Unter Mitarbeit von Almut Aeppli, Patricia Kramer, Sabine Kvapil, Dagmar Lampart und Margot Ruprecht.
Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg 2022, 159 S
„Darf’s ein bisschen mehr sein?“
Der Autor dieses Buches, Dr. Klaus Antons, dürfte vielen Leser*innen mit Bezügen zu Gruppendynamik, Gruppenpsychologie, Sozialpsychologie und Supervision mindestens namentlich bekannt sein: Stammt doch aus seiner Feder der über viele Jahrzehnte in immer wieder neuer Auflage erschienene Klassiker „Praxis der Gruppendynamik“ (zuletzt 2019 als 10. vollständig überarbeitete Auflage zusammen mit Heidi Ehrensperger und Rita Milesi). An dieses Buch zu erinnern, ist für die Besprechung des jüngsten Buches von Klaus Antons aus zwei Gründen von Bedeutung:
- Viele Leser*innen schätzen die Anregungen aus diesem Klassiker für die eigene berufliche Praxis. Es gibt somit eine begründete Erwartung auf weitere und neuerliche Impulse im neuen, hier vorgestellten Buch.
- Es gibt im neuen Buch eine große Anzahl methodischer Anregungen für die supervisorische Arbeit mit größeren Gruppen und Teams. Viele dieser vorgestellten Methoden sind im Klassiker ausführlicher dargestellt und mit zusätzlichen theoretischen Überlegungen ergänzt.
Doch nun zum neuen Buch!
In sechs Kapiteln nähert sich Klaus Antons einer Realität, die vielen Supervisor*innen (Coaches können sich hier mitgemeint fühlen, getreu dem DGSv-Bonmot „Mein Coach ist Supervisor“) vertraut sein dürfte, nämlich Auftragsanfragen zu bekommen, die in der Gruppengröße die übliche Größe von 4–8 Personen pro Supervisionsgruppe überschreitet. Unterstützt wird er dabei durch ergänzende Erfahrungen, Fallbeispiele, kleine Vignetten und praxisorientierte Überlegungen von Kolleginnen, die an diesem Buch mitgearbeitet haben.
Die für diese Besprechung gewählte Überschrift „Darf’s ein bisschen mehr sein?“ war ursprünglich mal als ein möglicher Titel für dieses Werk im Rennen (79), er gefällt mir so gut, dass ich ihn hier aufgreifen möchte – denn er transportiert viel mehr als nur einen quantitativen Aspekt, den wir vom Metzger oder Gemüsehändler unseres Vertrauens kennen. Er macht deutlich, dass es zur Beantwortung dieser Frage (ob denn die Supervisionsgruppe auch größer sein darf?) zusätzlicher Hintergrundmodelle, Theoriekonzepte und deren Übertragung auf supervisorische Prozesse bedarf: Dies spiegelt sich in den ersten beiden Buchkapiteln wider, die eine wunderbare Kurzreise durch das durchaus unübersichtliche Gelände der „Psychoanalytischen Großgruppentheorien“ und das nicht minder komplexe Terrain der „Feldtheoretisch-fundierten Großgruppentheorien“ anbietet. Dabei hat man als Leser*in in Klaus Antons einen Reisebegleiter, der es versteht, rote Fäden, Entwicklungslinien, konzeptionelle Weichenstellungen so zu vermitteln, dass man orientiert wird und sich ein Gefühl von „Ah, so ist das!“ einstellt. Das regt dazu an, sich damit mehr auseinandersetzen zu wollen (wann auch immer man das schafft 😊). In den beiden Kapiteln werden bedeutsame Protagonist*innen benannt, Vorzüge und Erkenntnisse erläutert, aber auch kritische Anmerkungen platziert, die wiederum das eigene Weiterdenken anregen. Mir ging es beim Lesen des Häufigeren so, dass ich mich, das Buch in der Hand haltend, mit einem weiten Blick aus meinem Arbeitszimmer über die Telgter Felder wiedergefunden habe und feststellen musste, dass mich Klaus Antons mit seinen Überlegungen auf Gedankenwanderschaft geschickt hatte – das Buch spricht zu einem!
Bis dahin könnte eine ungeduldige Leser*in die Frage stellen, was das Ganze eigentlich mit dem im Buchtitel benannten Thema zu tun habe? Es gibt einen langen Anlauf zum Thema, der auch in Kapitel drei „Zur supervisorischen Arbeit mit großen Gruppen und Teams“ noch einige Klärungsschleifen dreht (Definition von Supervision, (feine) Unterschiede zwischen Gruppe und Team, die Bedeutung von Raum und Zeit). Es könnte sein, dass es Supervisor*innen gibt, die dieses Kapitel überschlagen werden, da damit schon an anderer Stelle eine Auseinandersetzung erfolgt sein mag. Allerdings gibt es für diejenigen, die Schaubilder und Übersichtstabellen (62 ff) hilfreich finden, in diesem Kapitel Einiges an Futter. So findet sich unter dem Label „Eine supervisorische Vorgehensweise“ eine beispielhafte Beschreibung, wie die supervisorische Arbeit mit einer größeren Gruppe in der Struktur an (kollegiale) Fallarbeit angelehnt, aussehen könnte (67ff). Außerdem wird in diesem Kapitel der Begriff der „Großen Kleingruppe“, der auf eine Anregung von Patricia Kramer zurückgeht, eingeführt. Dieser wird im Weiteren für die beschriebenen Supervisionssettings in der Größenordnung 10–20 Personen verwendet.
Kapitel vier beschreibt die potenziellen Arbeitsfelder, in denen der Bedarf an supervisorischer Arbeit im Setting „Große Kleingruppe“ vorzufinden ist und auch angefragt wird. In diesem Abschnitt finden sich eine Reihe von illustrierenden, ergänzenden Beschreibungen von Praxissituationen, die von den mitarbeitenden Personen dieses Buches eingebracht werden. Ein ausführliches Fallbeispiel mit Ausgangslage, Arbeitsauftrag und der Beschreibung des Vorgehens in vier Supervisionstreffen wird an dieser Stelle von der Kollegin Almut Aeppli vorgestellt, das viele Überlegungen und methodische Umsetzungen der Supervisorin transparent macht. Jeweils am Ende der Kapitel 1–4 findet sich auf knappem Raum ein Fazit, das die wesentlichen Punkte des Kapitels benennt und hilfreich zusammenfasst.
Von einigen Leser*innen mag das Kapitel fünf mit besonderer Freude wahrgenommen werden. Hier gibt es eine ganze Reihe von methodischen Anregungen für unterschiedliche Situationen im Supervisionsprozess (Anfangssituationen, soziometrische Erhellungen, Beobachtungsaufgaben und zugehörige Fragestellungen, Abschieds- und Auswertungsinstrumente …). Aber wie immer bei den methodischen Anregungen: Es bedarf einer guten Diagnose und Indikation, es muss zum Prozess der Gruppe passen, es sollte zur supervidierenden Person stimmig sein und das Timing sollte gut überlegt sein. Gelingt es, die Anregungen dieses Kapitels mit den vorlaufenden Beiträgen aus den Kapiteln 1–3 in Verbindung zu bringen, dann stehen die Chancen gut, interessante, erkenntnisreiche und auch lustvolle Lernprozesse anzustoßen.
Ein sechstes und letztes Kapitel „Nach der Pandemie ist vor der Pandemie“ fällt für mich ein wenig aus dem Rahmen. Okay, alle in Supervision und Coaching tätigen Personen mussten sich in den letzten Jahren mit den der Pandemie geschuldeten Einschränkungen herumschlagen, konnten aber auch (manchmal unerwartet gut funktionierende) Innovationen entdecken und ins Handlungsinstrumentarium einfügen. Trotzdem wirkt das Kapitel angehängt. Wäre es nicht verfasst worden, hätte ich nichts vermisst. Aus meiner Sicht bringt es über das hinaus, was vorher zur „Großen Kleingruppe“ gesagt wurde, nichts Neues. Eher beschreibt es Erfahrungen über Online-Formate (mit positiven und negativen Auswirkungen), die aber an anderer Stelle schon differenzierter und auch als singuläres Thema ausführlicher behandelt wurden (vgl. z. B. FiS-Newsletter 19 vom Dezember 2021). Ich verstehe das Kapitel als eine Reaktion auf Arbeitsbedingungen, die uns alle als Supervisor*innen in den letzten Jahren viel Kraft, Energie und manchmal Nerven gekostet haben. Für mich macht das Kapitel daher eher unter einem emotionalen Aspekt Sinn, in der Botschaft: „Wir lassen uns nicht unterkriegen!“
Wie in allen Büchern von Klaus Antons, gibt es für die Leser*innen zusätzlich zum Fließtext eine Fülle von Anregungen über die genauen Quellenbelege und die dazugehörigen Literaturverweise, dabei auch viele Verweise auf Fundstellen im Netz. Das ist besonders für die beiden Konzeptkapitel ein wahrer Fundus und erspart einem viel mühsames Suchen, wenn man sich in diese Themen vertiefend einarbeiten möchte. Ein Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Übungen ermöglichen zusätzlich schnelles Auffinden gesuchter Stellen.
Für mich gehört das Buch sowohl in die Ausbildungsformate von Supervisor*innen und Coaches wie aber auch in die Ausbildung von Gruppendynamiker*innen. Es regt an, informiert, gibt hilfreiche Hinweise und lässt Freiräume, all das Gelesene mit den Möglichkeiten der eigenen Person zu verbinden und das eigene professionelle Handeln damit weiterzuentwickeln.
Michael Faßnacht