Vorbemerkungen
Supervision – als berufsrollenbezogene Beratung – steht aufgrund ihrer Aufgabe, die Anliegen von Einzelnen, Gruppen und Teams zu bearbeiten, immer vor unerwarteten und anspruchsvollen Herausforderungen. Nicht immer gelingt es, das Anliegen richtig zu verstehen, nicht immer gelingt es, die Beziehung zur Zielgruppe angemessen zu gestalten, trotz aller Erfahrung, trotz aller achtsamen Aufmerksamkeit auf die Prozesse, die sich im Beziehungsraum der Supervision und in den Teams oder Organisationen abspielen.
Kontrollsupervision, Intervision und Balintgruppenarbeit haben sich seit langen Jahren daher als entsprechende Reflexionsformate bewährt. Man kann sich nun fragen: welchen Gewinn hat man von Balintgruppenarbeit? Was unterscheidet sie eigentlich von Supervision? Auch in einer Gruppensupervision werden z. B. Fallsituationen vorgetragen, die nicht selten mit der Methode der Balintgruppenarbeit bearbeitet werden.
Der hier vorliegende Beitrag stellt sich – mithilfe eines Fallbeispiels – der Frage, was der Gewinn von Balintgruppenarbeit ist. Er versucht auch die Frage zu beantworten, wie sich Balintgruppenarbeit von Supervision unterscheidet und was ihnen – professionstheoretisch gesehen – gemeinsam ist.
1 Ein Fallbeispiel
Der folgende Vorgang liegt schon über 20 Jahre zurück (vgl. Grawe 2001). Es handelt sich um den Fallbericht eines Supervisors in einer Balintgruppe für Supervisoren und Supervisorinnen, an der ich teilgenommen habe. Die Gruppe traf sich damals schon über lange Jahre jeweils etwa 10× im Jahr zu 3×90 Min. Sitzungen an einem Samstag in der Praxis des Balintgruppenleiters. Dieser war Psychoanalytiker am Mitscherlich Institut Kassel (DPV), gleichzeitig Gruppendynamiker (DAGG) und Supervisor (DGSv). Die Teilnehmenden wechselten gelegentlich, die Gruppe bestand aus etwa 8 Personen.
Der Kollege M. berichtet in einer Balintgruppensitzung von einer Leitungssupervision folgenden Fall: Zwei Männer leiten einen Handwerksbetrieb und haben in dieser Leitungsrolle mit heftigen Konflikten untereinander zu tun. Sie haben mit dem Falleinbringer einen Supervisionskontrakt geschlossen, um ihre Konflikte besprechen und bearbeiten zu können.
Der Kollege berichtet von seinen Sitzungen, von den gegenseitigen Vorwürfen der beiden. Jeder von beiden hat einen anderen Arbeitsstil und setzt in der Leitung der Firma eigene Akzente. Sein Fallbericht wird schneller, er erzählt mehr und mehr Material und wird zunehmend hektischer und fast atemlos dabei, bis der Balintgruppenleiter ihn schließlich freundlich stoppt und nach kurzen Rückfragen um unsere Einfälle bittet.
Eine starke Konkurrenzsituation, eine hysterisch aufgeladene Szene wird von uns – bei der Identifikation mit unterschiedlichen Beteiligten – assoziiert. „Zwischen die Fronten geraten“, in der Konkurrenz „vernichtet“ werden … Einem Kollegen fällt ein: es ist die Szene vom Hasen und Igel. „Die beiden jagen Dich durch die Furchen und während es ja so aussieht, als seien sie auch ständig in Bewegung, erkennt man aber keinerlei Schweißperlen. Sie müssen sich selbst gar nicht verändern, wenn Du Dich so unter Druck setzt und hetzt …“
Als der Falleinbringer nach der Phase des Zuhörens seine Resonanz einbringt, sagt er, die Einfälle hätten ihn sehr entlastet, er habe sich plötzlich auch wieder an die erste Supervisionssitzung erinnert, als er gezögert hatte und unsicher war, wem er wohl zuerst den bereitgestellten Tee eingießen sollte.
Die hohe Konkurrenz zwischen beiden wird offenbar schon frühzeitig von ihm gespürt.
Die verschiedenen Einfälle machen deutlich: der Supervisor lässt sich durch die „Furchen“ treiben, er hat die Delegation des Hasen angenommen. Solange er dieses Spiel mitspielt, bleibt der Konflikt zwischen den beiden bestehen und wird nicht wirklich aufgeklärt. „Ich soll wieder entscheiden, wer von Ihnen beiden hier siegt“: Nach und nach wird dem Supervisor durch die Einfälle klar, dass er damit einen unbewussten Auftrag übernommen hat und dass die beiden Kontrahenten gar nicht an sich arbeiten wollen, sondern fast wie bei einer Transplantation ihm die Last des Konfliktes und seiner Lösung aufbürden. Der Supervisor ist hier einer projektiven Identifikation erlegen. Als ihm das bewusst wird, fühlt er sich freier für neue Interventionen und kann systematischer darauf achten, dass eine weitergehende Reflexion entsteht.
2 Welche Beratungsformate werden hier sichtbar?
Der Fall, den ich hier etwas gekürzt vortrage, bietet eine ganze Reihe von interessanten Aspekten, die aber nicht alle thematisiert werden sollen. Ich beschränke mich auf eine Erläuterung zum Unterschied zwischen den beiden Beratungsformaten Supervision und Balintgruppenarbeit.
2.1 Das Format Balintgruppenarbeit in diesem Fall
Der konzeptionelle Ansatz und die Fallarbeit einer Balintgruppe richten sich auf die professionelle Beziehung zwischen dem Falleinbringer und seinen Klienten, den Handwerkern. Der strukturelle Rahmen der psychoanalytischen Grundregel: „Festes Setting und freie Assoziation“ (Wittenberger 2017, S. 2) bringt bei den Supervisoren und Supervisorinnen in dieser Balintgruppe eine Art multi-perspektivisches Fallverstehen hervor, dem sich der erstmal nur zuhörende Falleinbringer gedanklich, einfühlend, selbstreflexiv nähern kann. Dieser sein innerer und äußerer Abstand durch die Phase der Nichtbeteiligung führt dazu, dass er etwas, in das er verstrickt ist und was er bisher nur innerlich erlebt hat, in dieser Resonanz aus der Gruppe viel deutlicher erkennen kann.
Man könnte vielleicht sagen: seine „Innen-Außen-Schranke“ wird überbrückt. Das Setting ermöglicht ihm, sich „von außen zu sehen“. Er wird bei den Einfällen der Kollegen und Kolleginnen vermutlich gut überprüfen, was auf ihn und seine Erfahrung der erlebten Supervision passt und was nicht.
Darüber werden ihm vorbewusste Vorgänge vor Augen geführt und er kann sich ihnen handlungs- und reaktionsentlastet zuwenden. Das verringert auch den Widerstand, etwas Unangenehmes oder etwas, was in seinem blinden Fleck liegt, aufzunehmen. Indem er in der Gruppe eine Unsicherheit, eine Verstrickung präsentiert, hat er ja schon den wichtigsten Schritt getan. Wenn er jetzt durch die Versprachlichung seiner Emotionen, durch einen Blick sozusagen „von außen“ Abstand gewinnt, gewinnt er gleichzeitig Handlungsfreiheit zurück. Durch die Reflexion und das Verstehen seines Mitagierens der Problematik seiner Klienten, kann er ein vertieftes Verstehen für den Druck, dem sich seine Klienten ausgesetzt fühlen, entwickeln und überlegen, wie er seine neu erworbene Erkenntnis in den kommenden Sitzungen in adäquates, von vertiefter Empathie und zugleich mehr Distanz geprägtes Interventionshandeln übersetzen kann.
Das Ziel von Balintgruppen besteht genau darin: aus einer Unklarheit herauskommen, die eigenen Verstrickungen (wie hier die projektive Identifikation) in der professionellen Beziehung zu verstehen und wieder handlungsfähig zu werden. Wenn er diese Verstrickung in der Balintgruppe in sich durch Verstehen aufgelöst hat, kann der Supervisor auch seine anderen professionellen Kompetenzen und seine Expertise – nämlich Hilfsdienste leisten zu einer weitergehenden Aufklärung der entstandenen Konflikte – wieder aufnehmen.
2.2 Das Format Supervision und der Fall
Bei der Supervision des Fallvortragenden handelt es sich nicht um eine einmalige reflexive Kontrolle, sie begleitet vielmehr über längere Zeit einen Entwicklungs-, Reflexions-, und Verstehensprozess. Der Kollege wird sich in seiner Supervision angesichts der hier beschriebenen Konfliktlage auch einer systematischen Exploration der Situation zuwenden können. Er wird fragen, wie es zu ihrer Kooperation und wie sie an den Betrieb gekommen sind, welche Aufträge hier abgearbeitet werden, wie sie ihre Arbeitsteilung vereinbart haben, worin der Arbeitsstil des einen und der des anderen besteht. Er wird sich damit beschäftigen, herauszufinden, welche Rolle die anderen Angestellten in dem Konflikt spielen, wie sie ihn vielleicht befördern oder einen Gewinn daraus ziehen.
Ein persönlicher Konflikt zwischen zwei Leitungskräften einer Organisation kann eine Vielzahl von Ursachen haben, zu denen man Hypothesen entwickeln und die man supervisorisch aufhellen kann. Normalerweise balancieren Organisationsmitglieder im Alltag ihre Differenzen ganz geschickt und kompetent, manchmal entstehen aber durch die kleinen jahrelangen Verdrängungen, durch das Ausweichen und Balancieren von widersprüchlichen Arbeitsorganisationen und unklaren Rollenbeschreibungen Emotionen, die zur Wahrnehmung drängen und einen Kanal suchen.
Nun neigen Menschen – nicht nur in Organisationen, aber um die geht es hier – bei Konflikten gerne zu Personalisierungen (Grawe und Plenter 2006). Damit werden aber die anderen, nicht in der Person liegenden Ursachen nicht aufgeklärt oder bearbeitet. Denn unklare Arbeitsorganisation, Rollenunklarheiten, Verhaltensprobleme oder verschiedene Wertvorstellungen über die Handhabung von unklaren Prozessen können ganz unabhängig von Beziehungsproblemen auch andere Ursachen haben, sie müssen sich nicht unbedingt auf die Beziehung auswirken oder Konflikte verursachen, können es aber.
Man kann erwarten, dass diese Fragen Gegenstand der Supervision des falleinbringenden Kollegen sind – und er wird mit den Leitern nach und nach die persönliche und organisatorische Geschichte ihres Konfliktes zu verstehen versuchen, wenn er langsam zu den Missverständnissen, unterschiedlichen sachlichen Auffassungen und Rollenverständnissen zurückgeht, die im Alltag einfach balanciert oder verdrängt, aber nicht bewusst ausgetragen wurden. Er kann die Vorgänge szenisch verstehen und damit die unterschiedlichen „Konfliktverursacher“ aufklären helfen, er kann den persönlichen Konflikt auf seine organisatorische „Bühne“ stellen und einordnen. Er hat dazu in der Regel nicht nur eine Sitzung, sondern eine Reihe von Sitzungen Zeit und kann auch die Reflexion von Veränderungen begleiten.
3 Begriffliche Aspekte
Was aber unterscheidet Balintgruppenarbeit von Supervision und was haben sie gemeinsam? Dazu müssen die Begriffe vielleicht nochmal genauer geklärt werden. Im Folgenden geht die Autorin davon aus, dass beide Formate als „professionelle Beratung“ definiert werden können, dass sie sich aber auch grundlegend unterscheiden.
3.1 Professionalität
Professionalität wird hier nun nicht in einem umgangssprachlichen Sinne (Profi sein), sondern sozialwissenschaftlich begründet (Oevermann (2002)) als ein Merkmal von Berufsgruppen verstanden, deren Absicht und Ziel es ist, unter Anwendung von Expertise die Autonomie der Lebenspraxis anderer Menschen herzustellen, wieder herzustellen oder auch einfach zu erhalten. Damit sind hier in einem weiten Sinn sowohl Ärzte und Ärztinnen, wie auch Sozialarbeiter*innen, sowohl Juristen und Juristinnen wie Pflegekräfte oder Lehrkräfte gemeint, wenn sie sich auch sonst im Blick auf ihre jeweilige Expertise in vielerlei Hinsicht unterscheiden mögen. Mit dieser Aufgabe übernehmen Professionen im Kontext anderer Berufe auch eine gewisse Sonderstellung, die durch die Gesellschaft geschützt wird.
Oevermann geht davon aus, dass Professionelle dann Hilfe in einer Supervision oder einer anderen ihren beruflichen Alltag betreffende Beratung aufsuchen, wenn ihre Routinen nicht mehr ausreichend greifen, wenn also ihre professionelle Praxis in eine „Krise“ geraten ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dieser Krisenbegriff fundamentaler ansetzt und sich deutlich von einem z. B. psychologischen Krisenbegriff unterscheidet. Grundsätzlich alle Handlungsanforderungen, die von einem Menschen nicht durch Routinen beantwortet werden, können zu der hier gemeinten Krise führen. Solche Krisen kommen im Alltagsleben ständig vor, werden aber durch Routinen abgefangen. Bei menschlichen Beziehungen, um die es im professionellen Zusammenhang geht, handelt es sich zudem um etwas, was nicht „standardisierbar ist“. Daher ist hier bei der Beziehungsgestaltung zwischen Menschen der Krisenmodus nochmal stärker vorhanden.
Ihre Professionalität bringt es nun mit sich, dass diese Berufsgruppen bei ihrer Unterstützungsarbeit für andere Menschen mit typischen Herausforderungen zu tun haben, die als Paradoxien beschreibbar sind und als solche auch beschrieben wurden, wie z. B. nachzulesen bei Schütze 2000 oder Oevermann 2003.
Was bedeutet das? Vor dem Hintergrund einer bestimmten professionellen Wissensbasis und Expertise sollten sie immer einen vorliegenden Fall in seiner ganz spezifischen Situation einordnen und interaktiv regeln können. Schon Erving Goffman hat 1973 die fundamentalen Widersprüche beschrieben, vor denen Ärzte und Ärztinnen z. B. stehen, wollen sie im Blick auf die Arzt-Patienten-Beziehung etwa mit einem Dienstleistungs- oder Reparaturmodell arbeiten (Goffman 1993, 310 ff). Das bedeutet: Ärzte oder Ärztinnen schauen in der Regel genau hin, wen sie da vor sich haben, wem sie eine Diagnose wie übermitteln können. Sie können ja nicht nur einfach eine Krankheit „reparieren“, sie brauchen dabei die Mitwirkung ihres Patienten, ihrer Patientin.
Wenn es tatsächlich um diese Mitwirkung von Patienten geht, wenn sie wieder gesund werden sollen, d. h. hier in einer sozialwissenschaftlichen Sprache: wenn die grundlegende Autonomie ihrer körperlichen Lebenspraxis angezielt wird, sind in der professionellen Beziehung widersprüchliche Situationen zu balancieren.
Wie entstehen sie? Eine Supervisandin kommt zu einer Supervisorin und hat einen Konflikt mit ihrer Chefin. Die Supervisorin hat umfangreiches institutionelles Wissen und sie kennt Konfliktdynamiken sehr genau.
Wie gelingt es der Supervisorin dann, Vertrauen zu ihrer Supervisandin herzustellen, obgleich sie möglicherweise das geschilderte Konfliktverhalten der Supervisandin als sachlich unangemessen bewertet? Wie kommt jemand, der eine Expertin aufsucht, die ihm sagen soll, wie sie es anders machen sollte, in eine Selbsttätigkeit hinein?
Bei allen Professionellen – versteht man sie im oben beschriebenen Sinne – sind typische Paradoxien erkennbar. Denn Professionen sollten ihr Expertenwissen so anwenden, dass sie die Selbsthilfepotenziale ihrer jeweiligen Klienten und Klientinnen stützen und nicht zerstören (Müller 1993, 99 ff). Das bedeutet: das Spiel von Nähe und Distanz, Autonomie und Abhängigkeit, Übertragungen und Gegenübertragungen in ihren professionellen Beziehungen zu reflektieren und im Handeln zu balancieren. Erkenntnisse zu diesen Paradoxien führen seither zu der zunehmenden sozialwissen-schaftlichen Aufmerksamkeit auf professionelle Beziehungen.
Für die Soziale Arbeit hat Schütze z. B. das pädagogische Grunddilemma beschrieben als „exemplarisches Vormachen und die Gefahr, den Klienten unselbständig zu machen“ (Schütze 1992, 160f). Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, Pädagogen und Pädagoginnen sind sich dieser Grundspannung immer bewusst. Wenn sie ein bestimmtes Verhalten immer wieder vormachen oder immer nur Rezepte geben, wie man es machen sollte, werden eine Klientin oder ein Schüler nie selbstständig. Andererseits bedarf es der Beispiele und des Modells, um etwas neu zu lernen. Professionalität bedeutet hier, die Spannung aushalten zu können und eigene Lösungen von den Klienten und Klientinnen oder Schülern und Schülerinnen erwarten zu müssen.
Soweit der Begriff Professionalität. Vielleicht ist am Ende noch interessant darauf hinzuweisen: in unserer umgangssprachlichen Verwendung des Begriffs fehlt das zweite Merkmal. Wenn wir sagen: das ist ein Profi, dann meinen wir meistens seine Expertise oder seine handwerkliche Fertigkeit, aber hier ist das Ziel, die biopsychosoziale Autonomie anderer Menschen sicherzustellen und dabei eine entsprechende Arbeitsbeziehung einzugehen, nicht im Blick.
3.2 Balintarbeit – ihr Gegenstand ist die professionelle Beziehung
„In einer Balintgruppe sitzen acht bis zwölf ärztliche Teilnehmer unter der Moderation eines ausgebildeten Balintgruppenleiters zusammen, in der durch ein Gruppenmitglied in einer meist 90 Minuten dauernden Sitzung ein „Fall“ vorgestellt wird. Die Gruppenarbeit fokussiert auf die Arzt-Patient-Beziehung und deren Beeinflussung durch Dynamiken von Seite des Patienten und des Arztes.“ (Flatten et al. 2018, 2). Bei diesem Verständnis, das wir aus der Geschichte der Balintgruppenarbeit im ärztlichen Kontext kennen, ist Balintgruppenarbeit leicht als im beschriebenen Sinne „professionell“ einzuordnen. Ob wir es nun mit dem Alltag von Ärzten und Ärztinnen, Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, Lehrenden oder mit Supervisoren und Supervisorinnen zu tun haben: trotz unterschiedlicher Kontexte, die sich sicher auch unterschiedlich anfühlen: immer reflektiert eine Balintgruppe die professionelle Beziehung zwischen den jeweiligen Falleinbringenden und ihren Zielgruppen. Das bedeutet, die Beziehung als der primäre Gegenstand, um den es in der Balintgruppe geht, ist von ihrer inneren Dynamik bei den verschiedenen Berufsgruppen von Professionellen durchaus vergleichbar.
3.3 Supervision – ihr Gegenstand ist mehrdimensional
Mit Supervision haben wir es demgegenüber nicht so leicht, denn eine so eindeutige Definition von Supervision liegt nicht vor und der Gegenstand ist – anders als in der Balintgruppe – mindestens kontrovers. Man kann hier landläufig zwei Richtungen erkennen: die eine Richtung vertritt Supervision als „Routinekontrolle professionalisierter Praxis“ (Oevermann 2003, S. 63) und geht davon aus, dass eben wegen der immer wieder entstehenden Paradoxien in professionellen Beziehungen diese der Gefahr von Verwicklungen ausgesetzt sind und einen entsprechenden, regelmäßigen und auch dauerhaften Reflexionsort benötigen. Diese Auffassung vertritt auch Rappe-Giesecke noch 2009, wenn sie Supervision definiert als eine „personenbezogene berufliche Beratung für Professionals. Ihre Aufgabe ist es, Einzelne, Gruppen und Teams von Professionals zu individueller und sozialer Selbstreflexion zu befähigen.“ (Rappe-Giesecke 2009, 4. Aufl.)
In der DGSv hat sich nun seit ihrer Gründung und weniger aus wissenschaftlichen als vielleicht mehr aus professionshistorischen Erwägungen, neben diesem Verständnis von Supervision für Professionals ein eher mehrdimensionales Verständnis prominent durchgesetzt: „Supervision ist ein wissenschaftlich fundiertes, praxisorientiertes und ethisch gebundenes Konzept für personen- und organisationsbezogene Beratung in der Arbeitswelt“ (DGSv 2013, S. 1). Supervision nimmt in diesem Verständnis als ihren Gegenstand die Spannungsfelder von Person – Rolle – Organisation – Klientensystem insgesamt in den Blick und ist auf Beziehungen in der Arbeitswelt ganz allgemein und nicht nur auf diejenigen von Professionals fokussiert.
Wie kommt nun die Institution in den Blick? Das geschieht schon über den Dreieckskontrakt, der in der Regel die vertragliche Grundlage einer Supervision darstellt. Ein Team oder ein Einzelner kann Kontakt mit einem Supervisor aufnehmen oder aber auch die Institution sucht jemanden für ein Team oder einen Einzelnen oder eine Gruppe. So entsteht ein Dreieckskontrakt zwischen den jeweiligen Zielgruppen („was wollen wir mit der Supervision erreichen?“) einer Institution („wir haben Bedarf und wollen dies oder das mit der Supervision erreichen“) und der Supervisorin („ich habe ein konzeptionelles Selbstverständnis und kann dies oder das anbieten“). Der Vorgang der Entstehung dieses Kontraktes ist bereits voraussetzungsvoll, denn das professionelle Selbstverständnis und der Ethos der Supervisorin werden hier die verschiedenen Interessen und Verschwiegenheitsobliegenheiten besprechen und vereinbaren.
Bei diesem Verständnis erfordert Supervision verständlicherweise nicht nur eine psychodynamische oder beziehungsdynamische Expertise, sondern auch sozialwissenschaftliche Kenntnisse z. B. über Konflikte in der Arbeitswelt, über die Herausforderungen für Rollenbeziehungen dort und in anderen vergesellschafteten Kontexten. Supervisoren und Supervisorinnen brauchen Kenntnisse über Kooperation, Team- und Gruppendynamik sowie über organisatorische Prozesse und Strukturen. „Dieses wissenschaftlich verankerte Wissen wendet die Supervisorin fallspezifisch an und nutzt die angeeigneten Kompetenzen und habituellen Dispositionen für die professionelle Interventionspraxis“ (Grawe und Aguado 2021, S. 18) und für den Dreieckskontrakt.
Wir können hier also festhalten: Während sich das Verständnis von Supervision in der Tradition von Ulrich Oevermann und Rappe-Giesecke eher mit der speziellen Arbeitsbeziehung und dem Arbeitsbündnis zwischen Supervisanden und Supervisandinnen und ihrem Klientel befasst – und damit einen ähnlichen Gegenstand wie Balintarbeit hat – erweitert sich das Verständnis, wie es in der DGSv und damit auch in den Weiterbildungsinstituten vorherrscht um den ganz allgemeinen Blick auf Organisation, Institution und Arbeitswelt.
Diese supervisorische Explorations- und Analysearbeit bedarf aber eines offenen Reflexionsraums, einer guten professionellen Beziehung zwischen dem Supervisor und seinen beiden Supervisanden. Ist diese wie hier durch eine projektive Identifikation verstellt, ist der Supervisor blockiert und hat sein eigenes „Organon“, seine Introspektion, nicht mehr zur Verfügung. Bei deren Wiederherstellung kann ihm die Balintgruppenarbeit in ihrer Konzentration auf die professionelle Beziehungsdynamik helfen.
Stellt nun ein Supervisor oder eine Supervisorin einen Fall, eine Unsicherheit oder eine Verstrickung in einer Balintgruppe vor, so kommen selbstverständlich im Verlauf einer Balintgruppe auch Assoziationen zu diesen möglichen anderen Konfliktverursachern zustande, da Kollegen und Kolleginnen die Komplexität einer supervisorischen Arbeit kennen und sich einfühlen und verstehen wollen.
Gerhard Wittenberger weist in der Zeitschrift „Balintjournal“ darauf hin, dass diese hier beschriebene Komplexität einer Supervision in einer Balintgruppe wohl wahrgenommen und verstanden, aber in der Bearbeitung soweit reduziert werde, „… bis die spezifische Beziehungsdynamik des Fallvortrags deutlich wird.“ (Wittenberger 2019, S. 39)
Das bedeutet: die Balintgruppenleitung, die eine Gruppe begleitet, wird diese organisatorischen und vielleicht aus Teamdynamik herrührenden Aspekte in den Assoziationen zu einem Fall zulassen und würdigen, aber nicht weiter aufhellen, sondern die Arbeit auf die Beziehungsdynamik hin fokussieren.
Vor drei Jahren ist Rainald Neumeier bei den Mainzer Werkstatttagen in einem Vortrag auf einen Fall und seine institutionellen Ebenen eingegangen. Ohne diesen Fall hier weiter zu erläutern: mir wurde in seiner Darstellung sehr plausibel, dass er diese Ebenen in der Bearbeitung mit aufhellte. Er stellte fest, „dass das Problem hier zunächst an der Institution erlebt (wurde …); dass aber eine weitere Schicht analysiert werden konnte, nachdem dieser Aspekt genug Beachtung gefunden hatte.“ (Neumeier 2020, S. 10). Es sei wichtig, „dass sowohl die Psychodynamik der Zweierbeziehung als auch der Einfluss der institutionellen Faktoren auf die Ausübung und das Erleben der Arztrolle bearbeitet werden.“ (Neumeier 2020, S. 10) Mir scheint nun, dass Neumeier damit den Hinweis von Wittenberger nicht außer Kraft setzt: die Balintarbeit fokussiert primär die Beziehung – wenn es Widerstände oder Störfaktoren aus den anderen Kontexten gibt, ist es sinnvoll, sie zu benennen, auch wenn man wieder zum Beziehungsthema zurückkommt.
Ein anderer Aspekt sollte hier noch aufgegriffen werden. Balintarbeit und Supervision nutzen sehr erfolgreich die Resonanzfähigkeit von Gruppen für ihre Ziele. Diese „Schwingungsfähigkeit“ von Gruppen und Einzelnen führt aber auch zu konflikthaften Vorgängen in Balintgruppen, die den Beratungsprozess durchaus zu stören in der Lage sind, denn: Wo Menschen sind, entwickeln sich reale Konflikte, Konkurrenzen usw.
Während wir in Team- und Gruppensupervisionen nun die etwa sichtbar werdenden Beziehungs-Konflikte im Hier und Jetzt thematisieren und damit wichtige für den jeweiligen Arbeitsprozess bedeutsame Klärungen der Gruppendynamik herbeiführen, werden diese Vorgänge in einer Balintgruppe keinesfalls als „Störungen“ betrachtet, die man bearbeitet. Sondern als „Parallelprozess“ oder „Reinszenierung“ verstanden.
In einer Balintgruppe wird also die entstehende Gruppendynamik für ein Verstehen von möglichen „Reinszenierungen“ des Falls in der Szene des „Hier und Jetzt“ genutzt. Gerhard Wittenberger fand dafür eine prägnante Metapher: „Die Gruppendynamik ist durch das ‚Nadelöhr‘ des Falls zu ziehen“ (Wittenberger 2017, S. 6). Das bedeutet: vor dem Hintergrund des Falls gedeutet und verstanden.
Eine Art Fazit: der Gewinn von Balintgruppenarbeit für Supervision
Die Balintgruppenarbeit wie auch die Supervision, so kann man festhalten, sind konzeptionell unterschiedliche Beratungsformen, mit denen Professionelle ihre Alltagsarbeit mit ihren Zielgruppen reflektieren können. Mit dem Blick auf die in diesen Formen mögliche Reflexion und Selbstreflexion von Professionellen muss man – bei aller Unterscheidung – von einer fundamentalen Gemeinsamkeit beider Beratungsformen ausgehen. Diese besteht in ihrer beider Professionalität.
Tatsächlich sollte man, wenn man Balintgruppenarbeit und Supervision auch phänomenologisch weitergehend vergleichen will, nicht übersehen, dass jeweils ganz unterschiedliche Settings eine Rolle spielen. Balintarbeit ist Gruppenarbeit und Supervision findet nicht nur in Gruppen, sondern auch in Teams und mit Einzelnen statt.
Während die primäre Referenztheorie der Balintarbeit bisher aus der Psychoanalyse stammt, ist Supervision in der DGSv theoretisch vielfältig verankert. Für Supervision braucht man – unabhängig vom Setting – neben der Kenntnis über professionelle Beziehungen und ihre psychodynamischen Herausforderungen eine fundierte Organisations- und Institutionskompetenz. Die Abläufe der Arbeitswelt und ihre eskalationsfördernden Dynamiken und Potenziale müssen in das Aufklärungsgeschehen einbezogen werden.
Der Gewinn von Balintgruppen liegt – wie der beschriebene Fall zeigt – ganz eindeutig in der Reflexion von professionellen Beziehungen. Dieser Fokus bietet supervisorischen Prozessen und ihren alltäglichen Verwicklungen im Arbeitsbündnis eine unverzichtbare Hilfe kollegialer Unterstützung an und kann die unbeachteten, unbewussten Ebenen dieser Beziehung erkennbar und damit besser handhabbar machen. Solche Verwicklungen sind normal, sie sind sogar oftmals notwendig, um genauer zu verstehen, warum die Bearbeitung von Anliegen gelegentlich so schwerfällig daherkommt.
Supervision kann aber selbst – anders als Balintgruppenarbeit – in ihrer Mehrdimensionalität nicht ohne die weitergehende Betrachtung und Aufklärung des institutionellen und organisatorischen Kontextes gedacht werden, zum einen, weil sie nicht nur eine Beziehung, sondern im Schwerpunkt eine Rolle (samt ihren institutionellen Abhängigkeiten) reflektieren will, aber vielleicht auch, weil sie meistens einen längeren Prozess in einem organisatorischen Kontext begleitet.
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Dr. Bernadette Grawe
Bernadette Grawe, (*1951) aufgewachsen in Gütersloh, lebt in Warburg. Berufliche Stationen: nach einem Ausflug in die Pharmazie, Studium der Katholischen Theologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften, langjährige Tätigkeiten in verschiedenen Feldern der Jugendverbandsarbeit, freiberufliche Praxis als Supervisorin DGSV (seit 1992), Trainerin für Gruppendynamik (seit 2001), Promotion zum Dr. phil. (2002), Professorin für das Lehrgebiet „Sozialmanagement“ an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn (2005–2017), seither Praxis für Supervision und Beratung. www.grawe-netz.de Bernadette.grawe@t-online.de