Im Märzheft der PSYCHE erschien ein aufrüttelnder und höchst aktueller Beitrag des englischen Psychoanalytikers David Bell, der an der Londoner Tavistock-Klinik langjährige Erfahrungen mit minderjährigen Patienten machen konnte, bei denen Geschlechtsidentitätsstörungen diagnostiziert und die dann zur medikamentösen und operativen Geschlechtsumwandlung an spezielle Zentren überwiesen wurden. Bell stellte einen sprunghaften Anstieg der Fallzahlen seit Beginn der 2010er-Jahre fest (an einem der Zentren innerhalb von 5 Jahren auf das 50fache, wobei die Zahl der Mädchen, die eine Geschlechtsumwandlung wünschten, zunehmend deutlich stärker anstieg als die der Jungen). Dies führt er u. a. auf „eine Art viraler Ansteckung“ (S. 202) zurück, für die besonders Kinder empfänglich seien, „die sich in der Welt verloren fühlen“ (S. 203). Diese radikalisierten sich online „und schließen sich Transgruppen an, die ihnen wenigstens eine Identität und soziale Zugehörigkeit verschaffen, und dazu noch eine Erklärung für ihr ganzes Leiden“ (S. 203). Auch stellt er „deutliche Anzeichen für eine soziale Ansteckung in Schulen“ fest (S. 203). Er referiert eine Untersuchung aus dem Jahr 2018, der zufolge mehr als ein Drittel der von Geschlechtsdysphorie betroffenen Jungen und Mädchen „zu Freundeskreisen gehörten, in denen sich 50 Prozent oder mehr der Jugendlichen ungefähr zur gleichen Zeit als ‚Transgender‘ zu identifizieren begannen“ (S. 202). Bei den zur Geschlechtsumwandlung überwiesenen Kindern und Jugendlichen sei überdies aufgefallen, dass viele „exakt dieselben Aussagen machten, als ob sie ein Skript einstudiert hätten (dass sie genau das sagten, was ihrer Auffassung nach alle Kriterien erfüllte, um gleich auf den Pfad der medizinischen Behandlung gesetzt zu werden)“ (S. 210).

Pubertät ist Übergangszeit. Eine Zeit, geprägt von Turbulenzen und Verwirrungen. Jugendliche werden konfrontiert mit emotionalen und vor allem körperlichen Veränderungen, die ihnen eindeutig signalisieren, dass sie keine Kinder mehr sind. Manche mögen diese Veränderungen herbeigesehnt haben und sich darüber freuen, nun endlich erwachsen zu werden. Andere erschrecken und wünschen sich nichts sehnlicher, als diesen Veränderungen zu entgehen. Sie fühlen sich genötigt, einen Ausweg zu suchen, der es ihnen ermöglicht, die natürliche, sie ängstigende Entwicklung aufzuhalten. Früher fanden sie – es waren überwiegend Mädchen – einen solchen vermeintlichen Ausweg oft in der Magersucht. Das exzessive Hungern verhinderte Monatsblutung und weibliche Rundungen. Es verhinderte das Erwachsenwerden. Kamen sie zu uns in Analyse, wurde schnell deutlich, dass ihrer Erkrankung eine tiefe Depression zugrunde lag. Heute finden die Jugendlichen andere Auswege. Einer heißt „Geschlechtsidentitätsstörung“.

Im Dezember 2018 erschien im Evangelischen Magazin „Chrismon“ ein Bericht über ein Mädchen, das an einer schweren Depression erkrankte, ausgelöst durch die Menarche mit elf Jahren. Das Kind gab Klavierspielen und Fußball auf, verkroch sich nur noch in seinem Zimmer, war fast unsichtbar. Die Eltern waren besorgt, spürten, dass es der Tochter nicht gut ging, fragten nach, aber sie wollte nicht darüber reden. Was machte das Kind in seinem Zimmer?

Das Mädchen war oft im Internet unterwegs, googelte und „entdeckte“ schließlich, dass es ein „Trans-Junge“ sei: „Mein Gehirn hat ein anderes Geschlecht als mein Körper. Ich bin ein Junge in einem weiblichen Körper.“ Auf einmal schien die Ursache für die Depression gefunden und damit auch die Lösung: Wenn ich meinen Körper meinem Gehirn anpasse, bin ich meine schlechten Gefühle los. Der Bericht schildert dann den mit Energie und großer Hartnäckigkeit verfolgten Weg des Mädchens heraus aus dem weiblichen Körper. Er führt über ein Kompressionsshirt, das den Busen flachdrückt, Pubertätsblocker und männliche Hormone bis hin zu sogenannten geschlechtsangleichenden Operationen. Die zunächst widerstrebenden Eltern lassen sich sehr schnell überzeugen, diesen Weg ihres Kindes gegen alle Widerstände der Umwelt zu unterstützen, was die berichtende Journalistin lobend konnotiert.

Psychoanalytisch könnte diese Entwicklung auch als manische Abwehr verstanden werden, die von der ganzen Familie agiert wird. Meine Hypothese: Auslöser für die Depression des Mädchens war, dass ihr mit dem frühen Eintritt der ersten Monatsblutung die Tatsache deutlich wurde, real auf ein Geschlecht festgelegt zu sein. Ein wesentlicher Meilenstein der psychosexuellen Entwicklung besteht in der Lösung des Ödipuskomplexes, die darin liegt, dass das Kind auf Größenphantasien verzichtet und die Realität anerkennt – die Realität, die darin besteht, dass es Generationengrenzen gibt, dass also der Wunsch nach sexueller Vereinigung mit einem Elternteil aufgegeben werden muss. Und dass man auf die Eigenschaften eines Geschlechts festgelegt ist (Wittenberger 2016). Mathias Hirsch (2011) schreibt über eine Patientin in einer vergleichbaren Situation: „Der Körper hatte sich mit der Menarche eigenmächtig daran gemacht, dem Mädchen eine Identität aufzudrücken.“ Wenn nun der Ödipuskomplex nicht gelöst wurde, wird das Manifestwerden der Realität in Form der natürlichen körperlichen Entwicklung als Erschütterung der Omnipotenz und damit als schwere narzisstische Kränkung erlebt. Dies kann depressive Gefühle auslösen bis hin zu Suizidgedanken. „Jede Monatsblutung war eine Niederlage“, heißt es in dem Bericht über das Mädchen, dessen eigentlicher Name nie genannt wird.

Aus psychoanalytischer Sicht heißt es nun, genau diese abgelehnten Gefühle des Gekränktseins, des Selbsthasses und der Verzweiflung ernst zu nehmen und ihre Ursache zu ergründen. Diese Gefühle sind zunächst einmal wertvoll als Signale, dass das Kind therapeutische Hilfe braucht. Und zwar eine Therapie mit offenem Ausgang, in der die Patientin bisher missglückte Entwicklungsschritte nachholen kann, z. B. die Lösung des ödipalen Konflikts. Nicht die Geschlechtsidentitätsstörung macht depressiv, sondern sie ist die Abwehr der Depression und verhindert damit seelische Gesundung. Das Hochgefühl und die neu gewonnene scheinbare Ruhe des Mädchens, wenn es seinen Wunsch nach Geschlechtsumwandlung durchsetzen kann, ist vergleichbar mit dem Hochgefühl der Anorexiepatientin, die es schafft zu hungern und sich damit ebenso ruhig und angstfrei fühlt. Das Mädchen hat für sich den Namen James gewählt – nach dem Vater von Harry Potter. Ausgerechnet! Denn Vater wird sie auch nach einer Geschlechtsumwandlung niemals werden. Sie wird ihre Gebärfähigkeit verlieren, aber sie wird auch nicht zeugungsfähig sein. Es scheint, als würden sich die Eltern über diese gravierende Einschränkung des gesamten zukünftigen Lebens ihres Kindes keine Sorgen machen.

Warum agiert die Familie die Abwehr mit? Auch darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Es heißt: Die Eltern waren verwirrt. „Sie lasen stapelweise Bücher und wissenschaftliche Studien“. Die Mutter sagt, sie habe viel geweint. „Ich musste (!) mich verabschieden von dem, was war … ich durfte (!) den Namen nicht mehr nennen…wir sollten (!) Bilder abhängen, auf denen man sah, dass unser Kind ein hübsches Mädchen war“ – das Zwingende, das von der Patientin ausging und dem sich die Eltern unterwarfen, zeigt sich hier in der Wortwahl. Lobend hebt die Journalistin hervor, dass die Eltern heute ihr Widerstreben, das Kind mit seinem selbst gewählten männlichen Vornamen anzureden, überwunden hätten. Lobend äußert sie sich auch über die „Standhaftigkeit“ der Eltern gegenüber kritischen Meinungen von Verwandten und Freunden. Diese versuchten, der Familie „schlechte Gefühle“ zu machen, behauptet sie. So agiert auch sie die Abwehr der Eltern mit – eine Abwehr, die diese daran hindert, das eigene Widerstreben und die Kritik der anderen als Chance zu sehen, über sich und die Familie nachzudenken und sich wirkliche Hilfe zu suchen. Die Vermutung einer außenstehenden Person, die Eltern hätten sich vielleicht nach zwei Töchtern als drittes Kind einen Sohn gewünscht, wird abgeschmettert: „Haben sie nicht, sie wollten bei keinem Kind vor der Geburt das Geschlecht wissen.“ Familie und Journalistin nehmen also das Bewusste für die ganze Psyche, unbewusste Wünsche gibt es nicht. (Christine Horch, 2018)

Vielleicht hätte eine Psychoanalyse dieses depressiven Mädchens das ganze Familiensystem erschüttert. Denkbar wäre, dass sie als Indexpatientin die latente Depression von Vater, Mutter oder beiden gelebt hätte und dass dies mit einer Psychoanalyse hätte deutlich werden können. Oder dass sich die Tochter mit Hilfe einer Therapie aus der Familie hätte lösen können. Beides hätte möglicherweise eine unbewusste Angst auch bei den Eltern hervorgerufen, die sie im Mitagieren abzuwehren versuchen, statt sich um wirkliche Hilfe zu bemühen. So profitieren auch sie von dem narzisstischen Hochgefühl, das die manische Abwehr mit sich bringt: Alles Böse wird in die Außenwelt projiziert mit dem Resultat, dass es innerhalb der Familie scheinbar keine Konflikte mehr gibt – eine unbewusste intrafamiliale Dynamik, für die Horst-Eberhard Richter schon 1970 die Bezeichnung „Familie als Festung“ geprägt hat.

Damit unterstützen die Eltern ihre Tochter auf einem für ihre gesunde Entwicklung höchst gefährlichen Weg: Eine Geschlechtsumwandlung ist höchstens eine Annäherung an die gegengeschlechtliche Person. Die neuen Geschlechtsteile sind eine Prothese für eine seelisch-emotionale Behinderung, für ein seelisch-emotionales Defizit. Der Phänotyp, die Wirkung nach außen, bringt eine gewisse narzisstische Restitution, aber man wird kein lebendiger gegengeschlechtlicher Mensch. Es ist möglich, dass ein schwer depressiver Mensch nicht anders (über)leben kann, so wie ein körperbehinderter Mensch etwa nach einer Amputation eine Prothese als Ersatz für das fehlende Körperteil dringend braucht. Aber: Jugendliche sollten die Chance bekommen, ihr seelisches Leid zu heilen, ihr emotionales Defizit aufzufüllen, bevor sie eine Prothese verpasst bekommen, die das dauerhaft verhindert. Bevor sie also schmerzhafte und verstümmelnde Eingriffe in ihren Körper vornehmen lassen, die das damit erhoffte Glücksversprechen vermutlich niemals einlösen.

Die derzeit vor einer Geschlechtsumwandlung vorgeschriebene „Psychotherapie“ ist keine Psychotherapie im analytischen Sinne, da sie für die Jugendlichen nur ein Mittel zum Zweck ist, das bereits von ihnen festgelegte Ziel zu erreichen, und sie sich daher nicht auf einen ergebnisoffenen Prozess einlassen. Mit einer solchen verordneten Therapie werden Psychotherapeutinnen dazu benutzt, eine selbstdestruktive Abwehr zu unterstützen. Sabine Dost schreibt: In einer solchen Situation kann man „als Therapeutin wohl nur zu spät kommen, die zuvor schon seit einiger Zeit geschaffenen Tatsachen haben einen analytischen Möglichkeitsraum schon vorher gewissermaßen zum Einsturz gebracht“ (S. 275).

Ich möchte dafür plädieren, dass wir unser eigenes Unbehagen ernst nehmen, z. B. wenn unsere Patienten von uns verlangen, sie mit dem selbst gewählten gegengeschlechtlichen Vornamen anzureden, ernst nehmen als Hinweis darauf, dass unbewusste Dynamiken am Werk sind, die zuvor verstanden werden müssen, bevor irreversible Tatsachen geschaffen werden. Verstanden werden sie im analytischen Raum, der sich zwischen Patientin und Analytikerin gerade über dieses Unbehagen öffnen kann.

„Wir waren an eine Welt gewöhnt, in der ein Patient eine Behandlung X erbittet, der Fachmann aber abraten kann, wodurch er eine Triangulierung ins Spiel bringt, die der Patient willkommen heißen oder ablehnen kann“ (Bell, S. 200). Dass diese „Welt“ vergangen ist, führt Bell auf die „immer stärker werdende Durchdringung aller Lebensaspekte durch die Marktform“ zurück (S. 200). „Aus etwas, womit man lebt und im Laufe der Zeit immer wieder ringt, wird eine flüchtige, ähnlich der Ware austauschbare Struktur. Der Warentausch unterstützt aufgrund seiner außergewöhnlichen Schnelligkeit die Illusion einer augenblicklichen Verwandlung. Dieser Wandel drückt sich zunehmend in der Beziehung zwischen Ärzten und Patienten aus, die zu einer perversen Form, einem (als Demokratisierung missverstandenen) Zelebrieren des Kundenstatus degeneriert“ (S. 200). Der Kunde wünscht und der Therapeut liefert, und zwar sofort. Dabei geht der für unsere Patienten und ihre Entwicklung wertvollste Experimentier-, Spiel- und Nachdenkraum verloren, in dem die normalen Turbulenzen und Verwirrungen (im Sinne von Eriksons „normativer Krise“) ihren Platz finden, sich sowohl ausdrücken als auch austoben und modifizieren können, um so allmählich ihre zur jeweils spezifischen Persönlichkeit unserer jugendlichen Patienten passende Gestalt auszuformen und zur Entwicklung einer gesicherten Identität beizutragen.

Bell endet mit der Information, dass „das Karolinska Institut in Schweden… die Vergabe von Pubertätsblockern und Sexualhormonen des anderen Geschlechts an Minderjährige … beendet“ und „die finnischen Behörden neue Richtlinien aufgestellt“ haben, „denen zufolge eine Psychotherapie, und nicht die Verschreibung von Pubertätsblockern und Sexualhormonen des anderen Geschlechts, die primäre Behandlung von Jugendlichen mit Geschlechtsidentitätsstörung darstellen sollen“ (Bell, S. 219). Bleibt zu hoffen, dass politische Entscheidungen auf diesem Gebiet in unserem Land mit ebensolcher Klugheit und Umsicht getroffen werden.


Literatur

  • Bell, D.: Primum non nocere, PSYCHE 77, 2023, S. 193–221
  • Dost, S.: „Ich bin ein Mädchen!“ – Fragen über Fragen. In: Borkenhagen, A. et al., Einblicke in die kinderanalytische Arbeit. Gießen (Psychosozial) 2019, S. 267–276
  • Mathias Hirsch „Der eigene Körper als Objekt“, Psychosozial Verlag Gießen, 2011
  • Christine Horch „James meint es ernst“, in Chrismon. das evangelische Magazin. Dezember 2018
  • Richter, H.-E.: Patient Familie. Reinbek (Rowohlt) 1970
  • Wittenberger, A.: Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Kindern, Stuttgart (Kohlhammer) 2016

Zum Thema weisen wir auch hin auf:

  • Forum der Psychoanalyse. Ausgabe 39, März 2023: Geschlechtsidentität im Umbruch. (Die Redaktion)

Annegret Wittenberger

Psychoanalytikerin für Kinder und Jugendliche (VAKJP), Dozentin und Kontrollanalytikerin am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Kassel (DPG/VAKJP). Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kinder- und Jugendlichenanalyse.

Einige Gedanken zu Geschlechtsdysphorie und Transgender bei Jugendlichen