Lea Ypi, Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte, 2022 Übersetzung Eva Bonné

Im September 2024 haben wir, eine Gruppe von 3 Frauen und 2 Männern, eine lange vorbereitete Wanderreise in Albanien gemacht. Im Reisegepäck mit dabei hatten wir Lea Ypis autobiographischen Roman über ihre Kindheit und Jugend unter Enver Hoxha und nach der Wende. Wir hätten den Roman aber auch am Flughafen Tirana oder jeder albanischen Buchhandlung kaufen können. Er war überall prominent aufgestapelt, oft in mehreren der fünfundzwanzig Sprachen, in die er übersetzt worden ist.

Wir hatten Albanien schon oft bereist, gemeinsam zum ersten Mal 2007. Damals besuchten noch nicht viele westliche Touristen das Land. In einem idyllischen Dorf am Ohridsee, mit heute über einem Dutzend Touristenunterkünften, waren wir die einzigen Gäste im einzigen Restaurant. Der Aufbruch war zwar in den größeren Städten, insbesondere in Tirana, sichtbar, aber auf dem Land schien die Zeit vielerorts stehengeblieben.

2013 wurde die Autobahn von Pristina nach Tirana fertiggestellt, was die Reisezeit mehr als halbierte. Zahlreiche Kosovaren verbrachten nun ihre Wochenenden und Ferien am Meer, und auch die kosovarische Diaspora begann, Familienbesuche mit Strandferien zu kombinieren. So bot sich uns 2017 schon ein ganz anderes Bild. Das einst verschlafene Küstendörfchen Dhërmi hatte sich in eine Art Saint Tropez verwandelt, und auch in den anderen Küstenorten gab es kaum einen unverbauten Strand mehr. Im Süden in Saranda legten Kreuzfahrtschiffe an, und die Passagiere fluteten die antike Ausgrabungsstätte Butrint, wo man früher alleine unterwegs war.

Mit der Zeit entwickelte sich auch das Landesinnere. In Kukes, wo man als Fremde früher von Kindern mit Steinen beworfen wurde und das einzige moderne Café offenbar mit Geld aus dem Drogenhandel finanziert war (der Besitzer gab an, sein Geld in der Schweiz verdient zu haben, war aber unter seinem Namen dort nicht registriert), gibt es nun einen internationalen Flughafen. Das ehemals vom Aussterben bedrohte Bergdörfchen Theth ist heute eine gut erschlossene Tourismusdestination, und das beliebteste Teilstück des Fernwanderwegs „Peaks of the Balkans“ von Theth nach Valbona ist überlaufen.

Wir wollten 2024 den Vjosa Nationalpark erkunden. Er schützt den letzten großen Wildfluss Europas, der durch Staudammprojekte gefährdet war, und war im Jahr zuvor nach langjährigem öffentlichem Druck gegründet worden. Wir hatten gehofft, entlang des mäandrierenden Flusses wandern zu können, doch dies war mangels geeigneter Wanderrouten nicht möglich, so dass wir uns für eine viertägige Wanderung in einem Seitental entschieden. Eine Entscheidung, die wir nicht bereuten, obwohl die Bedingungen bei Temperaturen von bis zu 34° im September herausfordernd waren.

Auch dank unseres einheimischen Führers erhielten wir einen faszinierenden Einblick in die jetzigen und früheren – unter Enver Hoxha – Lebensbedingungen in diesen von der Welt abgeschiedenen Dörfern. Sie sind teilweise heute noch nur zu Fuß oder mit Maultier erreichbar und ohne Stromanschluss. Auch wo es eine Schotterstraße gibt, dauert die Fahrt über die Berge in die nächste Stadt manchmal fast zwei Stunden. Ihren Lebensunterhalt verdienen die Menschen mit Viehwirtschaft, v. a. Ziegen, sowie Imkerei und dem Sammeln von Heilkräutern.

Besonders beeindruckend war die Omnipräsenz von Migrationsgeschichten. In einem Dorf lebten von früher zwanzig Familien noch „zweieinhalb“, wie uns gesagt wurde: Ein Rentnerpaar verbringt die warme Jahreszeit im Tal und den Winter in Florida, wohin sie nach der Wende ausgewandert waren. Auch unser Führer hatte lange in Griechenland gearbeitet. Als wir uns über den sichtlichen Wohlstand seines schmucken Heimatstädtchens Përmet erstaunt zeigten, erklärte er uns dies mit dem Geld der Migranten.

Lea Ypis autobiographischer Roman ermöglichte uns, das Gehörte besser einzuordnen und auch das Nicht-Gesagte zu verstehen. Ihr Buch ist aber nicht nur für an Albanien Interessierte höchst lesenswert.

Lea Ypi ist 1979 in Albanien geboren, hat in Italien und England Philosophie studiert und ist heute Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics and Political Science, sowie Honorarprofessorin an der Australischen Nationaluniversität. In „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ erzählt sie aus der Ich-Perspektive die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend, gestützt auf ihre damaligen Tagebücher. Verfremdet sind dabei nur die Personen außerhalb ihrer Familie.

Ohne es zu wissen, wuchs sie in einer Familie mit der „falschen Biographie“ auf, mit großbürgerlichem Hintergrund, zeitweise vom Regime verfolgt und auch danach immer in Gefahr. Sie selbst war, indoktriniert von Schule, Medien und der äußerlich gleichgeschalteten Umgebung, überzeugte Anhängerin des Regimes, Verehrerin von Enver Hoxha, und glaubte, im einzigen freien Land der Erde zu leben. Ihre Erzählung beginnt damit, wie sie, verängstigt durch eine Demonstration von Regimegegnern, eine Statue von Stalin umarmt.

Ihre Familie unterstützte sie in ihrer Hoxha-Verehrung. Es wäre zu gefährlich gewesen, einem Kind die Wahrheit zu sagen, es hätte sich verplappern können. Wenn über vom Regime verfolgte Verwandte gesprochen wurde, wurden Codewörter verwendet: Universitätsstudium bedeutete Gefängnis, Universitätsabschluss Freilassung, Ausschluss vom Unterricht die Todesstrafe.

Der Umbruch war für Ypi ein Schock. Alle ihre Gewissheiten wurden über den Haufen geworfen. Und die neue Freiheit war nicht für alle dieselbe. Kriminelle machten großes Geld, ihre beste Freundin endete als Prostituierte in Italien, ihr Vater musste als neuer Hafendirektor zahlreiche Arbeiter entlassen, und die Reisefreiheit, die die westlichen Staaten immer angemahnt hatten, entpuppte sich für viele als Freiheit auszureisen, aber ohne die Freiheit, in ein anderes Land einzureisen.

Freiheit ist denn auch für die Philosophin das grundlegende Thema des Buches, und sie liefert reichlich Anschauungsmaterial, was Freiheit bedeuten kann oder soll. In einer klaren Sprache und mitreißendem Stil, so dass man ihr Buch nur schwer aus der Hand legt. Eine große Bereicherung, um vieles anders oder neu zu sehen.

Monika Maaßen und Andreas Wormser

 

Ein interessantes Interview mit Lea Ypi: https://thebrusselsreview.com/dritan-kici/an-interview-with-lea-ypi/

Empfehlenswerte organisierte Reisen nach/in Albanien: https://kulturreisen.indyaner.ch/albanien-3/ und https://www.zbulo.org/ (Wanderreisen)

Buchempfehlung und Wanderreise
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