschied nehmen – Voraussetzung für Neues
Um in etwas Neues eintreten zu können, bedarf es einer Auseinandersetzung mit und eines Abschieds von Bisherigem. Der Rückblick und die Reflexion des Vergangenen ermöglichen eine Bewusstheit für das, was gelungen, aber auch für das, was offengeblieben ist, was zurückgelassen wird. Supervision kann dabei helfen, Vergangenes zu sichten, zu reflektieren, zu erkennen, zu trauern und sich mit Unabgeschlossenem zu versöhnen, um hier nur einige Aspekte zu benennen. Die Vergewisserung über Erfahrungen und die damit einhergehende (Weiter)Entwicklung einer (beruflichen) Identität, ermöglichen die Annahme einer neuen Herausforderung. Weil es bearbeitet wird, kann entschieden werden, was zurückgelassen und was in einer neuen Lebensphase, einem neuen Arbeitsplatz oder einer neuen Beziehung von Bedeutung sein kann.
Übergang als Prozess
Real erlebbar wird Abschied mit all seinen Konsequenzen erst im Übergang. Dann werden Verluste nicht mehr nur antizipiert, sondern, wenn sie nicht unmittelbar durch die Fortsetzung von Bekanntem überlagert werden, erlebt. Während der „Verlust“ von zeitlicher Verplanung im Ruhestand als Luxus und in Verbindung mit Urlaubsassoziationen allgemein als große Freiheit betrachtet wird, stellt der Verlust von Personen und Strukturen, die den Alltag gestaltet haben, sowie das Ausbleiben einer Resonanz auf eine berufliche Rolle für Ruheständler*innen eine Herausforderung dar.
Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem Erspüren dieser Verluste und der Versuchung, die freie Zeit schnell wieder zu füllen. Letzteres stellt eine Gefahr dar. Das schnelle Ausfüllen eines freiwerdenden Raumes und Zeitfensters verhindert das Erleben von Verlusten und ein Herantasten an Neues. Es verhindert den reflektierenden und sortierenden Rückblick und das Ausprobieren von Neuem einschließlich der Umwege.
Für mich war der Eintritt in den Ruhestand mit Fragen verbunden wie:
- Wieviel (ungenutzte) Zeit gestehe ich mir zu?
- Wieviel unstrukturierte Zeit ertrage ich?
- Wie und mit welchen Aktivitäten gelingt eine zufriedenstellende Neustrukturierung der Zeit?
- Wie ergeht es mir mit der Veränderung, dass nach über 40 Berufsjahren der selbstverständliche alltägliche Kontakt mit vielen, sehr unterschiedlichen Menschen nicht mehr da sein wird?
- Wie ergeht es mir mit dem entsprechenden Verlust der Rolle? Ist mein persönliches Identitätserleben so stabil wie am Ende der Hochschultätigkeit oder stelle ich fest, dass die Rahmenbedingungen einen deutlichen höheren Anteil daran hatten, als mir bewusst war. Erlebe ich dies erst in Abwesenheit der Rolle und wenn ja, lasse ich diese Erfahrung zu?
aber auch mit:
- Auf was bin ich neugierig?
- Was sind Ziele, Aktivitäten, für die die bisherige berufliche Einbindung keine oder zu wenig Zeit ließ?
- Welche Aktivitäten sind mir bisher noch nie in den Sinn gekommen? Welche würde ich gerne ausprobieren und erleben, ob ich einen Zugang dazu finde?
- An welche Aktivitäten, die im Verlauf der Zeit im Hintergrund verschwunden sind, würde ich gerne wieder anknüpfen? Geben Sie mir die gleiche Befriedigung und Freude, an die ich mich erinnere?
- Freude über frei verfügbare Zeit, die einen unglaublichen Luxus darstellt (nie in meinem bisherigen Leben hat es so viel frei verfügbare Zeit gegeben).
Damit Übergänge gelingen, bedarf es Zeit, die man sich nehmen und einfordern sollte.
Supervision als reflexives und gestaltendes Format des Übergangs
Supervision kann Übergangsprozesse reflektierend begleiten:
- Bei der Integration von Gelungenem und offen Gebliebenem
- Bei der Ermutigung zum Betrachten von Ungewissem und Annäherung an Ängstigendes
- Bei der Suche nach stützenden Strukturen
- Durch Ermutigung zu kleinen Schritten
- Durch Ermutigung, sich die notwendige Zeit für Veränderung zu nehmen und diese auch von den Personen im Umfeld (Arbeitgeber, Familienmitglieder, Freunde…) einzufordern
- Durch ein Entdecken, dass es zwar geteilte Orte, Phasen oder Handlungen im Leben geben kann, das eigene Selbst jedoch, mit allem, was einen ausmacht, die Verbindung herstellt.
Für mich als Supervisorin und Lehrsupervisorin war der Wiedereinstieg in die supervisorische Arbeit eine Überlegung, wie der Übergang in eine nachberufliche Phase gestaltet werden kann. Zwar spielte die supervisorische Praxis für mich auch in der Zeit an der Hochschule bereits eine Rolle, allerdings nicht in dem Umfang der sonst überwiegend lehrenden Tätigkeit.
Mit der Aussicht auf den Ruhestand veränderte sich die Perspektive. Verfügbare Zeit war kein einschränkender Faktor mehr. Fortan konnte ich Supervisonsprozesse ohne zeitliche Begrenzung durch eine andere berufliche Tätigkeit kontraktieren und damit anknüpfen an eine Beratungsarbeit, die ich immer sehr gerne gemacht habe und die mir viel Befriedigung gegeben hat. Der Attraktivität einer solchen Überlegung stand jedoch bereits früh ein warnendes Gefühl gegenüber, das reflektiert werden wollte: Besteht die Gefahr, dass mit Supervision die „Leerstellen“ (s. offene Fragen oben) gefüllt werden sollen? Dass nicht das Anliegen der Supervisanden im Vordergrund steht, sondern Supervision dazu dient, den nun unstrukturierten Alltag zu strukturieren, weiterhin soziale Kontakte zu haben, das eigene Ego zu pflegen oder sich nicht der Gefahr auszusetzen, festzustellen, dass neue, sinnstiftende Ziele gefunden werden müssen? Dieses Gefühl ernst nehmend, habe ich mir Zeit für den Übergang gegeben und zunächst wenig Supervisionsprozesse übernommen. Für die kritische Selbstreflexion war dabei die Arbeit in der kollegialen Gruppe sehr hilfreich. Nach nunmehr zwei Jahren im „Ruhestand“ sind eine Reihe der aufgeworfenen Fragen neu beantwortet. Die supervisorische Arbeit ist Bestandteil meiner nachberuflichen Phase geworden. In einem für mich stimmigen Maß strukturiert sie den Alltag mit. Die damit einhergehenden fachlichen Anforderungen fordern mich, sind daneben aber auch sehr belebend und erinnern an die Tätigkeit an der Hochschule. Wenn Übergänge auch etwas Verbindendes haben können, so ist die Tätigkeit als Supervisorin und Lehrsupervisorin für mich zu einem auf mehrfache Weise verbindenden Moment geworden. Sie verbindet die nachberufliche Phase mit der langjährigen Tätigkeit an der Hochschule und ist zu einem verbindenden Element meiner beruflichen Identität geworden.
1 Sehr anregend für die Überlegungen war ein kleines Büchlein von Axel Schlote (2012) zum Übergang vom Festland auf eine Insel
Literatur:
- Riemann, Fritz (1989), Grundformen der Angst. Reinhardt, München
- Schlote, Axel (2012) 45 Minuten bis zur Ankunft: Übergänge. Eine kleine Philosophie der Insel – Folge 1. Edition Pertersen. Esens, Hrsg.
- Stahl, Eberhard (2002), Dynamik in Gruppen. Beltz, Weinheim
Dr. Rita Paß
Berufliche Stationen: nach mehrjähriger Tätigkeit als Dipl. Sozialpädagogin in der Jugend- und Erwachsenenbildung Wechsel zur Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster. Seit 2021 im Ruhestand. Supervisorin (DGSv) seit 1988, Lehrsupervisorin (FiS) (KatHo) (TOPS). Professorin für das Lehrgebiet „Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit“ an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster. 2011–2015 Dekanin der Abteilung. Qualitätssicherung: Balintgruppe, Kontrollsupervision, Kollegiale Beratung, Fachtagungen.